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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
1B_396/2017  
 
 
Urteil vom 21. März 2018  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Merkli, Präsident, 
Bundesrichter Chaix, Kneubühler. 
Gerichtsschreiber Härri. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Staatsanwaltschaft Frauenfeld, 
St. Gallerstrasse 17, 8510 Frauenfeld, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
Beschwerdegegner, 
vertreten durch Rechtsanwalt Matthias Hotz, 
 
Gegenstand 
Strafverfahren; Ausstand, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 10. August 2017 (SW.2017.55). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die Staatsanwaltschaft Frauenfeld führt ein Strafverfahren gegen B.________ und A.________ wegen des Verdachts insbesondere der Brandstiftung bzw. der Anstiftung dazu. 
Am 8. Mai 2017 verlangte A.________ den Ausstand des fallführenden Staatsanwalts Marcel Brun. 
Am 10. August 2017 versetzte das Obergericht des Kantons Thurgau Staatsanwalt Brun in den Ausstand. 
 
B.   
Die Staatsanwaltschaft Frauenfeld führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, den Entscheid des Obergerichts aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an dieses zurückzuweisen. 
 
C.   
Das Obergericht hat auf Gegenbemerkungen verzichtet. 
A.________ hat sich vernehmen lassen mit dem Antrag, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. 
Die Staatsanwaltschaft Frauenfeld hat auf Bemerkungen dazu verzichtet. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
 
1.1. Gegen den angefochtenen Entscheid ist gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG die Beschwerde in Strafsachen gegeben.  
Ein kantonales Rechtsmittel steht nicht zur Verfügung. Die Beschwerde ist nach Art. 80 BGG i.V.m. Art. 59 Abs. 1 lit. b und Art. 380 StPO zulässig. 
Der angefochtene Entscheid stellt einen selbständig eröffneten Zwischenentscheid über ein Ausstandsbegehren dar. Die Beschwerde ist daher gemäss Art. 92 Abs. 1 BGG zulässig. 
 
1.2.   
 
1.2.1. Gemäss Art. 81 Abs. 1 BGG ist zur Beschwerde in Strafsachen berechtigt, wer (a) vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen (...) und (b) ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheids hat, insbesondere die Staatsanwaltschaft (Ziff. 3).  
Ist eine Staatsanwaltschaft für den gesamten Kanton zuständig, ist sie bei der letzten kantonalen Instanz zur Beschwerde berechtigt und hat sie über die einheitliche Anwendung des Bundesrechts im Kanton zu wachen, so ist nach der Rechtsprechung eine andere Staatsanwaltschaft, die nur für bestimmte Rechtsgebiete oder einen Teil des Kantonsgebietes zuständig ist, nicht zur Beschwerde in Strafsachen befugt. Das gilt auch dann, wenn einzig diese andere Staatsanwaltschaft am Verfahren vor der letzten kantonalen Instanz beteiligt war. Die Rechtsprechung will damit verhindern, dass das Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft, das bereits auf 26 Kantone aufgeteilt ist, innerhalb der Kantone noch weiter aufgesplittert wird (BGE 142 IV 196 E. 1.5 S. 198 ff. mit Hinweisen). 
 
1.2.2. Gemäss § 30 des Gesetzes vom 17. Juni 2009 des Kantons Thurgau über die Zivil- und Strafrechtspflege (ZSRG/TG; RB 271.1) wird die Generalstaatsanwaltschaft durch eine Generalstaatsanwältin oder einen Generalstaatsanwalt geführt. Sie oder er trägt die Gesamtverantwortung für die Strafverfolgung gegenüber Erwachsenen und Jugendlichen und erlässt die notwendigen Anordnungen (Abs. 1). Die Generalstaatsanwältin oder der Generalstaatsanwalt ist gegenüber den Staatsanwaltschaften und der Jugendanwaltschaft weisungsberechtigt, regelt Kompetenzkonflikte unter den Staatsanwaltschaften abschliessend und kann Änderungen in der Zuständigkeitsregelung vornehmen (Abs. 2). Die Generalstaatsanwältin oder der Generalstaatsanwalt sorgt für die Einheitlichkeit in der Strafverfolgung und vertritt die Strafverfolgungsbehörden nach aussen (Abs. 3).  
Gemäss § 32 ZSRG/TG werden die Staatsanwaltschaften je durch eine Oberstaatsanwältin oder einen Oberstaatsanwalt geführt (Abs. 1). Der Regierungsrat bestimmt die Amtsgebiete (Abs. 2). 
Nach § 1 der Verordnung vom 21. September 2010 des Regierungsrates des Kantons Thurgau über die Organisation der Staatsanwaltschaft (RB 311.61) steht Letztere unter der Leitung der Generalstaatsanwältin oder des Generalstaatsanwalts und gliedert sich in verschiedene Abteilungen, unter anderem die Staatsanwaltschaft Frauenfeld. Diese ist nach § 3 Abs. 2 der Verordnung in Verbindung mit deren Anhang nur für einen Teil des Kantonsgebiets zuständig. 
Gemäss Art. 81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 3 BGG zur Beschwerde in Strafsachen berechtigt ist demnach einzig die Generalstaatsanwaltschaft, nicht dagegen die Staatsanwaltschaft Frauenfeld (BGE 142 IV 196 1.5.2 S. 200; 131 IV 142; Urteil 6B_949/2013 vom 3. Februar 2014 E. 2). 
 
1.2.3. Beschwerde führt hier die Staatsanwaltschaft Frauenfeld. Dies ergibt sich bereits aus dem Kopf der Beschwerde. Dort steht "Staatsanwaltschaft Frauenfeld". Im Rubrum bezeichnet sich diese zudem selber als Beschwerdeführerin. Am Schluss der Beschwerdebegründung führt sie aus, "aus Sicht der Staatsanwaltschaft Frauenfeld" verletze der angefochtene Entscheid Bundesrecht. Unterzeichnet ist die Beschwerde sodann namens der Staatsanwaltschaft Frauenfeld von Staatsanwalt Brun.  
Nach der Unterschrift von Staatsanwalt Brun hat der Generalstaatsanwalt folgende Bemerkung angebracht und unterzeichnet: "Eingesehen und genehmigt nach § 28 Abs. 2 des Thurgauischen Zivil- und Strafrechtspflegegesetzes (RB 271.1) in Verbindung mit Ziff. E. 3 Geschäftsordnung der Staatsanwaltschaft Thurgau." 
Gemäss § 28 Abs. 2 ZSRG/TG regelt die Generalstaatsanwaltschaft unter anderem die Zuständigkeit, Rechtsmittel einzureichen oder zurückzuziehen. Nach Ziffer E. 3 der Geschäftsordnung der Staatsanwaltschaft Thurgau vom 11. Januar 2011 in der Fassung vom 1. Januar 2016 sind die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, die einen Straffall bearbeitet und durch Überweisung an ein Gericht erledigt haben, jeweils auch befugt, gegen einen in dieser Sache ergangenen Gerichtsentscheid ein Rechtsmittel zu ergreifen oder wieder zurückzuziehen. Bei Beschwerden an das Bundesgericht ist vorgängig jeweils die Zustimmung der Generalstaatsanwältin bzw. des Generalstaatsanwalts einzuholen. Die Generalstaatsanwältin bzw. der Generalstaatsanwalt hat den Inhalt dieser Beschwerden zu genehmigen. Beschwerde beim Bundesgericht werden von den verfahrensführenden Staatsanwältinnen und Staatsanwälten vertreten. 
Ziffer E. 3 der Geschäftsordnung steht mit der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht in Einklang. Danach ist nicht die fallbearbeitende Staatsanwältin oder der fallbearbeitende Staatsanwalt befugt, Beschwerde in Strafsachen zu ergreifen, sondern einzig der Generalstaatsanwalt. Dieser und nicht die verfahrensführende Staatsanwältin bzw. der verfahrensführende Staatsanwalt hat sodann die Beschwerde beim Bundesgericht zu vertreten. 
Die Staatsanwaltschaft Frauenfeld und der Generalstaatsanwalt sind in sinngemässer Anwendung der bundesrechtswidrigen Ziffer E. 3 der Geschäftsordnung vorgegangen. Dies spricht für die Verneinung der Beschwerdelegitimation. Allerdings genehmigte der Generalstaatsanwalt gemäss Ziffer E. 3 der Geschäftsordnung den Inhalt der Beschwerde der Staatsanwaltschaft Frauenfeld. Letztere legt sodann in der Beschwerde (S. 2 Ziff. I/2) dar, sie handle ausdrücklich namens und im Auftrag der Generalstaatsanwaltschaft. Ob dies für die Bejahung der Beschwerdelegitimation genügt, hat das Bundesgericht offengelassen (Urteile 1B_274/2017 vom 6. März 2018 E. 1.2.3; 1B_275/2017 vom 2. Oktober 2017 E. 1.2.1). Die Frage braucht auch hier nicht entschieden zu werden, da die Beschwerde jedenfalls abzuweisen ist. 
 
1.3. Aus demselben Grund kann ebenso dahingestellt bleiben, ob die Beschwerde ein genügendes Rechtsbegehren enthält. Die Beschwerdeführerin stellt lediglich ein kassatorisches Rechtsbegehren. Nach der Rechtsprechung muss die Beschwerde in Strafsachen in einem Fall wie hier, in dem das Bundesgericht selber in der Sache entscheiden kann, ein reformatorisches Rechtsbegehren enthalten (BGE 134 III 379 E. 1.3 S. 383; 130 III 136 E. 1.2 S. 139; Urteile 1B_275/2017 vom 2. Oktober 2017 E. 1.2.2; 6B_868/2016 vom 9. Juni 2017 E. 2; je mit Hinweisen; BERNARD CORBOZ, in: Commentaire de la LTF, 2. Aufl. 2014, N. 8 zu Art. 107 BGG).  
 
2.   
 
2.1. Gemäss Art. 56 lit. f StPO tritt eine in einer Strafbehörde tätige Person in den Ausstand, wenn sie aus anderen Gründen, insbesondere wegen Freundschaft oder Feindschaft mit einer Partei oder deren Rechtsbeistand, befangen sein könnte. Bei dieser Bestimmung handelt es sich um eine Generalklausel, welche alle Ausstandsgründe erfasst, die in Art 56 lit. a-e StPO nicht ausdrücklich vorgesehen sind. Sie entspricht Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Danach hat jede Person Anspruch darauf, dass ihre Sache von einem unparteiischen, unvoreingenommenen und unbefangenen Richter ohne Einwirken sachfremder Umstände entschieden wird. Die Rechtsprechung nimmt Voreingenommenheit und Befangenheit an, wenn Umstände vorliegen, die bei objektiver Betrachtung geeignet sind, Misstrauen in die Unparteilichkeit des Richters zu erwecken. Solche Umstände können namentlich in einem bestimmten Verhalten des Richters begründet sein. Dabei ist nicht auf das subjektive Empfinden einer Partei abzustellen. Das Misstrauen in die Unvoreingenommenheit muss vielmehr in objektiver Weise begründet erscheinen. Es genügt, wenn Umstände vorliegen, die bei objektiver Betrachtung den Anschein der Befangenheit und Voreingenommenheit erwecken. Für die Ablehnung ist nicht erforderlich, dass der Richter tatsächlich befangen ist.  
Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK sind bei der Ablehnung eines Staatsanwalts nur anwendbar, wenn er ausnahmsweise in richterlicher Funktion tätig wird, wie das bei Erlass eines Strafbefehls zutrifft. Amtet er jedoch als Strafuntersuchungsbehörde, beurteilt sich die Ausstandspflicht nach Art. 29 Abs. 1 BV. Wohl darf der Gehalt von Art. 30 Abs. 1 BV nicht unbesehen auf nicht richterliche Behörden bzw. auf Art. 29 Abs. 1 BV übertragen werden. Hinsichtlich der Unparteilichkeit des Staatsanwalts im Sinne von Unabhängigkeit und Unbefangenheit kommt Art. 29 Abs. 1 BV allerdings ein mit Art. 30 Abs. 1 BV weitgehend übereinstimmender Gehalt zu. Auch ein Staatsanwalt kann im Vorverfahren abgelehnt werden, wenn Umstände vorliegen, die objektiv geeignet sind, den Anschein der Befangenheit zu erwecken. 
Fehlerhafte Verfügungen und Verfahrenshandlungen des Staatsanwalts begründen für sich keinen Anschein der Voreingenommenheit. Anders verhält es sich, wenn besonders krasse oder wiederholte Irrtümer vorliegen, die eine schwere Verletzung der Amtspflichten darstellen (BGE 141 IV 178 E. 3.2 S. 179 f. mit Hinweisen). 
 
2.2. Die Beschwerdeführerin führte gegen den Beschwerdegegner und B.________ ein getrenntes Verfahren, obwohl sie die Vorinstanz ausdrücklich auf die Notwendigkeit eines einheitlichen Verfahrens gemäss Art. 29 Abs. 1 lit. b StPO aufmerksam gemacht hatte. Eine Trennungsverfügung erliess die Beschwerdeführerin überdies nie. Der Beschwerdegegner erhielt vom abgetrennten Verfahren gegen B.________ erst Kenntnis, nachdem das Bezirksgericht diesen im abgekürzten Verfahren bereits zu einer Freiheitsstrafe verurteilt hatte. Die Vorinstanz erklärte mit Entscheid vom 9. Februar 2017 (Beschwerdebeilage) die Anklageschrift und das Urteil des Bezirksgerichts im abgekürzten Verfahren gegen B.________ als nichtig, was das Bundesgericht in einem vergleichbaren Fall als bundesrechtmässig erachtet hat (Urteil 1B_11/2016 vom 23. Mai 2016 E. 3). Die Beschwerdeführerin verweigerte dem Beschwerdegegner zudem die Stellung als Privatkläger, ohne dazu eine (anfechtbare) Verfügung erlassen zu haben. Die Vorinstanz kommt im Entscheid vom 9. Februar 2017 (S. 12 ff.) zum Schluss, die Beschwerdeführerin habe schwerwiegende Verfahrensfehler begangen. Dem ist beizupflichten. Zwar hat Staatsanwalt Brun die Verfahrensfehler nicht zu verantworten, da sie ein anderer Staatsanwalt begangen hat, von dem Staatsanwalt Brun das Verfahren übernommen hat. Wie die Vorinstanz im angefochtenen Entscheid (E. 2d S. 10) zutreffend erwägt, verteidigte jedoch Staatsanwalt Brun in der Beschwerdeantwort vom 25. November 2016 an die Vorinstanz (Beschwerdebeilage) vehement das fehlerhafte Vorgehen der Beschwerdeführerin, und dies in teilweise unsachlicher Weise gegenüber dem Verteidiger des Beschwerdegegners. So bezeichnete Staatsanwalt Brun zutreffende Darlegungen des Verteidigers als "aktenwidrig" bzw. "schlichtweg dreist" (Beschwerdeantwort S. 2/3 Ziff. 2b; dazu Urteil der Vorinstanz vom 9. Februar 2017 E. 3c/dd S. 12/13). Wenn die Vorinstanz im angefochtenen Entscheid (E. 2d S. 10) zum Schluss kommt, damit habe sich Staatsanwalt Brun die krassen Verfahrensfehler seines Vorgängers zu eigen gemacht und dadurch den Anschein der Voreingenommenheit erweckt, hält das vor Bundesrecht stand.  
 
3.   
Die Beschwerde ist deshalb abzuweisen, soweit darauf überhaupt eingetreten werden kann. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton hat dem Anwalt des Beschwerdegegners eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ist damit hinfällig. 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden kann. 
 
2.   
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.   
Der Kanton Thurgau hat dem Vertreter des Beschwerdegegners, Rechtsanwalt Matthias Hotz, eine Entschädigung von Fr. 2'000.-- (inkl. MWST) zu bezahlen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 21. März 2018 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Merkli 
 
Der Gerichtsschreiber: Härri