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Urteilskopf

112 Ib 170


30. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 9. Juli 1986 i.S. X. gegen V., Gemeinde Klosters-Serneus und Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden (staatsrechtliche Beschwerde und Verwaltungsgerichtsbeschwerde)

Regeste

1. Art. 33 Abs. 3 lit. a RPG, Art. 103 lit. a OG; Legitimation des Nachbarn.
Art. 103 lit. a OG stellt eine Minimalvorschrift für das kantonale Rechtsmittelverfahren in Streitigkeiten des Bundesverwaltungsrechts dar (E. 5a).
Nachbarn sind legitimiert, das ihnen missliebige Bauvorhaben mit der Begründung anzufechten, es verstosse gegen Art. 24 RPG und gegen den bundesrechtlich gewährleisteten Schutz des Waldes (E. 5b).
2. Beginn der Beschwerdefrist.
Werden in einem Baubewilligungsverfahren Einsprachen gegen ein Bauvorhaben mit dem Hinweis auf andere bereits erteilte Bewilligungen (wie Ausnahmebewilligung i.S. von Art. 24 RPG, Rodungsbewilligung) abgewiesen, beginnt die Beschwerdefrist gegen diese besonderen Bewilligungen auch erst mit der Eröffnung des Einspracheentscheides zu laufen, sofern die Einsprecher nicht vorher in verbindlicher Weise davon Kenntnis hatten (E. 5c).
3. Art. 4 BV, formelle Rechtsverweigerung; Heilung.
Voraussetzungen, unter welchen im verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren Mängel des vorinstanzlichen Verfahrens geheilt werden können (E. 5e).

Sachverhalt ab Seite 172

BGE 112 Ib 170 S. 172
V. erhielt am 14. Juni 1982 die Baubewilligung für die Erstellung eines Wohnhauses auf Parzelle Nr. 1578 im Gebiet Mutta in Klosters. Die Bewilligung enthielt für die Erschliessung folgenden Vorbehalt:
"Bezüglich der verkehrsmässigen Erschliessung des Baugrundstückes hat
die Bauherrschaft vor Beginn der Bauarbeiten den Nachweis zu erbringen,
dass für die Erstellung der vorgesehenen Zufahrt über Planätsch bis zur
Bauparzelle Nr. 1578 eine rechtskräftige Rodungsbewilligung vorliegt bzw.
eine solche nicht erforderlich ist oder dass eine andere, den Anforderungen
von Art. 11 BauG entsprechende Zufahrt besteht."
Da V. die für die Erschliessung über Planätsch erforderliche Rodungsbewilligung für ca. 80 m2 Wald nicht erhielt, was vom Bundesgericht mit Urteil vom 21. März 1984 geschützt wurde, bemühte sie sich um die Erstellung einer Zufahrt über den privaten Muttaweg. Mit Vorentscheid vom 21. August 1984 bezeichnete die Gemeinde Klosters-Serneus die Zufahrt zur Parzelle Nr. 1578 über den Muttaweg als genügend. V. erlangte hierauf von der Regierung des Kantons Graubünden am 5. November 1984 die Bewilligung zur Rodung einer Waldfläche von 30 m2, welche für die Erstellung des Anschlusses an den Muttaweg benötigt wird. Anschliessend erwarb sie von den Eigentümern des privaten Muttawegs das erforderliche Wegrecht. Hierauf ersuchte sie die Baubehörde Klosters um die definitive Baubewilligung.
In dem hiefür durchgeführten Baubewilligungsverfahren erhoben mehrere Eigentümer von Liegenschaften der näheren und weiteren Umgebung Einsprache. Die Einwendungen wurden von der Gemeinde abgewiesen mit dem Hinweis darauf, dass das kantonale Departement des Innern und der Volkswirtschaft die Bewilligung für die Erstellung des ausserhalb der Bauzone gelegenen Teils des Muttawegs erteilt habe. Die Einsprecher gelangten mit Rekurs an das kantonale Verwaltungsgericht. Nachdem eine Delegation des Gerichts einen Augenschein durchgeführt hatte, wies es den Rekurs ab, soweit es darauf eintrat.
Ein Teil der Einsprecher fechten den Entscheid des Verwaltungsgerichts u.a. mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde an.
BGE 112 Ib 170 S. 173

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

5. In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde bringen die Beschwerdeführer in formeller Hinsicht vor, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht ihre Legitimation zur Rüge der Verletzung von Art. 24 RPG sowie des Eidgenössischen Forstrechts verneint.
a) Wie die Beschwerdegegner zutreffend anerkennen, hätte das Verwaltungsgericht in der Tat das Recht der Beschwerdeführer zur Beschwerde gegen die nach Art. 24 RPG erteilte Baubewilligung nicht mit der Begründung verweigern dürfen, Art. 24 RPG habe keine den Nachbarn schützende Funktion. Gegen Entscheide letzter kantonaler Instanzen über Bewilligungen nach Art. 24 RPG ist die eidgenössische Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegeben (Art. 34 Abs. 1 RPG). Die Kantone dürfen im vorangehenden kantonalen Verfahren keine strengeren Legitimationsanforderungen stellen, da Art. 103 lit. a OG eine Minimalvorschrift für das kantonale Rechtsmittelverfahren in Streitigkeiten des Bundesverwaltungsrechts darstellt (BGE 109 Ib 216 E. 2b; BGE 108 Ib 95 E. 3b bb mit Verweisungen). Ausserdem gebietet Art. 33 RPG ausdrücklich, dass die Kantone gegen Verfügungen, die sich auf das Raumplanungsgesetz und seine kantonalen Ausführungsbestimmungen stützen, die Legitimation mindestens im gleichen Umfange wie für die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht zu gewährleisten und die volle Überprüfung durch wenigstens eine Beschwerdebehörde sicher zu stellen haben.
Auf die Rügen, die mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vorgebracht werden können (Art. 104 OG), hat daher das Verwaltungsgericht einzutreten, sofern sie von einem Beschwerdeführer rechtzeitig erhoben werden, der im Sinne von Art. 103 lit. a OG berührt ist und ein schutzwürdiges Interesse an der Aufhebung oder Änderung der angefochtenen Verfügung besitzt. Ob dies im vorliegenden Falle zutrifft, ist nachfolgend zu prüfen.
b) Entgegen der Auffassung der Beschwerdegegnerin sind die Beschwerdeführer durch die angefochtene Verfügung im Sinne von Art. 103 lit. a OG berührt, und sie haben ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung. Das Rechtsschutzinteresse ist prozessrechtlich zu verstehen und besteht unabhängig davon, ob ein Beschwerdeführer aus dem materiellen Recht für sich eine Schutzwirkung herleiten kann (FRITZ GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Auflage, S. 152 f., S. 158 Ziff. 4.3). Nachbarbeschwerden gegen Baubewilligungen zählen zu den typischen Tatbeständen
BGE 112 Ib 170 S. 174
von Drittbeschwerden, auf welche grundsätzlich einzutreten ist (FRITZ GYGI, a.a.O., S. 158 Ziff. 4.3.1).
Dass die Beschwerdeführer als Nachbarn "berührt" sind, ergibt sich bereits daraus, dass das Verwaltungsgericht auf ihre Beschwerde eingetreten ist, soweit sie eine Verletzung der kommunalen Erschliessungsanforderungen geltend gemacht haben. Die umstrittene Ausnahmebewilligung nach Art. 24 RPG bildet Teil der Erschliessung der zu überbauenden Liegenschaft. Ausserdem grenzen die Grundstücke der Beschwerdeführer an diese Parzelle bzw. an den umstrittenen Abschnitt des zu verlängernden Muttaweges. Die von der Rechtsprechung geforderte "besondere, beachtenswerte, nahe Beziehung zur Streitsache" (BGE 111 Ib 160 mit Hinweisen) ist damit gegeben. Die Beschwerdeführer sind demgemäss berechtigt, das ihnen missliebige Bauvorhaben mit der Begründung anzufechten, es verstosse gegen Art. 24 RPG und gegen den bundesrechtlich gewährleisteten Schutz des Waldes (BGE 110 Ib 147 E. 1b; BGE 109 Ib 200 E. 4b, je mit Verweisungen). Eine rechtsmissbräuchliche Beschwerdeführung kann ihnen unter diesen Umständen nicht vorgeworfen werden.
c) Der Auffassung der Regierung, die vom Departement des Innern und der Volkswirtschaft erteilte Ausnahmebewilligung nach Art. 24 RPG sei formell rechtskräftig geworden, kann nicht zugestimmt werden. Diese Bewilligung ist den Beschwerdeführern nicht eröffnet worden. Sie haben von ihr, wie das Bundesamt für Raumplanung in seiner Vernehmlassung zutreffend festhält, in verbindlicher Weise erst mit der Eröffnung des Entscheides der Gemeinde Klosters vom 5. September 1985 Kenntnis erhalten. In diesem Entscheid, mit welchem die Einsprachen der Beschwerdeführer im Sinne der Erwägungen abgewiesen wurden, wird sowohl auf die Verfügung des Departements des Innern und der Volkswirtschaft vom 9. August 1985 als auch auf die regierungsrätliche Rodungsbewilligung vom 5. November 1984 verwiesen. Der Entscheid enthält ausserdem die Rechtsmittelbelehrung, er könne innert 20 Tagen nach Mitteilung beim Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden mit Rekurs angefochten werden.
Unter diesen Umständen geht auch der Einwand der privaten Beschwerdegegnerin fehl, die Rüge, die Rodungsbewilligung sei zu Unrecht erteilt worden, sei verspätet. Die Beschwerdeführer haben gegen das die verkehrsmässige Erschliessung betreffende Projektänderungsgesuch fristgerecht Einsprache erhoben, wobei sie unter anderem geltend machten, das Bauvorhaben verletze die Bestimmungen
BGE 112 Ib 170 S. 175
des Forstrechts. Die Beschwerdeführer durften bei dieser Sachlage einen rekursfähigen Entscheid über ihre Einwendungen erwarten. Diesen erhielten sie - wie dargelegt - erst mit der Eröffnung des Entscheides des Vorstandes der Gemeinde Klosters-Serneus vom 5. September 1985.
d) Das Verwaltungsgericht hätte somit auf den Rekurs der Beschwerdeführer eintreten müssen, soweit mit ihm eine Verletzung von Bundesverwaltungsrecht geltend gemacht wurde. Als verspätet ist einzig der Einwand zu bezeichnen, das Bauvorhaben verstosse gegen die Vorschriften über den Waldabstand. Die Bewilligung für den Neubau wurde bereits mit dem Entscheid vom 14. Juni 1982 erteilt.
e) Im verwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren können ausnahmsweise Mängel des vorinstanzlichen Verfahrens geheilt werden. Doch ist dies grundsätzlich nur möglich, wenn dem Bundesgericht die gleiche volle Kognition wie der Vorinstanz zusteht (BGE 105 Ia 51 E. 2c; BGE 105 Ib 174, je mit Hinweisen). Das Verwaltungsgericht ist einzige Beschwerdeinstanz gegen die vom Departement des Innern und der Volkswirtschaft erteilte Ausnahmebewilligung im Sinne von Art. 24 RPG. Gemäss Art. 33 Abs. 3 lit. b RPG hat es demgemäss - wie bereits erwähnt - eine volle Überprüfung des angefochtenen Entscheids vorzunehmen. Dem Bundesgericht steht zwar ebenfalls eine freie Überprüfungsbefugnis hinsichtlich der als verletzt gerügten bundesrechtlichen Normen zu, doch auferlegt es sich Zurückhaltung bei der Würdigung der örtlichen Verhältnisse. Die Kognition des Bundesgerichts ist daher enger als diejenige des Verwaltungsgerichts. Auch ist das kantonale Gericht, das bereits einen Augenschein durchgeführt hat, besser als das Bundesgericht in der Lage, zu prüfen, ob die Einwendungen der Beschwerdeführer, die Zufahrt könne in das Baugebiet verlegt werden, ohne dass Waldareal in Anspruch genommen werden müsse, begründet sind. Sollte dies zutreffen, was auch unter dem Gesichtspunkt einer allfälligen Grenzbereinigung nach Art. 44 des bündnerischen Raumplanungsgesetzes zu prüfen ist, so würde in der Tat die erforderliche Standortbedingtheit für das ausserhalb der Bauzone verlaufende Teilstück der Zufahrt fehlen. Desgleichen wäre es in diesem Falle nicht gerechtfertigt, für die private Zufahrt zu einem Ferienhaus eine Fläche von 30 m2 hochstämmigen Schutzwaldes zu roden.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist daher gutzuheissen und die Sache zur materiellen Prüfung der Einwendungen der
BGE 112 Ib 170 S. 176
Beschwerdeführer dem Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden zu überweisen.

Inhalt

Ganzes Dokument:
Regeste: deutsch französisch italienisch

Erwägungen 5

Referenzen

BGE: 109 IB 216, 108 IB 95, 111 IB 160, 110 IB 147 mehr...

Artikel: Art. 24 RPG, Art. 103 lit. a OG, Art. 33 Abs. 3 lit. a RPG, Art. 4 BV mehr...

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