Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
 
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_197/2022  
 
 
Urteil vom 25. Mai 2022  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin, 
Bundesrichter Rüedi, 
Bundesrichterin van de Graaf, 
Gerichtsschreiber Matt. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Lucien Valloni, 
 
gegen  
 
Stadtrichteramt Zürich, 
Verwaltungszentrum Eggbühl, 
Eggbühlstrasse 23, 8050 Zürich, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Parteientschädigung nach Einstellung des Strafverfahrens, 
 
Beschwerde gegen die Verfügung des Obergerichts des Kantons Zürich, III. Strafkammer, vom 28. Dezember 2021 (UH210117-O/U/HEI>BEE). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Mit Strafbefehl vom 2. Februar 2021 verurteilte das Stadtrichteramt Zürich A.________ wegen Nichtbeachtens des polizeilichen Handzeichens "Halt" durch "Hochhalten eines Armes" (Art. 27 Abs. 1 SVG in Verbindung mit Art. 66 Abs. 1 lit. a SSV), begangen am 11. November 2020 in U.________. Es auferlegte ihm eine Busse von Fr. 300.-- sowie eine Kosten- und Gebührenpauschale von Fr. 330.--. 
Am 15. Februar 2021 erhob der Anwalt von A.________ schriftlich Einsprache gegen den Strafbefehl. 
Am 19. März 2021 stellte das Stadtrichteramt das Verfahren ein, nahm die Verfahrenskosten auf die Staatskasse und verweigerte A.________ eine Entschädigung. 
 
B.  
Die dagegen gerichtete Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Zürich mit Verfügung vom 28. Dezember 2021 ab. 
 
C.  
A.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, die obergerichtliche Verfügung sei aufzuheben. Für das erstinstanzliche Verfahren sei ihm eine Entschädigung von Fr. 1'128.-- und auch für das Verfahren vor dem Obergericht eine angemessene Entschädigung zuzusprechen. Eventualiter sei die Sache zu neuer Entscheidung an dieses zurückzuweisen. 
Das Stadtrichteramt und das Obergericht verzichten auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Die Beschwerde in Strafsachen ist zulässig gegen Entscheide in Strafsachen (Art. 78 Abs. 1 BGG). Darunter fallen auch Entscheide über Ansprüche gemäss Art. 429 Abs. 1 StPO (BGE 139 IV 206 E. 1; Urteil 6B_928/2014 vom 10. März 2016 E. 1, nicht publiziert in: BGE 142 IV 163). 
 
2.  
 
2.1. Die Vorinstanz ist der Ansicht, dass der Beizug eines Anwalts im vorliegenden Fall keine angemessene Ausübung der Verfahrensrechte im Sinn von Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO darstellt, und erachtet damit die Voraussetzungen für die Zusprechung einer Parteientschädigung als nicht gegeben.  
 
2.2. Wird die beschuldigte Person ganz oder teilweise freigesprochen oder wird das Verfahren gegen sie eingestellt, so hat sie Anspruch auf Entschädigung ihrer Aufwendungen für die angemessene Ausübung ihrer Verfahrensrechte (Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO). Dies gilt auch für den Fall, dass von einer Eröffnung der Strafuntersuchung abgesehen und das Verfahren mit einer Nichtanhandnahmeverfügung erledigt wird (BGE 139 IV 241 E. 1).  
Unter die hier ins Auge gefasste Entschädigung fallen insbesondere die der beschuldigten Person für eine Verteidigung ihrer Wahl angefallenen Auslagen (BGE 139 IV 241 E. 1; Urteile 6B_188/2018 vom 23. Juli 2018 E. 2.3; 6B_403/2015 vom 25. Februar 2016 E. 2.1). Der Entschädigungsanspruch setzt voraus, dass sowohl der Beizug eines Anwalts als auch der von diesem betriebene Aufwand angemessen ist. Der vom Anwalt betriebene Aufwand hat sich in juristisch einfachen Fällen auf ein Minimum zu beschränken; allenfalls muss es bei einer einfachen Konsultation sein Bewenden haben. Nur in Ausnahmefällen jedoch wird bei Verbrechen und Vergehen schon die Beiziehung eines Anwalts an sich als nicht angemessene Ausübung der Verfahrensrechte bezeichnet werden können (BGE 142 IV 45 E. 2.1; 138 IV 197 E. 2.3.4 und 2.3.5; Urteile 6B_188/2018 vom 23. Juli 2018 E. 2.3; 6B_800/2015 vom 6. April 2016 E. 2.3). Das materielle Strafrecht und das Strafprozessrecht sind komplex und stellen insbesondere für Personen, die das Prozessieren nicht gewohnt sind, eine Belastung und grosse Herausforderung dar. Wer sich selbst verteidigt, dürfte deshalb prinzipiell schlechter gestellt sein. Beim Entscheid über die Angemessenheit des Beizugs eines Anwalts ist neben der Schwere des Tatvorwurfs und der tatsächlichen und rechtlichen Komplexität des Falls insbesondere auch die Dauer des Verfahrens und dessen Auswirkungen auf die persönlichen und beruflichen Verhältnisse der beschuldigten Person zu berücksichtigen (BGE 142 IV 45 E. 2.1; 138 IV 197 E. 2.3.5). Ob der Beizug eines Anwalts angemessen war, hängt folglich von den konkreten Umständen des einzelnen Falls ab, wobei an das Kriterium der Angemessenheit keine hohen Anforderungen zu stellen sind (Urteile 6B_188/2018 vom 23. Juli 2018 E. 2.3; 6B_843/2015 vom 24. Februar 2016 E. 2.2). 
Bei der Beurteilung der Angemessenheit kommt es auf die Umstände an, die im Zeitpunkt der Mandatierung bekannt waren. So kann es keine Rolle spielen, wie lange das Verfahren in der Folge noch dauerte oder mit welcher Hartnäckigkeit es von der Staatsanwaltschaft weiterverfolgt wurde (Urteile 6B_371/2021 vom 21. Februar 2022 E. 3.2; 6B_73/2021 vom 28. Februar 2022 E. 3.3.1; 6B_800/2015 vom 6. April 2016 E. 2.6; 6B_209/2014 vom 17. Juli 2014 E. 2.2 f.). 
Die Frage, ob der Beizug eines Anwalts und der von diesem betriebene Aufwand eine angemessene Ausübung der Verfahrensrechte darstellen, ist bundesrechtlicher Natur. Das Bundesgericht prüft deren Beantwortung und mithin die Auslegung von Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO frei. Es auferlegt sich indessen eine gewisse Zurückhaltung gegenüber der vorinstanzlichen Einschätzung, insbesondere hinsichtlich der Frage, welcher Aufwand des Anwalts im konkreten Fall noch als angemessen zu bezeichnen ist (BGE 142 IV 45 E. 2.1 mit Hinweisen). 
 
2.3. Die Vorinstanz begründet die Verweigerung einer Entschädigung damit, dass lediglich eine Busse von Fr. 300.-- wegen einer Übertretung gemäss Art. 90 Abs. 1 SVG in Frage stand. Zwar könne je nach den konkreten Umständen auch bei blossen Übertretungen ein Anspruch auf Entschädigung bestehen. Doch sei die Beauftragung eines Anwalts im vorliegenden Fall unangemessen gewesen.  
Der gegen den Beschwerdeführer erhobene Vorwurf erscheine in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht einfach. Auch ein juristischer Laie hätte ihn erfassen und sich dagegen verteidigen können. So sei der Beschwerdeführer bei der telefonischen Tatbestandsaufnahme durch die Stadtpolizei Zürich am 19. November 2020 in der Lage gewesen, den Vorwurf zu bestreiten und seine Sicht der Dinge einlässlich darzulegen. Auch zur Erhebung der Einsprache wäre der Beschwerdeführer ohne Anwalt fähig gewesen, zumal gemäss Art. 354 Abs. 2 StPO keine Begründung der Einsprache nötig sei. 
Der Beschwerdeführer habe seinen Anwalt mandatiert, noch bevor ein Strafbefehl oder nur schon eine Vorladung zur Einvernahme ergangen sei. Er habe am 12. November 2020 einen Verzeigungsvorhalt erhalten, wonach die Stadtpolizei Zürich festgestellt habe, dass der Lenker des auf ihn eingelösten Fahrzeugs am 11. November 2020 eine Übertretung begangen habe, indem ein polizeiliches Handzeichen nicht beachtet worden sei. Der Beschwerdeführer wurde gebeten, die Personalien des verantwortlichen Fahrzeuglenkers mitzuteilen. Sodann habe ihn das Strassenverkehrsamt am 18. Dezember 2020 informiert, dass allfällige Administrativmassnahmen erst nach Abschluss des Strafverfahrens erfolgen. Darauf habe er am 22. Dezember 2020 seinen Anwalt mandatiert. Am 2. Februar 2021 habe das Stadtrichteramt den Strafbefehl erlassen, gegen welchen der Anwalt Einsprache erhoben habe. Am 19. März 2021 sei das Strafverfahren eingestellt worden. Die Vorinstanz anerkennt, dass der Beschwerdeführer nicht wissen konnte, wie das Strafverfahren ausgehen würde. Dennoch erscheine auch aus damaliger Perspektive der Beizug des Anwalts verfrüht, zumal im Schreiben des Strassenverkehrsamts vom 18. Dezember 2020 darauf hingewiesen worden sei, dass allfällige Administrativmassnahmen erst nach Abschluss des Strafverfahrens drohten. Für den Beizug eines Anwalts habe nach damaligem Verfahrensstand kein hinreichender Grund bestanden. 
Im Übrigen seien keine negativen Auswirkungen des Strafverfahrens auf die persönlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers ersichtlich. Es treffe zwar zu, dass das Strassenverkehrsamt bei einem Schuldspruch Administrativmassnahmen geprüft hätte, womit auch der vorübergehende Entzug des Führerausweises möglich gewesen wäre. Allerdings seien allfällige Nachteile noch in weiter Ferne gewesen. Denn das Strafverfahren habe sich in einem frühen Stadium befunden und das Strassenverkehrsamt habe ausdrücklich kommuniziert, dass Administrativmassnahmen erst nach Abschluss des Strafverfahrens in Frage kämen. Darüber hinaus hätten dem Beschwerdeführer abgesehen von der Busse und der Kostentragung bei einem Schuldspruch keine negativen Konsequenzen gedroht. Insbesondere hätte eine Verurteilung keinen Eintrag im Strafregister zur Folge gehabt, worauf im Strafbefehl vom 2. Februar 2021 explizit hingewiesen worden sei. Auch die Befürchtung des Beschwerdeführers, dass das Strafverfahren seine Suche nach neuen Wohn- und Geschäftsräumen tangieren könnte, sei unbegründet gewesen. 
 
2.4. Die vorinstanzliche Begründung überzeugt nicht.  
 
2.4.1. Der Beschwerdeführer zog seinen Anwalt erst bei, nachdem ihm das Strassenverkehrsamt mitgeteilt hatte, dass Administrativmassnahmen drohen. Das Schreiben des Strassenverkehrsamts vom 18. Dezember 2020 enthält den Hinweis, dass die Administrativmassnahmen bis zum Entzug des Führerausweises gehen können. Sollte der Beschwerdeführer im Strafverfahren rechtskräftig verurteilt werden, würde das Strassverkehrsamt auf der Grundlage des Strafentscheids entscheiden. Er habe im Strafverfahren umfassende Verteidigungsrechte. Falls er mit den Vorwürfen nicht einverstanden sei, müsse er sich bereits im Strafverfahren wehren. Im Verfahren betreffend Administrativmassnahmen könne er keine Einwände mehr erheben gegen die Vorwürfe.  
Diesen Passus durfte der Beschwerdeführer so verstehen, dass der Beizug eines Anwalts notwendig war. Dies gilt unabhängig davon, ob er sich damals wirklich in einer schwierigen Situation befand. Ohne Belang ist, ob er den Vorwurf als grosse Ungerechtigkeit empfand. Von Bedeutung ist hingegen, dass der Beschwerdeführer in jenem Zeitpunkt nicht absehen konnte, dass das Strafverfahren eingestellt würde. Erst am 19. März 2021 stellte das Stadtrichteramt das Verfahren angesichts "der lediglich rudimentären Angaben im Polizeirapport sowie mangels vollständiger Erinnerung an den Vorfall seitens des handelnden Funktionärs des polizeilichen Assistenzdienstes" ein. 
 
2.4.2. Die Vorinstanz berücksichtigt, dass bei einem Schuldspruch Administrativmassnahmen bis hin zu einem Führerausweisentzug möglich gewesen wären. Doch argumentiert sie, als der Beschwerdeführer seinen Anwalt am 22. Dezember 2020 mandatierte, seien "allfällige Nachteile noch in weiter Ferne" gewesen.  
Soweit die Vorinstanz damit meint, dass die Administrativmassnahmen erst nach Abschluss des Strafverfahrens ergehen, überzeugt ihre Überlegung nicht. Wann die Administrativmassnahmen verhängt werden, ist unerheblich. Entscheidend ist, dass das Strassenverkehrsamt auf der Grundlage eines allfälligen Schuldspruchs entscheidet und Einwände gegen die Vorwürfe nach Abschluss des Strafverfahrens nicht mehr möglich sind. Dies teilte das Strassenverkehrsamt dem Beschwerdeführer am 18. Dezember 2020 zutreffend mit. Vier Tage später mandatierte er seinen Anwalt. Damals drohten die Administrativmassnahmen bereits. 
Die Vorinstanz erwägt weiter, dem Beschwerdeführer hätten abgesehen von der Busse und der Kostentragung bei einem Schuldspruch keine negativen Konsequenzen gedroht. Insbesondere hätte eine Verurteilung keinen Eintrag im Strafregister zur Folge gehabt, worauf im Strafbefehl hingewiesen worden sei. Hier übersieht sie, dass der Beschwerdeführer diesen Hinweis erst erhielt, als er seinen Anwalt bereits mandatiert hatte. Die Mandatierung erfolgte am 22. Dezember 2020, der Strafbefehl erging am 2. Februar 2021. 
 
2.5. Nach dem Gesagten verletzt die Vorinstanz Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO, indem sie festhält, dass der Beizug des Anwalts vorliegend nicht angemessen gewesen sei. Ob der konkrete Aufwand des Anwalts und damit die Höhe der geltend gemachten Entschädigung gerechtfertigt ist, bleibt von der Vorinstanz noch zu prüfen.  
 
3.  
Die Beschwerde ist gutzuheissen, die angefochtene Verfügung aufzuheben und die Sache zur Festsetzung einer angemessenen Entschädigung an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
Für das bundesgerichtliche Verfahren sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Zürich hat dem Beschwerdeführer eine angemessene Entschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen, die Verfügung des Obergerichts des Kantons Zürich, III. Strafkammer, vom 28. Dezember 2021 wird aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an das Obergericht zurückgewiesen. 
 
2.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.  
Der Kanton Zürich hat dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Lucien Valloni, für das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 3'000.-- auszurichten. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 25. Mai 2022 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari 
 
Der Gerichtsschreiber: Matt