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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_833/2022  
 
 
Urteil vom 25. August 2022  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin, 
Bundesrichterin Koch, 
Bundesrichter Hurni, 
Gerichtsschreiber Briw. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Advokat Dr. Christian von Wartburg, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Oberjugendanwaltschaft des Kantons Zürich, Zürcherstrasse 15, 8400 Winterthur, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Entlassung aus einer Massnahme i.S.v. Art. 15 Abs. 1 JStG; Verhältnismässigkeit, 
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich, III. Strafkammer, vom 25. Mai 2022 (UH220146-O/U/AEP>PFE). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Das Jugendgericht Zürich verurteilte A.________ (geb. 2001) am 20. August 2020 wegen Vergewaltigung, sexueller Nötigung, Sachbeschädigung, versuchter Nötigung, Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte sowie Widerhandlung gegen das Waffengesetz. Es stellte das Verfahren betreffend einfache Körperverletzung, mehrfache Sachbeschädigung und Drohung zulasten seiner Eltern ein und sah bezüglich der versuchten Nötigung von einer Bestrafung ab. Es bestrafte ihn mit 180 Tagen Freiheitsentzug, die durch Haft und stationäre Beobachtung bereits erstanden waren. Es ordnete eine Unterbringung i.S.v. Art. 15 Abs. 1 JStG sowie eine ambulante Behandlung i.S.v. Art. 14. Abs. 1 JStG an.  
 
A.b. Die Jugendanwaltschaft Zürich-Stadt wies A.________ mit Verfügung vom 20. Oktober 2020 in Fortsetzung der vorsorglichen Unterbringung ab dem 22. Oktober 2020 in das Massnahmenzentrum für junge Erwachsene U.________ ein und verfügte nach Rechtskraft des jugendgerichtlichen Urteils am 25. Februar 2021 die definitive Einweisung. Er wurde während des Aufenthalts im U.________ zeitweise in ein Gefängnis sowie in ein Sanatorium und in die Psychiatrische Klinik V.________ versetzt. Am 2. Dezember 2021 verfügte die Jugendanwaltschaft seine Einweisung per 6. Dezember 2021 in das Zentrum für Sozialpädagogik und Psychotherapie V.________ (ZSP). Am 28. Februar 2022 wies ihn die Jugendanwaltschaft befristet auf einen Monat in das Untersuchungsgefängnis W.________ ein. Seine Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Zürich am 22. März 2022 ab. Am 1. April 2022 verfügte die Jugendanwaltschaft die Verlängerung der Einweisung in das Untersuchungsgefängnis bis am 5. Mai 2022.  
 
A.c. Das Strafgericht des Kantons Basel-Stadt verurteilte A.________ am 8. April 2022 wegen Delikten im Zeitraum der Unterbringung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 8 Monaten. Er erhob Berufung.  
 
B.  
Am 13. April 2022 ersuchte A.________ um Beendigung und Aufhebung der Unterbringung. Die Jugendanwaltschaft wies das Gesuch am 22. April 2022 ab. Am 3. Mai 2022 verlängerte die Jugendanwaltschaft die am 28. Februar 2022 angeordnete und am 1. April 2022 letztmals verlängerte Einweisung in ein Gefängnis. A.________ erhob gegen die Verfügungen der Jugendanwaltschaft vom 22. April 2022 und vom 3. Mai 2022 Beschwerde, die vom Obergericht des Kantons Zürich am 25. Mai 2022 abgewiesen wurde. 
 
C.  
A.________ beantragt beim Bundesgericht mit Beschwerde in Strafsachen, den vorinstanzlichen Beschluss aufzuheben, ihn aus der Unterbringung zu entlassen, eventualiter die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen, ihm zulasten der Vorinstanz eine Entschädigung zuzusprechen und dieser die Kosten aufzuerlegen. Er beantragt die unentgeltliche Rechtspflege (und Verbeiständung). 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG; vgl. BGE 146 IV 88 E. 1.3.2). In der Begründung ist in gedrängter Form darzulegen, "inwiefern der angefochtene Akt Recht verletzt" (Art. 42 Abs. 2 BGG). Eine qualifizierte Begründungspflicht obliegt, soweit die Verletzung von Grundrechten einschliesslich Willkür behauptet wird (Art. 97 Abs. 1 i.V.m. Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 148 IV 39 E. 2.3.5). Das Bundesgericht ist kein Sachgericht (BGE 145 IV 137 E. 2.8). Es hat nicht in den Akten nach der Begründetheit von nur schwer einzuordnenden Beschwerdevorbringen zu forschen (Urteil 6B_1033/2019 vom 4. Dezember 2019 E. 6.1). 
 
Die beschwerdeführende Partei hat mit ihrer Kritik bei der als rechtsfehlerhaft erachteten Erwägung der Vorinstanz anzusetzen (BGE 146 IV 297 E. 1.2; 140 III 115 E. 2). Diese Begründungsanforderungen werden in der Beschwerdeführung nicht beachtet, vielmehr werden die Vorbringen vor der Vorinstanz wiederholt (vgl. unten E. 2.1; Beschluss S. 6-8, 10). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). 
 
2.  
 
2.1. Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung von Art. 19 JStG, Art. 56 StGB und Art. 36 Abs. 3 BV. Er sei kein Jugendlicher mehr. Im 2022 werde er 21 Jahre alt. Die Unterbringungen in den vergangenen eineinhalb Jahren belegten das Scheitern der Massnahme. Die Art. 18 Abs. 1 Satz 1 und Art. 19 JStG erlaubten Änderungen der Massnahme. Wenn ein Jugendlicher in der Unterbringung derart verzweifelt sei, dass er wiederholt Suizidversuche begehe, bestehe dringender Handlungsbedarf und sei eine Unterbringung wo auch immer sinnlos. Die Suizidversuche hätten stattgefunden, wenn der Massnahmendruck enorm gewesen sei. Es gelinge offensichtlich nicht, in der Massnahme reelle Zukunftsaussichten zu entwickeln. Angesichts der 180-tägigen Freiheitsstrafe sei die Weiterführung der Massnahme unverhältnismässig.  
 
2.2. Die Vorinstanz stellt fest, nach dem Gutachten vom 23. März 2020 müsse die Persönlichkeitsentwicklung des Beschwerdeführers als mässig bis stark beeinträchtigt angesehen werden. Es zeige sich eine emotional-instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ. Es könne davon ausgegangen werden, dass er auch in Zukunft in nahen Beziehungen mit Gewalt auf Frustration und verwehrte Bedürfnisbefriedigung (Grenzsetzungen) reagiere. Würden Rückfallprävention und positive Entwicklung als Parameter genommen, müssten die bisherigen Interventionen als gescheitert betrachtet werden. Bei erfolgreicher therapeutischer Auseinandersetzung sei von einer deutlichen Verbesserung der Legalprognose auszugehen. Es werde aber vermutlich viel Fingerspitzengefühl verlangen, eine ausgewogene Balance zwischen Fordern, Fördern, Nachsicht und Kontrolle bezüglich vereinbarter Ziele und Zielerreichung zu finden. Der Beschwerdeführer erscheine dazu grundsätzlich bereit, es sei aber nicht absehbar, wie weit er eine Eskalationsspirale (Selbstverletzung, Suizidandrohung, Suizidversuche) bei mittel- bis langfristiger geschlossener Unterbringung treiben würde, um seinen Willen durchzusetzen.  
 
Die Vorinstanz hält weiter fest, im Abschlussbericht vom 4. Januar 2022 des U.________ werde der Beschwerdeführer als stark massnahmenbedürftig erachtet und eine grundlegende Massnahmenfähigkeit als gegeben angesehen. Die Massnahmenwilligkeit werde als wenig vorhanden eingeschätzt. Im Hinblick auf die Rückfallgefahr sei eine Entlassung zum jetzigen Zeitpunkt nicht indiziert. Die Vorinstanz stützt sich zudem auf ein Protokoll vom 13. Februar 2022 und ein Schreiben vom 28. Februar 2022 der ZSP. 
 
Die Vorinstanz schliesst, der Beschwerdeführer sei nach wie vor massnahmenbedürftig. Sein Zustand habe sich seit dem Gutachten vom 23. März 2020 nicht grundlegend verbessert. Dass die Massnahme gescheitert sei und keine Wirkung mehr entfalten könne, lasse sich nicht sagen, zumal bereits das Gutachten Rückschläge als wahrscheinlich angesehen habe. Vor diesem Hintergrund sei wohl auch die Einnahme von Reissnägeln bzw. Batterien einzuordnen. Zumindest lägen keine Hinweise vor, dass die Suizidversuche mit einem durch die Massnahme aufgebauten unangemessenen Druck zusammenhingen. Dass er "lediglich" zu 180 Tagen Freiheitsentzug verurteilt worden sei, lasse die Weiterführung der Massnahme nicht als unverhältnismässig erscheinen. Ein allzu schnelles Aufgeben der Schutzmassnahme liege klar nicht in seinem Interesse. Inzwischen habe eine geeignete Einrichtung gefunden werden können. 
 
2.3. Die Unterbringung muss notwendig (Art. 15 Abs. 1 JStG) und verhältnismässig sein (Art. 1 Abs. 2 lit. c JStG i.V.m. Art. 56 Abs. 2 StGB; Urteil 6B_661/2018 vom 24. August 2018 E. 1.2). Sie muss für die Zielerreichung geeignet und erforderlich sein und es muss eine vernünftige Relation zwischen dem Eingriff und dem angestrebten Ziel bestehen (HUG/SCHLÄFLI/VALÄR, in: Basler Kommentar, Strafrecht II, 4. Aufl. 2019, N. 3b zu Art. 15 JStG). Die Massnahme wird auf unbestimmte Zeit angeordnet, kann aber bei geänderten Verhältnissen durch eine andere ersetzt werden (Art. 18 JStG). Diese Änderbarkeit nach der Zweckmässigkeit gilt als Wesensmerkmal des JStG. Jede Massnahme endet mit dem 25. Altersjahr (Art. 19 Abs. 2 JStG). Es ist deshalb unerheblich, dass der Beschwerdeführer im 2022 21 Jahre alt wird. Eine Unterbringung nach Art. 15 JStG kann über die Mündigkeit des Jugendlichen hinaus auch ohne dessen Einverständnis angeordnet und vollzogen werden (BGE 141 IV 172 E. 3.2; Urteil 6B_611/2016 vom 21. September 2016 E. 1.4). Zu beachten sind die Vollzugsgrundsätze des Art. 74 StGB (Art. 1 Abs. 2 lit. e JStG).  
 
2.4. Aufzuheben ist die Massnahme, wenn sie ihren Zweck erreicht hat. Das ist hier nicht der Fall. Sie ist weiter aufzuheben, wenn feststeht, dass sie keine erzieherischen oder therapeutischen Wirkungen mehr entfaltet, doch darf die Massnahme nicht vorschnell wegen Wirkungslosigkeit aufgegeben werden (HUG/SCHLÄFLI/VALÄR, a.a.O., NN. 2-4 zu Art. 19 JStG). Eine Massnahme kann sich aufdrängen, wenn ein Jugendlicher jegliche Zusammenarbeit verweigert, therapeutisch-erzieherisch nicht erreichbar ist oder weitere schwere Delikte begeht bzw. sich in immer grössere Schwierigkeiten verstrickt (vgl. Urteile 6B_661/2018 vom 24. August 2018 E. 1.4; 6B_85/2014 vom 18. Februar 2014 E. 4; 1B_437/2011 vom 14. September 2011 E. 4.2). Mit fehlender Motivation und schlechter Führung soll der Jugendliche nicht eine weniger eingreifende Massnahme erzwingen können (MARCEL RIESEN-KUPPER, in: Andreas Donatsch [Hrsg.], StGB/JStG, Kommentar, 21. Aufl. 2022, N. 4 zu Art. 15 JStG). Jungen Straftätern soll durch die Massnahme die Chance einer noch möglichen Förderung ihrer Persönlichkeitsentwicklung eröffnet werden (Urteile 6B_661/2018 vom 24. August 2018 E. 1.4; 6B_1000/2017 vom 25. Oktober 2017 E. 3.7; 6B_866/2017 vom 11. Oktober 2017 E. 1.6.3).  
 
2.5. In casu folgt aus den vorinstanzlichen Feststellungen eine eindeutige Massnahmenbedüftigkeit sowie eine grundsätzliche Massnahmenfähigkeit des Beschwerdeführers. Seine Massnahmenwilligkeit wird als instabil dargestellt. In seiner Unwilligkeit nimmt er Selbstverletzungen in Kauf, um seinen Willen durchzusetzen. Nach dem Gutachten ist ein derartiges Verhalten in einer Eskalationsspirale durchaus erwartbar. Es ist nicht zu erkennen, dass die Selbstverletzungen Folge einer nicht adäquaten Therapieform wären (Beschluss S. 13, 16).  
 
Wie die Jugendanwaltschaft ausführte, ist der Beschwerdeführer weder beruflich integriert noch ausreichend therapeutisch behandelt. Er ist weiterhin höchst massnahmenbedürftig und nicht in der Lage, im offenen, strukturfreien Rahmen deliktfrei zu leben. Derzeit brauche es eine initial geschlossene pädagogische Einrichtung, welche therapeutisch arbeite, mit einem psychiatrischen Setting im Hintergrund für Krisenphasen. Ein Abbruch der Behandlung würde die weitere Persönlichkeitsentwicklung gefährden. Der Übertritt in die geeignete Institution werde bestmöglich vorbereitet (Beschluss S. 5 f., 8 f.). Dieser Eintritt ist inzwischen vollzogen worden (Beschluss S. 17). 
 
2.6. Der Vorinstanz ist zuzustimmen, dass die in der Vergangenheit oftmals an den Tag gelegte Verweigerungshaltung die angeordnete Unterbringung derzeit nicht in Frage zu stellen vermag (Beschluss S. 16). Die Voraussetzungen der Unterbringung sind weiterhin gegeben, dass nämlich die notwendige Erziehung und Behandlung des Jugendlichen nicht anders sichergestellt werden kann (Art. 15 Abs. 1 JStG). Die Unterbringung liegt im Interesse des Beschwerdeführers. Sind die Voraussetzungen gegeben, ist die Massnahme anzuwenden und mit Beharrlichkeit und Geduld durchzuführen, um den vorgezeichneten Weg eines Jugendlichen in eine kriminelle Karriere zu unterbrechen (HUG/SCHLÄFLI/VALÄR, a.a.O., N. 6 zu Art. 10 JStG sowie N. 4 zu Art. 19 JStG). Nicht zielführend und damit unbehelflich ist es vorzubringen, dass der Beschwerdeführer lieber die im anhängigen Strafverfahren (oben Sachverhalt A.c) ausgefällte Freiheitsstrafe vollzogen haben möchte. Es ist vielmehr anzunehmen, dass die Massnahme mittelfristig erzieherisch und therapeutisch wirkt und dem Beschwerdeführer eine reale Zukunftsperspektive eröffnet werden kann.  
 
3.  
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege (und Verbeiständung) ist wegen Aussichtslosigkeit des Rechtsbegehrens abzuweisen (Art. 64 Abs. 1 BGG; BGE 142 III 138 E. 5.1; 129 I 129 E. 2.3.1). Praxisgemäss werden der unterliegenden Person bei Gesuchen um unentgeltliche Rechtspflege mit nachgewiesener Bedürftigkeit die Gerichtskosten herabgesetzt (vgl. Art. 66 Abs. 1 i.V.m. Art. 65 Abs. 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen. 
 
3.  
Die Gerichtskosten von Fr. 1'200.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 25. August 2022 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari 
 
Der Gerichtsschreiber: Briw