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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
6B_1294/2017  
 
 
Urteil vom 19. September 2018  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Denys, Präsident, 
Bundesrichter Rüedi, 
nebenamtliche Bundesrichterin Koch, 
Gerichtsschreiberin Andres. 
 
Verfahrensbeteiligte 
X.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Baumeler, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Luzern, Postfach 3439, 6002 Luzern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Einfache Verkehrsregelverletzung, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts Luzern, 1. Abteilung, vom 18. September 2017 (2M 16 32). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Am 17. Dezember 2014 kollidierte der Autolenker X.________ mit dem Fussgänger A.________. Dieser erlitt ein Schädelhirntrauma, eine Ellenbogen- sowie eine Oberschenkelkontusion. 
 
B.  
Die Staatsanwaltschaft Emmen verurteilte X.________ mit Strafbefehl vom 10. Februar 2016 wegen Nichtgewährens des Vortritts mit einem Personenwagen gegenüber einem Fussgänger auf einem Fussgängerstreifen zu einer Busse von Fr. 600.--. 
 
C.  
Im Einspracheverfahren gegen den Strafbefehl verurteilte das Bezirksgericht Hochdorf X.________ am 22. August 2016 wegen Nichtbeherrschens des Fahrzeugs infolge mangelnder Aufmerksamkeit zu einer Busse von Fr. 200.--. Die dagegen erhobene Berufung von X.________ und Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft wies das Kantonsgericht am 18. September 2017 ab. 
 
D.  
Gegen dieses Urteil erhebt X.________ Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht. Er beantragt, das Urteil des Kantonsgerichts Luzern vom 18. März [recte: September] 2017 sei vollumfänglich aufzuheben. Er sei von Schuld und Strafe freizusprechen. Eventualiter sei die Strafsache zur Neubeurteilung an das Kantonsgericht zurückzuweisen, unter Kosten- und Entschädigungsfolgen. 
 
E.  
Das Kantonsgericht und die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Luzern beantragen in ihren Vernehmlassungen die Abweisung der Beschwerde. X.________ repliziert. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Der Beschwerdeführer beruft sich auf den Vertrauensgrundsatz nach Art. 26 SVG. Er habe nicht damit rechnen müssen, dass ein Fussgänger, welcher keinen Vortritt habe, 6.5 Meter vor dem Fussgängerstreifen unvermittelt auf die Strasse hinaustrete, ohne nach links zu schauen. Das Verhalten des Fussgängers sei überraschend und für ihn nicht vorhersehbar gewesen, da es hierfür keine konkreten Anzeichen gegeben habe. Auf der Fahrbahn habe er, der Beschwerdeführer, Vortritt gehabt. Er habe seine Geschwindigkeit auf 35 bis 40 km/h reduziert und sei aufmerksam auf den Fussgängerstreifen zugefahren. Auf das Betreten der Fahrbahn durch den Fussgänger habe er reflexartig richtig reagiert und eine Vollbremsung eingeleitet. Den Fussgänger treffe ein grobes Selbstverschulden; sein Verhalten unterbreche den Kausalzusammenhang. Die vorinstanzliche Würdigung, er sei unvorsichtig im Sinne von Art. 31 Abs. 1 SVG gefahren, verletze Bundesrecht.  
 
1.2. Die Vorinstanz verurteilt den Beschwerdeführer wegen fahrlässiger Verletzung von Art. 31 Abs. 1 SVG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 der Verkehrsregelnverordnung vom 13. November 1962 (VRV; SR 741.11) und Art. 90 Abs. 1 SVG. Sie erwägt, er hätte bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit den Fussgänger früher bemerken, eine Sekunde eher bremsen und so die Folgen der unvermeidbaren Kollision mildern können.  
 
1.3. Nach Art. 31 Abs. 1 SVG muss der Führer das Fahrzeug ständig so beherrschen, dass er seinen Vorsichtspflichten nachkommen kann. Der Fahrzeugführer muss seine Aufmerksamkeit der Strasse und dem Verkehr zuwenden. Er darf beim Fahren keine Verrichtung vornehmen, welche die Bedienung des Fahrzeugs erschwert. Er hat ferner dafür zu sorgen, dass seine Aufmerksamkeit insbesondere durch Tonwiedergabegeräte sowie Kommunikations- und Informationssysteme nicht beeinträchtigt wird (Art. 3 Abs. 1 VRV). Fahrlässig handelt, wer die Folge seines Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedenkt oder darauf nicht Rücksicht nimmt. Pflichtwidrig ist die Unvorsichtigkeit, wenn der Täter die Vorsicht nicht beachtet, zu der er nach den Umständen und nach seinen persönlichen Verhältnissen verpflichtet ist (Art. 12 Abs. 3 StGB).  
 
1.4. Nach dem aus Art. 26 Abs. 1 SVG abgeleiteten Vertrauensprinzip darf jeder Strassenbenützer darauf vertrauen, dass sich die anderen Verkehrsteilnehmer ebenfalls ordnungsgemäss verhalten, ihn also nicht behindern oder gefährden, sofern nicht besondere Umstände dagegen sprechen. Besondere Vorsicht ist geboten gegenüber Kindern, Gebrechlichen und alten Leuten, ebenso wenn Anzeichen dafür bestehen, dass sich ein Strassenbenützer nicht richtig verhalten wird (Art. 26 Abs. 2 SVG).  
Auf den Vertrauensgrundsatz kann sich nur stützen, wer sich selbst verkehrsregelkonform verhält. Wer gegen die Verkehrsregeln verstösst und dadurch eine unklare oder gefährliche Verkehrslage schafft, kann nicht erwarten, dass andere diese Gefahr durch erhöhte Vorsicht ausgleichen. Jedoch gilt diese Einschränkung dort nicht, wo gerade die Frage, ob der Verkehrsteilnehmer eine Verkehrsvorschrift verletzt hat, davon abhängt, ob er sich auf den Vertrauensgrundsatz berufen kann oder nicht (BGE 143 IV 500 E. 1.2.4 S. 505 f. mit Hinweisen). 
 
1.5. Der Fahrzeuglenker ist gegenüber dem Fussgänger, der die Strasse ausserhalb eines Fussgängerstreifens zu überqueren beabsichtigt, grundsätzlich vortrittsberechtigt, auch wenn er ihm gemäss Art. 33 Abs. 1 SVG das Überqueren der Strasse in angemessener Weise zu ermöglichen hat. Dieses Vortrittsrecht gilt jedoch nicht unbedingt, sondern nur unter dem Vorbehalt von Art. 26 Abs. 2 SVG. Das Mass der Sorgfalt, die vom Fahrzeuglenker verlangt wird, richtet sich nach den gesamten Umständen, namentlich der Verkehrsdichte, den örtlichen Verhältnissen, der Zeit, der Sicht und den voraussehbaren Gefahrenquellen (BGE 129 IV 282 E. 2.2.1 S. 285 mit Hinweisen).  
 
1.6. Die Vorinstanz erachtet gestützt auf das erstinstanzliche Urteil folgenden Sachverhalt als erstellt: Der Fussgänger A.________ überquerte die Fahrbahn rund 6.5 Meter vor dem Fussgängerstreifen, dies von rechts nach links in Fahrtrichtung des Beschwerdeführers. Er legte die Strecke vom Fahrbahnrand bis zur Kollisionsstelle in rund 0.8 Sekunden zurück, d.h. er wollte die Fahrbahn innert kürzester Strecke überqueren. Er hörte Musik und hatte seine Aufmerksamkeit nicht voll dem Verkehr gewidmet. Der Beschwerdeführer fuhr vor der Kollision mit dem Fussgänger mit 35 bis 40 km/h. Die Witterungs- und Sichtverhältnisse waren schlecht, es war dunkel und der Fussgänger war dunkel gekleidet. Jedoch war sein hellgrau-weisser Rucksack trotz Dunkelheit sichtbar, da sich der Fussgänger mit dem Rücken zum Beschwerdeführer auf dem Trottoir fortbewegte, bevor er die Fahrbahn überquerte. Der Beschwerdeführer machte keine Kontrollblicke auf die Trottoirs rechts und links, obwohl er aufgrund seiner Ortskenntnisse wusste, dass er auf einen Fussgängerstreifen zufuhr, und sah den Fussgänger erst beim Überqueren der Fahrbahn. Für den Beschwerdeführer gab es keine Anzeichen, dass der Fussgänger 6.5 Meter vor dem Fussgängerstreifen unvermittelt auf die Fahrbahn treten könnte. Der Beschwerdeführer hätte die Kollision nicht verhindern können, auch wenn er den Fussgänger so früh wie möglich wahrgenommen hätte (angefochtenes Urteil S. 6 ff.). Jedoch hätte der Beschwerdeführer den Fussgänger früher erkennen können. Es wäre ihm möglich gewesen, den Fussgänger eine Sekunde früher zu erkennen und das Bremsmanöver zehn Meter früher einzuleiten, wodurch sich die Kollisionsgeschwindigkeit verringert hätte (angefochtenes Urteil S. 10).  
 
1.7. Vorliegend liegt keine Sorgfaltspflichtverletzung seitens des Beschwerdeführers vor, welche den Erfolgseintritt begünstigte. Er fuhr mit einer an die schlechten Witterungs- und Sichtverhältnisse anpassten Geschwindigkeit. Dabei bestanden keinerlei Anzeichen, dass sich der erwachsene Fussgänger falsch verhalten würde. Der Fussgänger drehte dem Beschwerdeführer gemäss den vorinstanzlichen Erwägungen während der Fortbewegung auf dem Trottoir den Rücken zu und trat unvermittelt auf die Fahrbahn, dies 6.5 Meter vor dem Fussgängerstreifen. Zwischen dem überraschenden Betreten der Fahrbahn und der Kollision verstrichen lediglich 0.8 Sekunden (angefochtenes Urteil S. 5 f.). Diese kurze Zeitspanne entspricht nicht einmal der durchschnittlichen Reaktionszeit von einer Sekunde. Weshalb der Beschwerdeführer früher hätte reagieren sollen, ist nicht ersichtlich. Insbesondere bestand zwischen dem Beschwerdeführer und dem Fussgänger auch kein Blickkontakt, so dass der Beschwerdeführer weder mit dem Fussgänger kommunizieren noch an dessen Gesichtsausdruck oder Bewegungen das Betreten der Fahrbahn vorhersehen konnte.  
Das blosse Vorhandensein von erwachsenen Fussgängern auf dem Trottoir erfordert kein Bremsmanöver. Selbst wenn der Beschwerdeführer den Fussgänger erblickt hätte, hätte er im zu beurteilenden Fall keinen Grund für ein präventives Bremsmanöver gehabt, weil es keinerlei Anzeichen für das bevorstehende Fehlverhalten des Fussgängers, d.h. das unvermittelte Betreten der Fahrbahn, gab. Dass der Beschwerdeführer das Trottoir nicht beobachtete und den Fussgänger vor dem Betreten der Fahrbahn nicht wahrnahm, war nicht kausal für die Kollision. Der Fussgänger hatte noch 6.5 Meter bis zum Fussgängerstreifen zu bewältigen, womit der Beschwerdeführer selbst bei frühzeitigem Erblicken des Fussgängers davon hätte ausgehen können, dass der Fussgänger den Fussgängerstreifen erst erreichen würde, nachdem er an ihm vorbeigefahren wäre. Selbst bei pflichtgemässem und frühzeitigem Erblicken des Fussgängers hätte sich der Unfallhergang somit nicht anders abgespielt. Ursache des Verkehrsunfalls ist das unvorhersehbare, überraschende Verhalten des Fussgängers. Der Beschwerdeführer kann sich - anders als dies etwa bei einer Schülerin der Fall gewesen wäre (vgl. Urteil 6S.13/2006 vom 30. August 2006) - auf den Vertrauensgrundsatz berufen. Die Verurteilung wegen fahrlässiger Missachtung von Verkehrsregeln nach Art. 90 Abs. 1, Art. 31 Abs. 1 SVG, Art. 3 Abs. 1 VRV und Art. 12 Abs. 3 StGB verletzt Bundesrecht. Die Beschwerde ist in diesem Punkt gutzuheissen und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
 
2.  
Da der Beschwerdeführer gestützt auf den gemäss Vorinstanz vom erstinstanzlichen Gericht willkürfrei festgestellten Sachverhalt freizusprechen ist, erübrigt es sich, auf die Rügen betreffend die vorinstanzliche Kognition sowie die Sachverhaltsfeststellung einzugehen. 
 
3.  
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind für das bundesgerichtliche Verfahren keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Luzern ist zu verpflichten, dem Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Kantonsgerichts Luzern vom 18. September 2017 wird aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
2.  
Es werden keine Kosten erhoben. 
 
3.  
Der Kanton Luzern wird verpflichtet, dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung von Fr. 3'000.-- zu bezahlen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht Luzern, 1. Abteilung, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 19. September 2018 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Denys 
 
Die Gerichtsschreiberin: Andres