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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
9C_91/2011 
 
Urteil vom 21. Juli 2011 
II. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident, 
Bundesrichter Kernen, Bundesrichterin Glanzmann, 
Gerichtsschreiber Scartazzini. 
 
Verfahrensbeteiligte 
M.________, handelnd durch 
die Eltern K.________, und diese vertreten durch Procap, Schweizerischer Invaliden-Verband, Froburgstrasse 4, 4600 Olten, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen 
 
IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 14. Dezember 2010. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
Mit Verfügung vom 23. August 2000 sprach die IV-Stelle Bern dem 1999 geborenen M.________ medizinische Massnahmen zu und gewährte ihm mit Verfügungen vom 24. März 2004, 13. Juli 2004, 30. September 2005 sowie 23. April 2007 Kostengutsprache für heilpädagogische Früherziehung und Sonderschulmassnahmen im Externat. Im Rahmen eines Gesuchs um Hilflosenentschädigung wurden Abklärungen vorgenommen, aufgrund welcher die IV-Stelle mit Verfügung vom 8. April 2009 dem Versicherten vom 1. Oktober 2007 bis 31. März 2008 eine Entschädigung wegen mittlerer Hilflosigkeit und vom 1. April 2008 bis 31. Januar 2010 eine Entschädigung wegen leichter Hilflosigkeit zusprach. 
 
B. 
Die von den Eltern des Versicherten dagegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 14. Dezember 2010 insoweit gut, als dem Beschwerdeführer vom 1. Februar 2007 bis Ende März 2008 eine Entschädigung für eine Hilflosigkeit mittleren Grades sowie ab 1. April 2008 für eine Hilflosigkeit leichten Grades zugesprochen und die angefochtene Verfügung soweit den Anspruchsbeginn betreffend aufgehoben wurde. 
 
C. 
Vertreten durch seine Eltern lässt M.________ Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und unter Aufhebung des angefochtenen Entscheides sowie unter Kosten- und Entschädigungsfolgen beantragen, es sei ihm eine Hilflosenentschädigung mittleren Grades ab dem frühest möglichen Zeitpunkt zuzusprechen. 
 
Die IV-Stelle, das Verwaltungsgericht des Kantons Bern und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Stellungnahme. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann wegen Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. BGE 132 V 393). 
 
1.2 Streitig und zu prüfen ist, ob der Beschwerdeführer bereits vor dem 1. Februar 2007 Anspruch auf eine Entschädigung für Hilflosigkeit mittleren Grades hat. Verwaltung und Vorinstanz haben in formell-, materiell- und beweisrechtlicher Hinsicht die für die Beurteilung der Leistungsberechtigung massgeblichen Grundlagen sowie die diesbezügliche Rechtsprechung zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. Die Frage, ob für den Beschwerdeführer im Zeitpunkt, auf den die Vorinstanz ihm eine Hilflosenentschädigung mittleren Grades zugesprochen hat, gegenüber einem nicht behinderten Kind der hiezu vorausgesetzte Mehrbedarf an Betreuung und Überwachung erforderlich war, ist rechtlicher Natur und vom Bundesgericht frei überprüfbar (Urteil I 49/07 vom 10. Januar 2008 E. 6.2). 
 
2. 
2.1 Der Beschwerdeführer beanstandet den vorinstanzlichen Entscheid einzig bezüglich des Beginns der mittleren Hilflosenentschädigung und macht geltend, es gebe mehrere Anhaltspunkte, welche die Beschwerdegegnerin hätten veranlassen müssen, die Hilflosigkeit früher abzuklären. Er geht dabei davon aus, die Beschwerde gegen die Verfügung vom 8. April 2009 sei mit Entscheid vom 14. Dezember 2010 abgewiesen worden, obwohl das kantonale Gericht sie in Wirklichkeit dahingehend teilweise gutgeheissen hat, als ihm nicht ab 1. Oktober 2007, sondern bereits ab 1. Februar 2007 eine Entschädigung wegen mittlerer Hilflosigkeit zugesprochen wurde. In der Beschwerde werden über weite Strecken die selben Rügen vorgebracht, wie sie bereits vor dem kantonalen Gericht geltend gemacht wurden. 
 
2.2 Die Vorinstanz hat im angefochtenen Entscheid dargelegt, aus welchen Gründen ihrer Ansicht nach erst ab Februar 2008 (Bericht der Kantonalen Erziehungsberatung Bern vom 28. Februar 2008) erstmals Anlass bestand, die Frage der Hilflosenentschädigung zu prüfen, während vorher kein Anhaltspunkt dafür bestand und auch keine Pflicht zur Aufklärung der Eltern des Versicherten gemäss Art. 27 Abs. 2 ATSG vorlag. Zur Begründung der Rechtsfrage des Beginns des Anspruchs auf mittlere Hilflosenentschädigung hat das kantonale Gericht die massgeblichen Unterlagen allerdings nicht eingehend gewürdigt. Ebenso wenig hat es sich rechtsgenüglich mit den Vorbringen des Beschwerdeführers auseinandergesetzt, wie dieser zu Recht bemängelt. So hat die Vorinstanz insbesondere nicht begründet, weshalb der Bericht von Frau Dr. med. G.________ vom 28. Februar 2003 bzw. derjenige des Spitals X.________ vom 26. März 2003 nicht Anlass für eine Prüfung der Hilflosenentschädigung gebildet hatten. 
 
Damit liegt eine Verletzung der Begründungspflicht vor, die jedoch nicht als derart schwerwiegender Mangel bezeichnet werden kann, dass eine Heilung angesichts der freien Überprüfbarkeit der Rechtsfrage durch das Bundesgericht (vgl. E 1.2 und SVR 2010 IV Nr. 51 S. 157, 9C_363/2009 vom 18. März 2010 E. 3.3) nicht angenommen werden könnte. Für den Beschwerdeführer blieb die Möglichkeit zur sachgerechten, substanziierten Anfechtung des vorinstanzlichen Entscheids gewahrt. 
 
3. 
3.1 Die Anmeldung des Versicherten bei der IV-Stelle erfolgte am 27. Juli 2000, somit sieben Monate nach seiner Geburt (15. Dezember 1999), dies im Zusammenhang mit dem Geburtsgebrechen Gg 395 betreffend leichte cerebrale Bewegungsstörungen (mit Behandlung bis Ende des 2. Lebensjahres). Im März 2003 war der Beschwerdeführer drei ein Viertel Jahre alt, wobei ein Entwicklungsrückstand zu jenem Zeitpunkt wohl ersichtlich war. So hielt Frau Dr. med. G.________ in ihrem Bericht vom 28. Februar 2003 folgende Diagnose fest: "Entwicklungsrückstand unausgeglichenes Profil mit Hyperkinesie, dd ADHD oder kognitive Retardation (mit autist. Zügen), Epilepsie?? (wegen nächtl. Schreien), Organische Ursachen wie Chromosomenfehler?, St. nach Asymmetrie, verspätete motorische Entwicklung, Strabismus". Dabei wies sie u.a. auf einen Mehrbedarf an Betreuung und Überwachung in den Bereichen Essen und Anziehen hin (Bericht von Frau Dr. G.________ vom 17. April 2003). Indes waren der Entwicklungsrückstand und die Diagnosenstellung zu jenem Zeitpunkt noch unklar. Ersteres erhellt aus dem Bericht des Spitals X.________ vom 26. März 2003. In einem Bericht des ärztlichen Dienstes der IV-Stelle vom 9. Dezember 2003 wurde sodann festgehalten, der Bericht von Frau Dr. med. G.________ vom 17. April 2003 belege die Diagnose einer minimalen (spastischen) cerebralen Bewegungsstörung (mCP) nicht, er lasse vielmehr offen, ob es sich um eine sogenannte umschriebene Entwicklungsstörung motorischer Funktionen (ICD-10 F82) (bei der eine allenfalls indizierte Physio- oder Ergotherapie zu Lasten der Krankenkasse erfolgen müsste) oder doch um eine mCP handle. Mit Verfügung vom 19. Dezember 2003 lehnte die IV-Stelle das neu gestützt auf das Geburtsgebrechen Gg 390 (angeborene zerebrale Lähmungen) gestellte Leistungsbegehren um Kostengutsprache für medizinische Massnahmen rechtskräftig ab, weil keine eindeutig spastische, ataktische oder dyskinetische Symptome vorlagen. Dazu kommt, dass der Arztbericht von Frau Dr. med. G.________ vom 28. Februar 2003 den Sachverhalt insoweit relativiert, als darin nur von "demnächst Hilfe brauchen" die Rede ist. Auch der Bericht des Spitals X.________ vom 26. März 2003, in welchem die Diagnose "Unklarer Entwicklungsrückstand, Entwicklungsquotient 60-65, Verhaltensauffälligkeit mit Hyperkinesie" gestellt wurde, basierte nicht auf einer entwicklungsneurologischen Untersuchung und erwähnte lediglich "Überschlagsmässig liegt M.________ bei einem Alter von knapp 2 Jahren...". 
 
Bei Kleinkindern im Alter von rund drei Jahren besteht auch bei voller Gesundheit regelmässig eine gewisse Hilfsbedürftigkeit und die Notwendigkeit der Überwachung und Betreuung (vgl. SVR 2009 IV Nr. 30 S. 85, 9C_431/2008 E. 4.4.1). Nach dem Gesagten lagen im März 2003 keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine (frühere) Abklärung betreffend Hilflosenentschädigung des Versicherten vor. 
3.2 
3.2.1 In der Folge wurde von der IV-Stelle allerdings wiederholt die Kostengutsprache für heilpädagogische Früherziehung verfügt. Im Rahmen dieser Verfügungen kam die Verwaltung in den Besitz der am 18. Mai 2005 erstellten entwicklungspädagogischen Abklärung der Kinder- und Jugendpsychologin FSP Frau U.________. Darin wurde festgehalten, der Versicherte brauche immer noch sehr viel Unterstützung und Betreuung und reagiere immer noch gelegentlich mit heftigen Ausbrüchen auf Forderungen und Verbote. In der zusammenfassenden Beurteilung wurde festgestellt, insgesamt bestehe beim Versicherten eine deutlich verzögerte Entwicklung in allen Bereichen. Die Diagnose ADS/POS könne aus diesem Grund nicht gestellt werden. Eine genaue IQ-Zahl zu bestimmen sei zur Zeit noch schwierig, da die begrenzte Aufmerksamkeit doch viele Leistungen beeinträchtige und allgemein der Eindruck bestehe, dass ein gewisses Entwicklungspotential durchaus vorhanden sei. M.________ brauche aber auf jeden Fall mehr Zeit und Unterstützung als seine Alterskollegen, um Lernfortschritte zu machen. 
3.2.2 Die Vorinstanz nahm entsprechend ihrer Ausführungen im angefochtenen Entscheid (S. 14 oben) den Bericht der Fachpsychologin für Kinder- und Jugendpsychologie/Psychotherapie FSP Frau H.________ vom 28. Februar 2008 sowie den Arztbericht von Dr. med. S.________, Spezialarzt für Kinder und Jugendliche FMH vom 20. Februar 2008 als Anlass für eine Abklärung. Im Bericht von Frau H.________, der sich auf denjenigen von Dr. med. S.________ stützt, wurde ausgeführt, das Verhalten des Versicherten sei nach wie vor sehr schwierig, mit extremen Wutanfällen auf Aufforderungen und Verbote. Wenn nun aber die Vorinstanz entsprechend ihrer Erwägungen die Berichte von Frau H.________ und Dr. med. S.________ als Anlass für eine Prüfung der Hilflosenentschädigung erachtet hat, dann war ein solcher zwangsläufig schon im Mai 2005 gegeben. Denn inhaltlich unterscheiden sich die zwei letztgenannten Aktenstücke von den ausführlichen Abklärungen von Frau U.________ vom 18. Mai 2005 nicht; im Gegenteil werden im Abklärungsbericht von Frau U.________ substanziiertere Aussagen gemacht als in den zwei Berichten von 20. und 28. Februar 2008. So hat Frau U.________ in anamnestischer Hinsicht ausführlich den allgemeinen Zustand des Versicherten dargelegt, mit Angaben über eine im November 2004 gestellte Diagnose (Spracherwerbsstörung bei allgemeinem Entwicklungsrückstand), über die intellektuellen Leistungen, die Aufmerksamkeit, die Sprache, die Motorik und das freie Spiel. Demgegenüber wird in den Berichten von Frau H.________ und Dr. med. S.________ lediglich kurz das Verhalten des Versicherten beschrieben. 
Dass Kinder im Vorschulalter mit einer insgesamt deutlich verzögerten Entwicklung in allen Bereichen sowie einer eingeschränkten geistigen Leistungsfähigkeit grundsätzlich Mühe haben dürften, die für den Entschädigungsanspruch massgeblichen alltäglichen Lebensverrichtungen in gleicher Weise wie nicht behinderte Kinder auszuführen, ist naheliegend (Urteil 9C_1033/2010 vom 31. März 2011 E. 3.1). Im Bericht von Frau U.________ vom 18. Mai 2005 wurde sowohl eine insgesamt deutlich verzögerte Entwicklung in allen Bereichen als auch eine eingeschränkte geistige Leistungsfähigkeit attestiert, während in den Berichten von Frau H.________ (vom 28. Februar 2008) und von Dr. med. S.________ (vom 20. Februar 2008) das schwierige Verhalten des Beschwerdeführers bestätigt wurden. Daraus ist zu schliessen, dass der Versicherte bereits im Mai 2005 die Voraussetzungen erfüllte, welche die Beschwerdegegnerin hätten veranlassen müssen, die Hilflosigkeit abzuklären. 
 
3.3 In einem Abklärungsbericht vom 29. Januar 2009 hatte die Abklärungsfrau der IV-Stelle die Eröffnung der Wartezeit für die Ausrichtung von Hilflosenentschädigung auf Dezember 2005 (Vollendung des 6. Lebensjahres) festgelegt. In Anbetracht dieser Festlegung der massgeblichen Wartezeit durch die IV-Stelle, der Beurteilung des dargelegten Sachverhalts sowie unter Berücksichtigung des bei Kleinkindern "fliessenden" Übergangs von - mehr oder weniger - altersgerechter Betreuung und eines entsprechenden Mehrs davon im vorliegenden Fall, rechtfertigt es sich, dass für den Beschwerdeführer die Hilflosenentschädigung mittleren Grades ab 1. Dezember 2006 geleistet wird. 
 
4. 
Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Beschwerde begründet ist und der vorinstanzliche Entscheid insoweit aufzuheben ist, als der Beginn des Anspruchs auf Leistungen für Hilflosigkeit mittleren Grades nicht auf den 1. Februar 2007, sondern bereits auf den 1. Dezember 2006 festzulegen ist. 
 
5. 
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die IV-Stelle hat dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
In Gutheissung der Beschwerde wird dem Beschwerdeführer die Hilflosenentschädigung für eine Hilflosigkeit mittleren Grades ab 1. Dezember 2006 zugesprochen. Die Verfügung der IV-Stelle Bern vom 8. April 2009 und der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 14. Dezember 2010 werden, soweit den Anspruchsbeginn von Hilflosenentschädigung für eine Hilflosigkeit mittleren Grades betreffend, aufgehoben. 
 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3. 
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Gerichtskosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern zurückzuweisen. 
 
5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
Luzern, 21. Juli 2011 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: 
 
Meyer Scartazzini