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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
8C_475/2007 
 
Urteil vom 23. April 2008 
I. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Ursprung, Präsident, 
Bundesrichterinnen Widmer, Leuzinger, 
Gerichtsschreiber Grunder. 
 
Parteien 
G.________, Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwalt Michele Santucci, Zentralstrasse 55a, 5610 Wohlen, 
 
gegen 
 
Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau 
vom 5. Juni 2007. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
Mit Verfügung vom 14. Februar 2005 lehnte die IV-Stelle des Kantons Aargau ein Gesuch des 1970 geborenen G.________ um Leistungen der Invalidenversicherung mit der Begründung ab, es liege kein invalidenversicherungsrechtlich relevanter Gesundheitsschaden vor. Der behandelnde Dr. med. S.________, Facharzt Allg. Med. FMH, hielt in einem Schreiben vom 21. Februar 2005 an die IV-Stelle unter anderem fest, "Mein oben genannter Patient hat von Ihnen vor Kurzem sowohl bezüglich beruflichen Massnahmen als auch bezüglich Rente einen abschlägigen Entscheid erhalten. Herr G.________ hat sich gemeinsam mit seinen Angehörigen dazu entschlossen, Einsprache gegen diesen Entscheid zu erheben". Auf Nachfragen hin teilte die Verwaltung Dr. med. S.________ mit, die Verfügung vom 14. Februar 2005 sei rechtskräftig geworden, weil sie nicht innerhalb der Rechtsmittelfrist mit einer rechtsgenüglichen Einsprache angefochten worden sei (Schreiben vom 30. Mai 2006). Auf eine Einsprache des nunmehr anwaltlich vertretenen Versicherten vom 8. Februar 2007 trat sie nicht ein (Einspracheentscheid vom 16. April 2007). 
 
B. 
Hiegegen liess G.________ Beschwerde führen und beantragen, es sei "auf die am 21.2.2005 gegen die Verfügung vom 14.2.2005 erhobene Einsprache einzutreten" und die Sache sei "unter Berücksichtigung der Einspracheergänzung vom 8.2.2007 materiell zu beurteilen". Das damit gestellte Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wegen Aussichtslosigkeit des eingelegten Rechtsmittels ab, verbunden mit der Androhung, dass das Verfahren nach unbenutztem Ablauf der angesetzten Frist von 10 Tagen zur Bezahlung eines Gerichtskostenvorschusses von Fr. 600.- eingestellt werde (Entscheid vom 5. Juni 2007). 
 
C. 
Mit bundesgerichtlicher Beschwerde lässt G.________ beantragen, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei die Sache zur Prüfung der weiteren Voraussetzungen für die Gewährung der mit der kantonalen Beschwerde beantragten unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung zurückzuweisen. Ferner ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren. 
Das kantonale Gericht verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
Erwägungen: 
 
1. 
Nach der Rechtsprechung kann das in einem vorinstanzlichen Zwischenentscheid abgelehnte Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege insbesondere dann einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG bewirken, wenn nicht nur die unentgeltliche Rechtspflege verweigert, sondern zugleich auch die Anhandnahme des Rechtsmittels von der Bezahlung eines Kostenvorschusses durch die gesuchstellende Partei abhängig gemacht wird (Urteil 2D_1/2007 vom 2. April 2007 E. 3.2 mit Hinweis auf BGE 128 V 199 E. 2b S. 202 mit weiteren Hinweisen; 126 I 207 E. 2a S. 210; 123 I 275 E. 2f S. 278; 111 Ia 276 E. 2b S. 279; 99 Ia 437 E. 2 S. 439). Diese Voraussetzungen sind hier gegeben, weshalb auf die bundesgerichtliche Beschwerde einzutreten ist. 
 
2. 
Die Beschwerde kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (vgl. BGE 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG) und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). 
 
3. 
3.1 Das kantonale Gericht hat mit vollständigem Zitat des Schreibens des Dr. med. S.________ vom 21. Februar 2005 erwogen, dieses enthalte keinen ausdrücklichen Hinweis auf ein Stellvertretungsverhältnis. Es werde einzig dargelegt, dass sich der Patient gemeinsam mit seinen Angehörigen dazu entschlossen habe, gegen die Ablehnungsverfügung der IV-Stelle Einsprache zu erheben. Es sei daher davon auszugehen, dass Dr. med. S.________ den Versicherten lediglich unterstützen wollte, zumal es häufig vorkomme, dass behandelnde Ärzte ihre Patienten in Verfahren der Invalidenversicherung behilflich seien. Die fragliche Eingabe könne weder aufgrund ihres Wortlauts noch gestützt auf eine Auslegung nach dem Vertrauensprinzip als Einsprache des Versicherten gewertet werden. Es habe daher für die IV-Stelle aus rechtlicher Sicht kein Anlass bestanden, eine Nachfrist zur Verbesserung anzusetzen. Angesichts dieser klaren Sach- und Rechtslage erweise sich die kantonale Beschwerde als aussichtslos, weshalb die damit beantragte Bewilligung um unentgeltliche Rechtspflege zu verweigern sei. 
 
3.2 Der Beschwerdeführer bringt vor, aus Art. 37 ATSG ergebe sich, dass der Versicherungsträger ein Vertretungsverhältnis ohne schriftliche Vollmacht als gegeben betrachten könne. Auch nach der Rechtsprechung könne ein solches mündlich oder durch konkludentes Verhalten begründet werden. Die Vorinstanz übersehe, dass an eine Einsprache nur geringe formelle Anforderungen gestellt werden dürften. Ihre Auffassung, das Vertretungsverhältnis hätte in der Eingabe des Dr. med. S.________ vom 21. Februar 2005 eindeutig zum Ausdruck kommen müssen, stehe in keinem Verhältnis zu den schutzwürdigen Interessen des Versicherten, weshalb eine überspitzt formalistische Rechtsanwendung vorliege. Aus dem Wortlaut der Eingabe des Dr. med. S.________ vom 21. Februar 2005 ("Herr G.________ hat sich gemeinsam mit seinen Angehörigen dazu entschlossen, Einsprache gegen diesen Entscheid zu erheben") sei der Einsprachewille des Versicherten genügend klar ersichtlich. Die vorinstanzliche Beurteilung der Erfolgsaussichten der kantonalen Beschwerde halte einer rechtlichen Überprüfung insgesamt nicht stand. 
 
4. 
4.1 In Art. 42 Abs. 5 BGG wird unter dem Marginale "Rechtsschriften" bestimmt, dass das Bundesgericht eine angemessene Frist zur Behebung des Mangels, verbunden mit der Androhung, dass die Rechtsschrift sonst unbeachtet bleibt, anzusetzen hat, wenn unter anderem die Unterschrift der Partei oder ihrer Vertretung oder deren Vollmacht fehlt. Insoweit besteht für das Gericht die Pflicht zur Rückweisung zwecks Nachbesserung. Die in Art. 42 Abs. 5 BGG aufgeführten Elemente betreffen Verfahrensvoraussetzungen, deren Einhaltung nicht zur Disposition des Gerichts gestellt ist (Basler Kommentar, NIGGLI/ UEBERSAX/WIPRÄCHTIGER [Hrsg.], Bundesgerichtsgesetz, Basel 2008, Rz. 96 zu Art. 42 BGG). Nichts anderes kann hinsichtlich der formalen Anforderungen einer Einsprache im sozialversicherungsrechtlichen Verwaltungsverfahren gelten. Der Beschwerdeführer weist in diesem Zusammenhang zutreffend auf das Urteil I 99/06 vom 8. September 2006 (bestätigt im Urteil I 898/06 vom 23. Juli 2007 E. 3.1 bis 3.3, publ. in: SZS 2008 S. 167) hin. Danach ist die im kantonalen Beschwerdeverfahren geltende Pflicht, eine Nachfrist zur Behebung der Mängel anzusetzen, wenn eine Beschwerde den gesetzlichen Anforderungen nicht genügt (Art. 61 lit. b Satz 2 ATSG), auch für das Einspracheverfahren (Art. 10 Abs. 5 ATSV) massgebend. 
 
4.2 Die Pflicht zur Ansetzung einer Nachfrist setzt aber voraus, dass in der Rechtsmittel- oder Rechtsbehelfseingabe der Wille der versicherten Person, eine sie berührende Verfügung anzufechten, klar hervorgeht (vgl. BGE 116 V 353 E. 2b S. 356 mit Hinweisen; vgl. auch KÖLZ/HÄNER, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 2. Aufl., Zürich 1998, Rz. 607; GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, Bern 1983, 2. Aufl., S. 196 f.; KÖLZ/BOSSHART/RÖHL, Kommentar zum Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich, Zürich 1999, Rz. 7 zu § 23). Dr. med. S.________ hielt im Schreiben vom 21. Februar 2005 fest, dass der Versicherte an psychotischen Zuständen leide, welche mit grosser Wahrscheinlichkeit auch zu einem folgenschweren Suizidversuch (ausgesprochen schwere Verletzungen beider Füsse) geführt hätten. Diesen Aspekt habe die IV-Stelle nicht oder zumindest nicht genügend in ihre Überlegungen einbezogen. Aus seiner Sicht "würde" er "gerne den Antrag stellen, den Entscheid der IV zu revidieren". Allenfalls sei der Patient zu einer persönlichen Untersuchung aufzubieten. 
Angesichts dieser Ausführungen kann nicht gesagt werden, ein Anfechtungswille hinsichtlich der Verfügung vom 14. Februar 2005 sei nicht ersichtlich. Es ist eher davon auszugehen, dass die Aufhebung der Verfügung vom 14. Februar 2005 und weitere medizinische Abklärungen beantragt werden. Unter diesen Umständen kann das Vorbringen des Beschwerdeführers, der Nichteintretensentscheid der IV-Stelle sei durch kein schutzwürdiges Interesse gerechtfertigt und verhindere die Verwirklichung des materiellen Rechts (vgl. zum Verbot des überspitzten Formalismus: BGE 119 Ia 4 E. 2a S. 6, 118 Ia 14 E. 2a S. 15, 117 Ia 126 E. 5a S. 130, jeweils mit Hinweisen), nicht ohne weiteres von der Hand gewiesen werden. Insgesamt betrachtet liegt jedenfalls entgegen der vorinstanzlichen Auffassung keine derart klare Sach- und Rechtslage vor, welche die kantonale Beschwerde als aussichtslos erscheinen lässt. Entsprechend dem Antrag in der bundesgerichtlichen Beschwerde ist der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache an das kantonale Gericht zur Prüfung der weiteren Voraussetzungen der unentgeltlichen Rechtspflege für das kantonale Verfahren (Notwendigkeit einer [anwaltlichen] Vertretung; Bedürftigkeit) zurückzuweisen. 
 
5. 
5.1 Es sind keine Gerichtskosten zu erheben (vgl. Art. 66 Abs. 4 BGG). 
 
5.2 Infolge Obsiegens mit der bundesgerichtlichen Beschwerde hat der Beschwerdeführer Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
In Gutheissung der Beschwerde wird der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 5. Juni 2007 aufgehoben und die Sache an dieses zurückgewiesen, damit es über den Anspruch des Beschwerdeführers auf Bewilligung eines unentgeltlichen Rechtsbeistands im kantonalen Verfahren im Sinne der E. 4.2 neu verfüge. 
 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3. 
Der Kanton Aargau hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2500.- zu entschädigen. 
 
4. 
Diese Verfügung wird den Parteien und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
Luzern, 23. April 2008 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: 
 
Ursprung Grunder