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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_1140/2020  
 
 
Urteil vom 2. Juni 2021  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin, 
Bundesrichter Denys, 
Bundesrichter Rüedi, 
Bundesrichterin van de Graaf, 
Bundesrichter Hurni, 
Gerichtsschreiber Matt. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Elias Moussa, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, Nordring 8, Postfach, 3001 Bern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Einsprache gegen Strafbefehl; Gültigkeit der Einsprache (Widerhandlung gegen das Strassenverkehrsgesetz), 
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Bern, Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 31. August 2020 (BK 20 291). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Am 24. Februar 2020 (eröffnet am 28. Februar 2020) erliess die Staatsanwaltschaft Emmental-Oberaargau im Strafverfahren gegen A.________ einen Strafbefehl wegen grober und einfacher Widerhandlung gegen das Strassenverkehrsgesetz. Nachdem der Beschuldigte am 12. März 2020 vergeblich um Übersetzung des Strafbefehls ins Französische ersucht hatte, erhob er gegen diesen am 19. März 2020 Einsprache. Die Staatsanwaltschaft, welche die Einsprache als verspätet erachtete, überwies diese am 8. April 2020 dem Regionalgericht zum Entscheid über die Gültigkeit. Am 14. Juli 2020 trat das Regionalgericht auf die Einsprache infolge Verspätung nicht ein. Das vom Beschuldigten angerufene Obergericht des Kantons Bern wies dessen Beschwerde am 31. August 2020 ab. 
 
B.  
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt A.________, der angefochtene Beschluss sei aufzuheben und es sei festzustellen, dass die Einsprache gegen den Strafbefehl rechtzeitig und gültig eingereicht worden sei. Die Sache sei zwecks Eintreten und Durchführung des Hauptverfahrens an das Regionalgericht zurückzuweisen. 
 
C.  
Das Obergericht verzichtet auf eine Vernehmlassung, während die Generalstaatsanwaltschaft sich nicht vernehmen liess. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Vorliegend ist einzig zu prüfen, ob die Einsprache gegen den Strafbefehl rechtzeitig erfolgte. 
 
1.1. Gegen den Strafbefehl kann die beschuldigte Person bei der Staatsanwaltschaft innert 10 Tagen schriftlich Einsprache erheben (Art. 354 Abs. 1 lit. a StPO). Ohne gültige Einsprache wird der Strafbefehl zum rechtskräftigen Urteil (Art. 354 Abs. 3 StPO). Die zehntägige Einsprachefrist beginnt mit der Zustellung des Strafbefehls zu laufen. Die Formen der Zustellung sind in Art. 85 StPO geregelt. Demnach bedienen sich die Strafbehörden für ihre Mitteilungen der Schriftform, soweit dieses Gesetz nichts Abweichendes bestimmt (Abs. 1). Die Zustellung erfolgt durch eingeschriebene Postsendung oder auf andere Weise gegen Empfangsbestätigung, insbesondere durch die Polizei (Art. 85 StPO Abs. 2; BGE 144 IV 57 E. 2.3 mit Hinweisen).  
Nach Art. 68 Abs. 2 StPO wird der beschuldigten Person, auch wenn sie verteidigt wird, in einer ihr verständlichen Sprache mindestens der wesentliche Inhalt der wichtigsten Verfahrenshandlungen mündlich oder schriftlich zur Kenntnis gebracht. Ein Anspruch auf vollständige Übersetzung aller Verfahrenshandlungen sowie der Akten besteht nicht. Bei Strafbefehlen sind nach der Rechtsprechung zumindest das Dispositiv und die Rechtsmittelbelehrung zu übersetzen (BGE 145 IV 197 E. 1.3.3). Der Umfang der Beihilfen, die einer beschuldigten Person, deren Muttersprache nicht der Verfahrenssprache entspricht, zuzugestehen sind, ist nicht abstrakt, sondern aufgrund ihrer effektiven Bedürfnisse und den konkreten Umständen des Falles zu würdigen (BGE 143 IV 117 E. 3.1). Die beschuldigte Person ist grundsätzlich nicht davon entbunden, ihren Übersetzungsbedarf anlässlich nicht übersetzter Verfahrenshandlungen zu signalisieren, resp. gehalten, sich über den Inhalt einer Verfügung zu erkundigen (BGE 145 IV 197 E. 1.3.3; 118 Ia 462 E. 2.b; Urteil 6B_860/2020 vom 18. November 2020 E. 1.3.1 f.; je mit Hinweisen). 
Aus einer unrichtigen Rechtsmittelbelehrung dürfen den Parteien keine Nachteile erwachsen. Eine Partei ist nur dann geschützt, wenn sie sich nach Treu und Glauben (Art. 5 Abs. 3 BV, Art. 3 Abs. 2 lit. A StPO) auf die fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung verlassen durfte. Wer die Unrichtigkeit erkannte oder bei gebührender Aufmerksamkeit hätte erkennen können, kann sich nicht auf den Vertrauensschutz berufen. Nur eine grobe prozessuale Unsorgfalt der betroffenen Partei oder ihres Anwalts vermag eine unrichtige Rechtsmittelbelehrung aufzuwiegen. Wann eine grobe prozessuale Unsorgfalt vorliegt, beurteilt sich nach den konkreten Umständen und den Rechtskenntnissen der betreffenden Person (BGE 138 I 49 E. 8.3.2). Diese Rechtsprechung kommt auch dann zur Anwendung, wenn die Rechtsmittelbelehrung unter Missachtung von Art. 68 Abs. 2 StPO nicht übersetzt wurde. Umso mehr muss dies der Fall sein, wenn eine Übersetzung des Dispositivs fehlt, denn nur diese erlaubt es der beschuldigten Person, die Tragweite der mit dem Strafbefehl ausgesprochenen Sanktion und die Notwendigkeit einer Einsprache einzuschätzen (vgl. dazu Urteil 6B_1294/2019 vom 8. Mai 2020 E. 1.3.2 mit Hinweisen). 
 
1.2. Es ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer französischer Muttersprache und in Genf aufgewachsen und wohnhaft ist. Weder die Staatsanwaltschaft noch die beiden Vorinstanzen hatten je persönlich Kontakt mit ihm und konnten sich somit kein Bild von seinen Deutschkenntnissen verschaffen. Die Vorinstanz stützt sodann ihre Annahme, wonach der Beschwerdeführer über genügend Deutschkenntnisse verfüge, und eine Übersetzung der wesentlichen Verfahrenshandlungen nach Art. 68 Abs. 2 StPO daher entbehrlich gewesen sei, einzig auf die obligatorische Schulbildung des Beschwerdeführers vor rund 25 Jahren und die Behauptung, dass diese Schulbildung Deutsch als Pflichtfach beinhaltet haben soll. Der vorinstanzliche Nachweis genügender Deutschkenntnisse basiert mithin auf blosser Spekulation. Demgegenüber ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer stets in französischer Sprache mit den Behörden kommunizierte und wiederholt auf seine fehlenden Deutschkenntnisse hinwies. Davon ist mangels gegenteiliger Hinweise auszugehen, zumal als notorisch gelten kann, dass Fremdsprachenkenntnisse, sollten sie denn im Rahmen des obligatorischen Schulunterrichts tatsächlich erworben worden sein, bei Nichtgebrauch wieder verloren gehen. Auch aus dem Umstand, dass der Beschwerdeführer über eine höhere Schulbildung verfügt und als Software-Ingenieur tätig ist, kann nichts anderes abgeleitet werden. Er wurde denn auch, offensichtlich aufgrund seines Hinweises auf die mangelnden Deutschkenntnisse, rechtshilfeweise im Kanton Genf und somit in französischer Sprache einvernommen. Zudem hat er sich in der Folge anwaltlich vertreten lassen, nachdem seine Gesuche um Übersetzung des Verfügungsinhalts abschlägig beantwortet worden waren. Es widerspricht daher dem Gerechtigkeitsgedanken, dem Beschwerdeführer, gestützt auf die von der Vorinstanz angeführten Umstände, spekulativer Natur genügende Deutschkenntnisse unterstellen zu wollen. Ihm kann auch kein grobes prozessuales Verschulden vorgeworfen werden. Zum einen handelt es sich bei der Übersetzung der wesentlichen Verfahrenshandlungen nach Art. 68 Abs. 2 StPO um eine Pflicht der Strafverfolgungsbehörden, sodass nicht in erster Linie die beschuldigte Person darum nachsuchen muss, was der Beschwerdeführer im Übrigen getan hat. Zum anderen geht aus dem Dispositiv des Strafbefehls nicht hervor, dass eine Einsprachefrist besteht und wie lange diese laufen würde. Die Rechtsmittelbelehrung findet sich erst auf der dritten Seite des Strafbefehls im Kleingedruckten, wobei die Einsprachefrist nicht als Zahl, sondern in Worten geschrieben steht.  
Nach dem Gesagten darf dem Beschwerdeführer aus der dergestalt rechtsfehlerhaften Rechtsmittelbelehrung (vgl. oben E. 1.1) kein Rechtsnachteil erwachsen und die Vorinstanzen hätten seine Einsprache gegen den Strafbefehl vom 19. März 2020 materiell behandeln müssen. 
 
2.  
Der angefochtene Entscheid verletzt Bundesrecht. Die Beschwerde ist gutzuheissen. Der Entscheid ist aufzuheben und die Sache ist zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Ausgangsgemäss sind keine Gerichtskosten zu erheben und der Beschwerdeführer hat zulasten des Kantons Bern Anspruch auf eine angemessene Parteientschädigung (Art. 66 Abs. 1 und 4, Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der angefochtene Entscheid wird aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
2.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.  
Der Kanton Bern bezahlt dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren Fr. 3'000.-- Parteientschädigung. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 2. Juni 2021 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari 
 
Der Gerichtsschreiber: Matt