Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
6B_1439/2019
Urteil vom 2. Dezember 2020
Strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Denys, Präsident,
Bundesrichter Muschietti,
Bundesrichterin van de Graaf,
Gerichtsschreiber Traub.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Karl Gehler,
Beschwerdeführer,
gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, Spisergasse 15, 9001 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Grobe Verletzung der Verkehrsregeln; willkürliche Beweiswürdigung,
Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts St. Gallen, Strafkammer, vom 6. September 2019 (ST.2018.90-SK3).
Sachverhalt:
A.
A.________ überschritt am 25. Oktober 2017 auf der Autobahn A53 resp. auf einer Zubringerstrecke (Autostrasse) die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h um mindestens 36 km/h.
Das Kreisgericht See-Gaster sprach ihn der groben Verletzung der Verkehrsregeln (Art. 90 Abs. 2 SVG) schuldig und belegte ihn mit einer bedingten Geldstrafe von 20 Tagessätzen (Probezeit: zwei Jahre) und mit einer Busse von Fr. 800.-- (Urteil 10. Juli 2018).
B.
Das Kantonsgericht St. Gallen wies die Berufung von A.________ ab (Urteil vom 6. September 2019).
C.
A.________ führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und er vom Vorwurf der eventualvorsätzlichen groben Verletzung der Verkehrsregeln freizusprechen. Eventuell sei die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Erwägungen:
1.
1.1. Strittig ist, ob der Beschwerdeführer im Sinn von Art. 90 Abs. 2 SVG eine Verkehrsregel grob verletzt und dadurch eine ernstliche (ggf. auch nur abstrakte) Gefahr für die Sicherheit anderer in Kauf genommen hat. Fehlt es am (Eventual-) Vorsatz, erfordert dieser Tatbestand in subjektiver Hinsicht mindestens grobe Fahrlässigkeit (BGE 142 IV 93 E. 3.1 S. 96). Grundsätzlich ist von einer objektiv groben Verletzung der Verkehrsregeln auf ein zumindest grobfahrlässiges Verhalten zu schliessen. Die dafür vorauszusetzende Rücksichtslosigkeit ist ausnahmsweise zu verneinen, wenn besondere Umstände vorliegen, die das Verhalten subjektiv in einem milderen Licht erscheinen lassen (BGE 142 IV 93 E. 3.1; Urteil 6B_505/2020 vom 13. Oktober 2020 E. 1.1.1).
Nach ständiger Rechtsprechung sind die objektiven und grundsätzlich auch die subjektiven Voraussetzungen einer groben Verkehrsregelverletzung nach Art. 90 Abs. 2 SVG ungeachtet der konkreten Umstände zu bejahen, wenn die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf Autostrassen um 30 km/h oder mehr resp. auf Autobahnen um 35 km/h oder mehr überschritten wird. Diese Vermutung ist anhand aussergewöhnlicher Umstände widerlegbar (BGE 143 IV 508 E. 1.3 S. 512 mit Hinweisen; Urteil 6B_630/2020 vom 6. Oktober 2020 E. 3.1).
1.2. Zu den örtlichen Verhältnissen stellt die Vorinstanz fest, im betreffenden Strassenabschnitt erblicke der Fahrzeuglenker zuerst das Signal "Autostrasse" (Art. 45 Abs. 1 SSV). Es folge ein Wegweiser (Art. 51 Abs. 1 SSV), gemäss welchem für die Autobahn A53 und die Hauptstrasse nach St. Gallen geradeaus zu fahren und für die A3 rechts abzubiegen sei. Anschliessend eröffne sich auf der rechten Seite eine zweite Fahrbahn. Über der vom Beschwerdeführer befahrenen und der äusseren, neu eröffneten Fahrspur hänge je ein weiterer Wegweiser (A3 und A53 sowie Hauptstrasse nach St. Gallen resp. A3 und A53 in Gegenrichtung). An der rechten Seite des betreffenden Signalüberbaus sei das Hinweissignal "Autobahn" angebracht und unmittelbar darüber das Signal "Höchstgeschwindigkeit 60 km/h" (Art. 22 Abs. 1 SSV).
Der Beschwerdeführer bestreitet die dem Schuldspruch zugrundeliegende Feststellung, an der Stelle der Geschwindigkeitsmessung gelte eine Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h. Diese betrage, wie allgemein auf Autostrassen, 100 km/h (Art. 32 Abs. 2 SVG in Verbindung mit Art. 4a Abs. 1 lit. c und Abs. 3bis VRV).
1.3. Der Beschwerdeführer macht zunächst geltend, die Signalisationstafel "60 km/h" sei für diejenigen Automobilisten, die die Hauptspur benutzten, nicht rechtzeitig sichtbar, gerade wenn ein Liefer- oder Lastwagen vor einem fahre (vgl. Art. 103 Abs. 2 SSV). Daraus kann er indessen nichts für seinen Rechtsstandpunkt ableiten. Jeder Verkehrsteilnehmer muss die Abstände zu anderen Fahrzeugen so wählen, dass seine Sicht auf Signale und Markierungen jederzeit gewährleistet ist.
1.4. Sodann vertritt der Beschwerdeführer die Auffassung, die Signalisationstafel "60 km/h" gelte nicht spurübergreifend, sondern nur für die äussere, abbiegende Spur, die er nicht befahren habe. Dabei handle es sich um eine Ausfahrt. Die Vorinstanz schliesse aus dem Umstand, dass zuerst nur eine zweite Fahrspur eröffnet werde und diese zweite Fahrspur erst später nach rechts ausschere, auf eine Verzweigung. Die betreffende Anordnung sei indessen jeder Ausfahrt eigen, um das notwendige Abbremsen zu gewährleisten. Die Anordnung der Wegweiser und Signale - in Verbindung mit der fehlenden stufenweise Reduzierung der Höchstgeschwindigkeit (vgl. unten E. 1.5) - und die Spurführung beschränkten die Geltung des "60 km/h"-Signals auf den äusseren Fahrstreifen und zeigten an, dass auf der Hauptspur weiterhin eine Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h gelte.
Die Vorinstanz erwägt, es handle sich nicht um eine Ausfahrt mit eigenem Geschwindigkeitsregime, sondern um eine Verzweigung (Art. 1 Abs. 8 VRV). Die Fahrbahn teile sich zunächst bloss in zwei Fahrspuren auf; erst später gehe die äussere Spur in eine Rechtskurve über. Diese Situation sei für den Beschwerdeführer ohne Weiteres erkennbar gewesen. Die Abgrenzung zwischen Ausfahrt und Verzweigung bestimme sich nicht allein anhand der Linie (hier: nicht durchgezogene Leitlinie; vgl. Art. 73 Abs. 1 und 3, Art. 74 Abs. 1 SSV). Die Signalisation beziehe sich auf alle Streifen der Fahrbahn, sofern sich nicht aus ihrer Anordnung über der Fahrbahn oder aus besonderen Bestimmungen (z.B. Art. 59 Abs. 3 SSV) zweifelsfrei ergebe, dass sie nur für einzelne Fahrstreifen oder besondere Verkehrsflächen gelte (Art. 101 Abs. 4 SSV; Bericht "Einseitige Signalisation auf mehrstreifigen Strassen" der Abteilung Verkehrstechnik, Kantonspolizei, vom 4. April 2018). Weder die Wegweiser und Signale über und entlang der Fahrbahn noch die Strassenmarkierungen oder die Spurführung wiesen darauf hin, dass die rechtsseitig positionierte 60er-Tafel nur für den äusseren Fahrstreifen gelte.
Die Vorinstanz wendet die zutreffenden rechtlichen Vorgaben richtig auf die von ihr festgestellte Verkehrssituation an. In dem Moment, in welchem das streitgegenständliche "60 km/h"-Signal in das Sichtfeld des Strassenbenützers rückt und von diesem gelesen und gedeutet werden muss, ist die Erweiterung der Fahrbahn um eine zusätzliche Spur zwar bereits sichtbar. Eine Trennung der abzweigenden Fahrspur von der übrigen Fahrbahn ist aber noch nicht absehbar. Die spurübergreifende Geltung des Geschwindigkeitssignals ergibt sich zudem aus dem Umstand, dass dieses Signal am gleichen Überbau befestigt ist wie die den jeweiligen Fahrspuren zugeordneten Wegweiser. Bezöge sich die Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit nur auf die abgehende Spur, müsste dies mindestens durch eine nachgeordnete Platzierung des betreffenden Signals deutlich gemacht werden. Insgesamt besteht kein Grund, um von der Regel des Art. 101 Abs. 4 SSV abzuweichen.
1.5. Weiter rügt der Beschwerdeführer, auf der 400 Meter messenden Strecke zwischen der Anzeige "Autostrasse" und der Signalisation "60 km/h" (vgl. E. 1.2) werde die Geschwindigkeitsvorgabe nicht wie in Art. 22 Abs. 2 SSV in Verbindung mit Art. 108 Abs. 5 lit. b SSV vorgeschrieben (um jeweils 10 km/h)
stufenweise reduziert. Eine signalisierte Temporeduktion von 100 km/h direkt auf 60 km/h sei nicht zulässig. In der Praxis werde z.B. im Bereich von Baustellen (insoweit entgegen dem Wortlaut der Verordnung) eine Herabsetzung in 20 km/h-Schritten vorgenommen. Es greife zu kurz, wenn die Vorinstanz mit Hinweis auf den Vertrauensgrundsatz (Art. 26 Abs. 1 SVG) und die andernfalls Platz greifende Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausführe, auch unrechtmässige Signale und Markierungen seien verbindlich (vgl. Art. 27 Abs. 1 SVG, Art. 2 Abs. 1 SSV; BGE 128 IV 184 E. 4.2 S. 186, "schützenswerter Rechtsschein"). Denn die Verkehrssicherheit erfordere hier gerade eine abgestufte Herabsetzung der Höchstgeschwindigkeit (Verhinderung von Auffahrunfällen).
Die Vorinstanz erwägt, es frage sich zwar, ob nicht eine im Sinn von Art. 22 Abs. 2 SSV stufenweise Herabsetzung der Geschwindigkeit sinnvoll wäre. Ein besonders schwer wiegender, leicht erkennbarer Mangel der Signalisation liege jedoch nicht vor. Sie führt indessen nicht aus, weshalb im betreffenden Strassenabschnitt keine ordentlich abgestufte Geschwindigkeitsherabsetzung möglich sein sollte. Die Rechtmässigkeit der Signalisation resp. deren Vereinbarkeit mit der Verkehrssicherheit kann aber offen bleiben. Denn der Beschwerdeführer war angesichts der den Umständen nach spurübergreifenden Signalisation verpflichtet, das Tempo jedenfalls soweit zu reduzieren, wie dies ohne Gefährdung seiner selbst oder anderer Verkehrsteilnehmer möglich war. Dies hat er nicht getan. Der objektive Tatbestand von Art. 90 Abs. 2 SVG ist daher im Ergebnis erfüllt.
In diesem Zusammenhang wirft der Beschwerdeführer der Vorinstanz vor, sie habe seine Aussage, im Bereich der Geschwindigkeitsmessung gar noch beschleunigt zu haben, willkürlich dahin ausgelegt, er habe auf Höhe des "60 km/h"-Signals diese Geschwindigkeit erst eingehalten, um dann auf das gemessene Tempo zu beschleunigen. Aufgrund des Gesagten hält das angefochtene Urteil auch dann stand, wenn diese Bestreitung zuträfe.
1.6. Der Beurteilung des subjektiven Tatbestands legt die Vorinstanz die Rechtsprechung zugrunde, wonach ab einem bestimmten Mass an Geschwindigkeitsüberschreitung von (Eventual-) Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit auszugehen ist, sofern nicht besondere Umstände vorliegen (vgl. oben E. 1.1). Das Vorbringen des Beschwerdeführers, die Tafel "60 km/h" sei für einen hinter einem grossen Fahrzeug fahrenden Lenker nicht sichtbar, kontert die Vorinstanz mit der Feststellung, darauf komme es nicht an, da der Beschwerdeführer bei Befragungen angegeben habe, es sei ihm bewusst gewesen, dass sich auf der rechten Seite ein Geschwindigkeitssignal befinde; dieses sei für ihn, der nicht auf der äusseren Spur gefahren sei, aber nicht relevant gewesen. Davon durfte er nach dem Gesagten (E. 1.4) aber nicht ausgehen. Ebensowenig kann sich der Beschwerdeführer darauf berufen, ein Fahrzeug vor ihm habe seine Sicht versperrt (E. 1.3). Mithin liegen keine besonderen Umstände vor, so dass die Vermutung zum Tragen kommt, es liege ein rechtserhebliches Verschulden vor.
Damit ist das im Hinblick auf die Strafzumessung Vorgebrachte - infolge rechtswidriger Signalisation komme allenfalls ein leichtes Verschulden resp. eine einfache Verkehrsregelverletzung in Betracht - gegenstandslos.
2.
Die Beschwerde ist unbegründet. Ausgangsgemäss trägt der Beschwerdeführer die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Der Beschwerdeführer trägt die Gerichtskosten von Fr. 3'000.--.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht St. Gallen, Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 2. Dezember 2020
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Denys
Der Gerichtsschreiber: Traub