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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_40/2022  
 
 
Urteil vom 4. August 2022  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Stadelmann, 
nebenamtlicher Bundesrichter Kradolfer, 
Gerichtsschreiberin Dormann. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Regula Schmid, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, 
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 30. November 2021 (IV 2020/209). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die 1962 geborene A.________ meldete sich im November 2012 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Abklärungen - u.a. Einholung des polydisziplinären Gutachtens der Ärztliches Begutachtungsinstitut GmbH (ABI) vom 5. April 2016 - verneinte die IV-Stelle des Kantons St. Gallen mit Verfügung vom 13. Oktober 2016 einen Leistungsanspruch. Nach Eingang weiterer Unterlagen widerrief die IV-Stelle die Verfügung vom 13. Oktober 2016. Sie veranlasste insbesondere ein zweites Gutachten der ABI vom 22. November 2018, in dem für angepasste Tätigkeiten eine Arbeitsfähigkeit von 80 % attestiert wurde. Mit Verfügung vom 26. Juli 2019 wies sie das Leistungsgesuch erneut ab. Nach Erhebung einer Beschwerde zog die Verwaltung (lite pendente) auch diese Verfügung in Wiedererwägung. Nach weiteren Abklärungen und Durchführung des Vorbescheidverfahrens verneinte die IV-Stelle mit Verfügung vom 24. August 2020 abermals einen Leistungsanspruch. 
 
B.  
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 30. November 2021 ab. 
 
C.  
A.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragen, unter Aufhebung des Entscheids vom 30. November 2021 und der Verfügung vom 24. August 2020 sei ihr eine ganze Invalidenrente ab August 2013, eventuell eine ganze Rente von August 2013 bis September 2017 und eine halbe Rente ab Oktober 2017, zuzusprechen; eventuell sei die Sache unter Anordnung einer Begutachtung bei einer neutralen Gutachterstelle an die IV-Stelle zurückzuweisen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.  
Anspruch auf eine Rente haben Versicherte, die u.a. während eines Jahres ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich mindestens 40 % arbeitsunfähig gewesen sind (Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG in der hier anwendbaren, bis Ende 2021 geltenden Fassung). Der Rentenanspruch ist abgestuft: Bei einem Invaliditätsgrad von mindestens 40 % resp. 50 %, 60 % oder 70 % besteht Anspruch auf eine Viertelsrente resp. halbe Rente, Dreiviertelsrente oder ganze Rente (Art. 28 Abs. 2 IVG in der bis Ende 2021 geltenden Fassung). Für die Bestimmung des Invaliditätsgrades wird das Erwerbseinkommen, das die versicherte Person nach Eintritt der Invalidität und nach Durchführung der medizinischen Behandlung und allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihr zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte, in Beziehung gesetzt zum Erwerbseinkommen, das sie erzielen könnte, wenn sie nicht invalid geworden wäre (Art. 16 ATSG i.V.m. Art. 28a IVG in der bis Ende 2021 geltenden Fassung). 
 
3.  
Das kantonale Gericht hat den beiden ABI-Gutachten (samt Stellungnahmen vom 4. Februar und 23. März 2020) Beweiskraft beigemessen und gestützt darauf festgestellt, dass die Beschwerdeführerin von April bis mindestens Juni 2013 und von Januar bis längstens September 2017 vollständig arbeitsunfähig gewesen sei. Während der übrigen Zeit sei ihr eine leidensangepasste Tätigkeit zu 80 % zumutbar gewesen. Für die Bemessung des Invaliditätsgrades hat die Vorinstanz den statistischen Zentralwert der Hilfsarbeiterinnenlöhne als Ausgangswert für die beiden Vergleichseinkommen betrachtet und einen Prozentvergleich vorgenommen. Dabei hat sie einen leidensbedingten Abzug von höchstens 10 % berücksichtigt. Beim resultierenden Invaliditätsgrad von maximal 28 % hat sie einen Rentenanspruch verneint. Weiter hat sie erwogen, mit den vorübergehenden vollständigen Arbeitsunfähigkeiten sei das Wartejahr (Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG in der bis Ende 2021 geltenden Fassung) nicht erfüllt worden, weshalb auch kein Anspruch auf eine befristete Rente bestehe. 
 
Die Beschwerdeführerin bestreitet die Beweiskraft der ABI-Gutachten und macht eine höhere Arbeitsunfähigkeit geltend. 
 
4.  
 
4.1. Bei der Beurteilung der Arbeits (un) fähigkeit stützt sich die Verwaltung und im Beschwerdefall das Gericht auf Unterlagen, die von ärztlichen und gegebenenfalls auch anderen Fachleuten zur Verfügung zu stellen sind. Ärztliche Aufgabe ist es, den Gesundheitszustand zu beurteilen und dazu Stellung zu nehmen, in welchem Umfang und bezüglich welcher Tätigkeiten die versicherte Person arbeitsunfähig ist. Hinsichtlich des Beweiswertes eines Arztberichtes ist entscheidend, ob dieser für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge sowie der medizinischen Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen der Experten begründet sind (BGE 140 V 193 E. 3.2; 134 V 231 E. 5.1; 125 V 351 E. 3a).  
 
4.2.  
 
4.2.1. Die Beschwerdeführerin argumentiert, einige der an den ABI-Gutachten beteiligten Experten seien auch für andere Gutachterstellen tätig, wodurch das Zufallsprinzip bei der Gutachtensvergabe ausgehebelt werde. Damit macht sie auch nicht ansatzweise geltend, dass die ABI-Gutachten unter Verletzung von Art. 72bis IVV (SR 831.201; in der bis Ende 2021 geltenden Fassung) veranlasst worden sein sollen. Vielmehr kritisiert sie die Praxis des BSV beim Abschluss von Vereinbarungen mit Gutachterstellen (im Sinne von Art. 72bis IVV). Darauf ist hier nicht einzugehen, zumal damit die Beweiskraft der ABI-Gutachten nicht substanziiert in Abrede gestellt wird. Das gilt auch hinsichtlich des pauschalen Vorwurfs, dass aus der Begutachtung "nicht überraschend (...) die übliche diagnostizierte Arbeitsfähigkeit von 80 % (resultierte) ", und bezüglich des Hinweises, dass ein kantonales Gericht 2015 das Gutachten eines der hier involvierten Experten als unbrauchbar erkannt habe. Soweit die Beschwerdeführerin geltend macht, zwei Experten seien nicht (mehr) im "SIM-Verzeichnis" aufgeführt, wird deren fachliche Qualifikation nicht infrage gestellt; die Betroffenen sind denn auch im Medizinalberuferegister des Bundesamtes für Gesundheit (www.medregom.admin.ch) registriert.  
 
 
4.2.2. Entgegen der - nicht näher begründeten - Auffassung der Beschwerdeführerin ist eine zweite Expertise der gleichen Gutachterstelle nicht bereits deshalb "wertlos", weil sie nicht von den gleichen Experten erstattet wurde, die das erste Gutachten verfasst hatten. In der zweiten ABI-Expertise resp. in den nachträglichen Stellungnahmen legten die Gutachter nachvollziehbar dar, inwiefern und weshalb sie den Einschätzungen im ersten ABI-Gutachten folgten. Insbesondere wurde (zutreffend) ausgeführt, dass bei der ersten Begutachtung in orthopädischer Hinsicht zwar keine vertiefte bildgebende Abklärung mittels SPECT-CT erfolgt, aber (neben dem Röntgenbefund eines Bruchs des Verbindungsstabs) eine Instabilität erkannt und bei der Arbeitsfähigkeitsschätzung berücksichtigt worden war.  
Weder der Umstand, dass die "imposante" Liste im zweiten ABI-Gutachten mehr und andere Diagnosen mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit enthält als jene im ersten ABI-Gutachten, noch die bei der zweiten Begutachtung festgestellte Verschlechterung des Gesundheitszustandes in kardiologischer Hinsicht hat zwingend eine quantitativ (weiter) verminderte Arbeitsfähigkeit zur Folge. Die kardiologische resp. internistische Problematik wurde im zweiten ABI-Gutachten insoweit berücksichtigt, als der fallführende Experte für leidensangepasste (d.h. körperlich leichte) Tätigkeiten eine Einschränkung von 20 % attestierte. Zwar bezifferte er die Einschränkung in diesem Zusammenhang an einer Stelle auf 50 %. Indessen beantwortete er die konkrete Frage nach der Arbeitsfähigkeit bezogen auf ein Pensum von 100 % mit "80 %", welche Einschätzung auch in die vom betroffenen Experten mitunterzeichnete Konsensbeurteilung einfloss. Damit ist auch die nachträgliche Erklärung, dass es sich bei der Nennung von 50 % um einen "Verschreiber" gehandelt habe, plausibel. 
Die abweichenden Einschätzungen der behandelnden Dr. med. B.________ - soweit sie sich überhaupt auf leidensangepasste Tätigkeiten beziehen - sprechen ebenfalls nicht gegen die Beweiskraft des zweiten ABI-Gutachtens: Diesbezüglich ist sowohl dem Unterschied zwischen Behandlungs- und Begutachtungsauftrag (vgl. BGE 125 V 351 E. 3b/bb und cc; Urteil 9C_561/2018 vom 8. Februar 2019 E. 5.3.2.2) als auch dem Ermessensspielraum der Experten (vgl. BGE 137 V 210 E. 3.4.2.3; Urteil 9C_397/2015 vom 6. August 2015 E. 5.3) Rechnung zu tragen. Schliesslich lässt auch das von der Beschwerdeführerin angerufene Dokument "IV-act. 85" nicht auf eine anhaltende Arbeitsunfähigkeit bis mindestens September 2017 schliessen: Nach einer kurzen "Fallzusammenfassung" enthält es die Einschätzung des Regionalen Ärztlichen Dienstes, wonach die Arbeitsfähigkeit unter invalidenversicherungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht eingeschränkt sei. 
 
4.3. Nach dem Gesagten genügen die ABI-Gutachten (samt nachträglicher Stellungnahmen) den Anforderungen an die Beweiskraft (vgl. vorangehende E. 4.1). Die darauf beruhenden vorinstanzlichen Feststellungen betreffend die Arbeitsfähigkeit sind nicht offensichtlich unrichtig, weshalb sie für das Bundesgericht verbindlich bleiben (vgl. vorangehende E. 1). Die Beschwerde ist unbegründet.  
 
5.  
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 4. August 2022 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Die Gerichtsschreiberin: Dormann