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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
6B_1304/2018  
 
 
Urteil vom 5. Februar 2019  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Denys, Präsident, 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, 
Bundesrichter Oberholzer, 
Gerichtsschreiber Briw. 
 
Verfahrensbeteiligte 
X.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt André Kuhn, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Ungültigkeit des Strafbefehls; Fahren ohne Berechtigung, Verletzung der Verkehrsregeln durch Telefonieren, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, 3. Kammer, vom 8. November 2018 (SST.2018.122). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die Assistenzstaatsanwältin Lenzburg-Aarau bestrafte X.________ mit Strafbefehl vom 9. Februar 2017 wegen Führens eines Motorfahrzeugs ohne den erforderlichen Führerausweis und Verwendens eines Telefons ohne Freisprechanlage während der Fahrt mit einem Lieferwagen am 1. September 2016. Infolge Einsprache wurde der Strafbefehl zur Anklageschrift. 
 
B.  
Der Präsident des Bezirksgerichts Lenzburg verurteilte X.________ am 1. November 2017 anklagegemäss zu bedingter Geldstrafe und Busse. 
X.________ beantragte in seiner Berufung, das bezirksgerichtliche Urteil aufzuheben und das Verfahren an dieses zurückzuweisen, damit es die Kosten regle und das Verfahren zur Durchführung eines neuen Vorverfahrens an die Staatsanwaltschaft zurückweise; eventualiter sei er von den Anklagevorwürfen freizusprechen. Die Staatsanwaltschaft beantragte die Abweisung der Berufung. 
Das Obergericht des Kantons Aargau erkannte ihn am 8. November 2018 anklagegemäss schuldig und verurteilte ihn zu einer bedingten Geldstrafe von 80 Tagessätzen zu Fr. 130.-- (Fr. 10'400.--) sowie zu Fr. 2'700.-- Busse (Fr. 2'600.-- Verbindungsbusse und Fr. 100.-- Ordnungsbusse; ersatzweise 21 Tage Freiheitsstrafe). 
 
C.  
X.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, das vorinstanzliche Urteil aufzuheben und das Verfahren an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie die Kosten und Entschädigungen neu regle und das Verfahren zur Durchführung eines neuen Verfahrens an die Staatsanwaltschaft zurückweise; eventualiter sei er in beiden Anklagepunkten freizusprechen; unter Kosten- und Entschädigungsfolgen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Der Beschwerdeführer macht im Ergebnis geltend, der Strafbefehl der Assistenzstaatsanwältin sei wegen Unzuständigkeit bzw. Kompetenzüberschreitung nichtig (Beschwerde S. 10).  
 
1.2. Der Beschwerdeführer erhob vor der Erstinstanz die formelle Einwendung der Ungültigkeit des Strafbefehls vom 9. Februar 2017 (erstinstanzliches Urteil S. 3) und machte vor der Vorinstanz geltend, der Strafbefehl sei ungültig bzw. nichtig (Urteil S. 4).  
Die Vorinstanz stellt fest (Art. 105 Abs. 1 BGG), der Strafbefehl vom 9. Februar 2017 sei von einer Assistenzstaatsanwältin unterzeichnet worden. Nach Einsprache habe die Staatsanwaltschaft ihn im Sinne von Art. 356 Abs. 1 StPO als Anklage ans Gericht überwiesen. Die Überweisung sei vom Staatsanwalt unterzeichnet worden. Die Strafkompetenz von Assistenzstaatsanwälten beschränke sich im Kanton Aargau de lege lata auf das Übertretungsstrafrecht. Für den Erlass eines Strafbefehls in Vergehensstrafsachen seien ausschliesslich Staatsanwälte zuständig (§ 7 [sic] des Einführungsgesetzes zur Schweizerischen Strafprozessordnung [EG StPO/AG; AGS 251.200]). 
Der Fall unterscheide sich in einem wesentlichen Punkt vom in BGE 142 IV 70 beurteilten Sachverhalt, in welchem es - soweit ersichtlich - keine von einem Staatsanwalt unterzeichnete Überweisung der Anklageschrift gegeben habe. Dieser Umstand sei entscheidend, weshalb es sich nicht rechtfertige, gestützt auf BGE 142 IV 70 unbesehen der konkreten Umstände den Schluss zu ziehen, die Erstinstanz hätte den Strafbefehl gemäss Art. 356 Abs. 5 StPO aufheben müssen. Ein Mangel wäre geheilt bzw. behoben. Der Strafbefehl stelle lediglich einen Vorschlag zur aussergerichtlichen Erledigung dar. Der Beschwerdeführer lege nicht dar, inwiefern sich das Vorgehen zu seinem Nachteil ausgewirkt habe. Eine Rückweisung führte zu einem formalistischen Leerlauf, weshalb davon auch bei einem schweren Mangel abzusehen wäre. Das gelte umso mehr, als das Gericht den Strafbefehl eigentlich weder beurteilen noch aufheben könne, weil dieser mit der Einsprache dahin falle (Urteil 6B_434/2016 vom 27. März 2017 E. 1.2). Von einer Nichtigkeit könne keine Rede sein. 
 
1.3. Das Bundesgericht hatte mit Urteil 6B_745/2017 vom 12. März 2018 E. 1.1 eine Beschwerde abgewiesen, mit welcher die fehlende Befugnis der Assistenzstaatsanwältin zur Ausübung der Verfahrensleitung und Durchführung der Schlusseinvernahme gerügt worden war, und zwar aufgrund der konkreten prozessualen Konstellation und der Einstufung von Art. 317 StPO als Ordnungsvorschrift; Nichtigkeit oder Unverwertbarkeit der Verfahrenshandlungen liess sich deshalb nicht annehmen. Anders verhält es sich in casu.  
 
1.4. Die Strafrechtspflege steht einzig den vom Gesetz bestimmten Behörden zu (Art. 2 Abs. 1 StPO). Strafverfahren können nur in den vom Gesetz vorgesehenen Formen durchgeführt und abgeschlossen werden (Art. 2 Abs. 2 StPO). Strafverfolgungsbehörden sind die Polizei, die Staatsanwaltschaft und die Übertretungsstrafbehörden (Art. 12 StPO; zu letzteren BGE 142 IV 70). Gemäss Art. 14 Abs. 1 StPO können die Kantone die Funktionen der Strafverfolgungsbehörden bestimmen (BGE 142 IV 70 E. 3.2.1 S. 76). Wie diese Behörden im Einzelfall zusammengesetzt sind, wie sie bezeichnet oder welche sachlichen Zuständigkeiten ihnen zugewiesen werden, bleibt weitgehend Bund und Kantonen überlassen (Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1085 S. 1102, Ziff. 1.5.1.3, und S. 1134, Ziff. 2.2.1.1). Es ist deshalb davon auszugehen, dass die Kantone gemäss Art. 14 Abs. 1 StPO Assistenzstaatsanwälte zum Erlass von Strafbefehlen zuständig erklären können.  
 
1.5. Gemäss § 8 Abs. 2 EG StPO/AG führen Assistenz-Staatsanwälte auf Anweisung der Staatsanwälte Untersuchungshandlungen, insbesondere Zeugeneinvernahmen, und Übertretungsstrafverfahren durch.  
Gemäss § 36 EG StPO/AG (Randtitel: "Strafbefehlsverfahren; Zuständigkeit") erlassen die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte die Strafbefehle (Abs. 1); die Leitung der Oberstaatsanwaltschaft bezeichnet die Assistenz-Staatsanwältinnen und Assistenz-Staatsanwälte, die namens einer Staatsanwaltschaft Strafbefehle für Übertretungen oder Vergehen erlassen können (Abs. 2). 
Nach dieser Gesetzgebung in der unbestrittenen Auslegung durch die kantonalen Gerichte sind Assistenzstaatsanwälte nicht zur selbständigen Durchführung von Vergehensstrafverfahren zuständig. Wie die Erstinstanz klarer als die Vorinstanz (Urteil S. 5) ausführt, wird der Strafbefehl nach ständiger Rechtsprechung des Obergerichts des Kantons Aargau durch Einsprache hinfällig. Unterzeichne in der Folge der Staatsanwalt die Überweisungsverfügung, werde der Strafbefehl dem Staatsanwalt zugeordnet bzw. erhebe der Staatsanwalt den Strafbefehl zur Anklage, was den formellen Anforderungen genüge. Der Strafbefehl bzw. die Überweisungsverfügung seien gültig, und die Anklagepunkte seien in der Folge materiell zu prüfen (erstinstanzliches Urteil S. 3). 
Diese vorinstanzliche Rechtsprechung verletzt Bundesrecht und kantonales Recht. Die Assistenzstaatsanwältin ist einzig zur Durchführung von Übertretungsstrafverfahren zuständig. Fahren ohne Berechtigung im Sinne von Art. 95 Abs. 1 lit. a SVG ist ein Vergehenstatbestand. Der Strafbefehl war insoweit ungültig. Die Erstinstanz hatte den Strafbefehl aufzuheben und den Fall an die Staatsanwaltschaft zurückzuweisen (Art. 356 Abs. 5 StPO). Über die Gültigkeit "entscheidet" das erstinstanzliche Gericht (Art. 356 Abs. 2 StPO), d.h. es "muss" die Gültigkeit prüfen (Botschaft, a.a.O., S. 1291 ad Art. 360). Durch die staatsanwaltschaftliche Überweisungsbefugnis wird ein ungültiger Strafbefehl nicht in einen gültigen konvertiert. 
Obwohl ein Strafbefehl im Falle der Einsprache nach der Formulierung im von der Vorinstanz zitierten Urteil 6B_434/2016 vom 27. März 2017 E. 1.2 "dahinfällt", sieht Art. 356 Abs. 2 StPO "dennoch" vor, dass die Gültigkeit des Strafbefehls im gerichtlichen Verfahren vorfrageweise beurteilt werden muss und der Strafbefehl bei "Mängeln formaler Natur" grundsätzlich an die Staatsanwaltschaft zurückzuweisen ist. 
 
1.6. Zuständig ist eine Behörde, wenn sie im konkreten Fall berechtigt und verpflichtet ist, sich mit der in Frage stehenden Strafsache zu befassen. Zuständigkeitsvorschriften haben insbesondere den in ein Strafverfahren verwickelten Bürger vor Übergriffen unzuständiger Behörden zu bewahren. Die Regeln über die Zuständigkeit sind daher zwingender Natur. Vor Eintreten auf eine Strafsache hat die angesprochene Behörde ihre Zuständigkeit von Amtes wegen zu prüfen (SCHMID/JOSITSCH, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 3. Aufl. 2017, Rz. 398 und 399).  
Es ist belanglos, dass ein Staatsanwalt die Überweisungsverfügung zum ungültigen Strafbefehl unterzeichnete. Er hat damit lediglich seine Kontrollfunktion nicht wahrgenommen. Entgegen der vorinstanzlichen Mehrheitsmeinung ist es auch keineswegs entscheidwesentlich, dass in BGE 142 IV 70 keine Überweisungsverfügung in den Akten gelegen haben soll (oben E. 1.2; was der Beschwerdeführer mit einem zulässigen Novum [Art. 99 BGG] bestreitet). Bei Verfahrenshandlungen nicht zuständiger Behörden stellt sich unmittelbar die Frage einer Nichtigkeit. Angesichts des Grundsatzes der Gültigkeit von Verfahrenshandlungen (SCHMID/JOSITSCH, a.a.O., Rz. 1440) gelten nur krass fehlerhafte Verfahrenshandlungen als nichtig. Nichtigkeit nach der Evidenztheorie (vgl. Urteil 6S.4/2006 vom 26. Juni 2006 E. 3) wird in der zu beurteilenden Konstellation nicht anzunehmen sein (vgl. BGE 129 I 361 E. 2.1 S. 363 f.; Urteil 6B_120/2018 vom 31. Juli 2018 E. 2.2). Das Gesetz sieht Ungültigkeit vor (Art. 356 Abs. 2 StPO). 
 
1.7. Die Beschwerde ist - in diesem Punkt mit der vorinstanzlichen Minderheitsmeinung (Urteil S. 6) - gutzuheissen.  
 
1.7.1. Der Beschwerdeführer begründet sein Eventualbegehren auf Freispruch von der Anklage des Verwendens eines Telefons ohne Freisprechanlage während der Fahrt nicht (Art. 42 Abs. 2 BGG), sodass darauf materiell nicht einzutreten ist. Vor der Vorinstanz anerkannte er diesen Vorwurf (Urteil S. 10). Es handelt sich dabei um einen Übertretungstatbestand (Art. 90 Abs. 1 i.V.m. Art. 31 Abs. 1 SVG und Art. 3 Abs. 1 VRV sowie Ziff. 311 Anhang OBV), zu dessen Verfolgung die Assistenzstaatsanwältin zuständig war.  
 
1.7.2. Der Strafbefehl erweist sich als teilungültig. Die Annahme einer solchen Teilungültigkeit kommt in Betracht, wenn mehrere Lebensvorgänge oder Taten im prozessualen Sinn zu beurteilen sind, die einer separaten Erledigung zugänglich sind (vgl. zur Publikation bestimmtes Urteil 6B_1346/2017 vom 20. September 2018 E. 1.3.1). Das trifft hier zu (zur Teilrechtskraft bei partieller Einsprache Urteil 6B_225/2017 vom 11. Dezember 2017 E. 1.2.1). Die Teilungültigkeit beschlägt den angeklagten Vergehenstatbestand. Auf das Eventualbegehren zum Schuldspruch wegen Fahrens ohne Berechtigung im Sinne von Art. 95 Abs. 1 lit. a SVG ist materiell ebenfalls nicht einzutreten.  
 
2.  
Das Urteil ist aufzuheben, soweit darauf einzutreten ist, und die Sache zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Auf eine Vernehmlassung ist bei dieser prozessualen Sachlage zu verzichten (vgl. ceteris paribus Urteil 6B_276/2018 vom 24. September 2018 E. 2.2.2). Es sind keine Kosten aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton Aargau ist zu verpflichten, dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 BGG). 
 
 
  
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist, das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 8. November 2018 aufgehoben und die Sache zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
2.  
Es werden keine Kosten erhoben. 
 
3.  
Der Kanton Aargau wird verpflichtet, den Beschwerdeführer mit Fr. 3'000.-- zu entschädigen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 3. Kammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 5. Februar 2019 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Denys 
 
Der Gerichtsschreiber: Briw