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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_161/2022, 9C_162/2022  
 
 
Urteil vom 7. Juli 2022  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Stadelmann, präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichterin Moser-Szeless, 
nebenamtliche Bundesrichterin Bechaalany, 
Gerichtsschreiberin Dormann. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Ausgleichskasse des Kantons Thurgau, Rechts- und Einsprachedienst, St. Gallerstrasse 11, 8500 Frauenfeld, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Marcel Strehler, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Ergänzungsleistung zur AHV/IV, 
 
Beschwerden gegen die Entscheide des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 16. Februar 2022 (VV.2021.68/E und VV.2021.113/E). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die im September 1997 geborene A.________ bezieht seit dem 1. November 2016 Ergänzungsleistungen (nachfolgend: EL) zu einer ganzen Rente der Invalidenversicherung. Am 23. Mai 2017 wurde sie Mutter. Ab dem 1. Juni 2017 lebte sie mit ihrem Kind bei der Institution B.________. Die Ausgleichskasse des Kantons Thurgau (nachfolgend: Ausgleichskasse) legte mit je zwei Einspracheentscheiden vom 1. Februar und 18. März 2021 die jährlichen EL der A.________ für die Zeit vom 1. Juni 2017 bis zum 31. Januar 2019, vom 1. Februar bis zum 31. Dezember 2019, vom 1. Januar bis zum 31. Dezember 2020 und vom 1. Januar bis zum 31. Dezember 2021 fest. Dabei nahm die Verwaltung für die Versicherte keine "EL-Heimberechnung", sondern eine "EL-Mietberechnung" vor. 
 
B.  
Die Beschwerden betreffend die Zeit vom 1. Juni 2017 bis zum 31. Januar 2019 und das Jahr 2020 einerseits (Verfahren VV.2021.68/E) sowie das Jahr 2021 anderseits (Verfahren VV.2021.113/E) hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau mit zwei Entscheiden vom 16. Februar 2022 teilweise gut. Es hob die entsprechenden Einspracheentscheide auf und wies die Sache zur Neuberechnung der jährlichen EL im Sinne der Erwägungen unter Berücksichtigung einer Tagestaxe von höchstens Fr. 135.- gemäss § 6 Abs. 1 Ziff. 5 der thurgauischen Verordnung des Regierungsrates vom 11. Dezember 2007 zum Gesetz über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (TG ELV; RB 831.31) an die Ausgleichskasse zurück; im Übrigen wies es die Beschwerden ab. 
 
C.  
Die Ausgleichskasse beantragt mit (separaten) Beschwerden in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten, die Entscheide vom 16. Februar 2022 seien dahingehend zu korrigieren, als für die Berechnung der jährlichen EL vom 1. Juni 2020 bis zum 31. Dezember 2021 eine Tagestaxe von höchstens Fr. 120.- gemäss § 6 Abs. 1 Ziff. 4 TG ELV zu berücksichtigen sei. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Die beiden Beschwerden betreffen die gleichen Parteien und den gleichen Sachverhalt; zudem wird darin die gleiche Rechtsfrage aufgeworfen. Es rechtfertigt sich daher, die Verfahren 9C_161/2022 und 9C_162/2022 zu vereinigen (Art. 24 BZP [SR 273] i.V.m. Art. 71 BGG).  
 
1.2. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ist zulässig gegen Entscheide, die das Verfahren abschliessen (Art. 90 BGG). Gegen selbständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide, die nicht die Zuständigkeit oder ein Ausstandsbegehren betreffen, ist die Beschwerde zulässig, wenn sie einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können, oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (Art. 93 Abs. 1 BGG).  
Die angefochtenen Rückweisungsentscheide verpflichten die Ausgleichskasse, die EL unter Berücksichtigung einer maximalen Tagestaxe von Fr. 135.- neu festzulegen. Ob es sich dabei (materiell) um End- oder Zwischenentscheide handelt, kann offenbleiben. Die Entscheide beinhalten einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil für die Ausgleichskasse, da ihr Beurteilungsspielraum dadurch, dass § 6 Abs. 1 Ziff. 5 TG ELV als einschlägig erklärt wird, wesentlich eingeschränkt wird, ohne dass sie eine ihres Erachtens rechtswidrige neue Verfügung selber anfechten könnte (vgl. BGE 140 V 282 E. 4.2 mit Hinweisen). Auf die Beschwerde ist (grundsätzlich) einzutreten. 
 
2.  
 
2.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1). Soweit die Vorinstanz kantonales Recht anzuwenden hatte, kann (abgesehen von den hier nicht interessierenden Art. 95 lit. c-e BGG) nur geltend gemacht werden, der angefochtene Entscheid verstosse gegen Normen des Bundesrechts oder des Völkerrechts (Art. 95 lit. a und b BGG). Im Übrigen kann die Auslegung und Anwendung des kantonalen Rechts lediglich im Lichte der verfassungsmässigen Rechte und Grundsätze, namentlich des Willkürverbots (Art. 9 BV), geprüft werden (BGE 141 V 36 E. 1.3; 138 I 143 E. 2; 137 V 143 E. 1.2; 134 I 153 E. 4.2.2; 134 II 349 E. 3). Die Verletzung von Grundrechten (wie auch von kantonalem und interkantonalem Recht) prüft das Bundesgericht nur insofern, als eine solche Rüge in der Beschwerde präzise vorgebracht und begründet worden ist; es gilt eine qualifizierte Rügepflicht (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 138 I 274 E. 1.6; 137 II 305 E. 3.3).  
Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, wie die Vorinstanz ihn festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt bzw. vom Bundesgericht von Amtes wegen berichtigt oder ergänzt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht; diese Rüge setzt zudem voraus, dass die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.2. Willkür liegt vor, wenn der angefochtene Entscheid offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwider läuft. Das Bundesgericht hebt einen Entscheid jedoch nur auf, wenn nicht bloss die Begründung, sondern auch das Ergebnis unhaltbar ist; dass eine andere Lösung ebenfalls als vertretbar oder gar zutreffender erscheint, genügt nicht (BGE 147 IV 73 E. 4.1.2; 142 V 513 E. 4.2; 139 III 334 E. 4.2.5; Urteil 8C_441/2021 vom 24. November 2021 E. 1.4, nicht publ. in: BGE 148 V 114).  
 
3.  
 
3.1. Auf den 1. Januar 2021 trat das revidierte Bundesgesetz über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (ELG; SR 831.30) in Kraft (EL-Reform; Änderung vom 22. März 2019, AS 2020 585, BBl 2016 7465). Nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts (statt vieler: BGE 144 V 210 E. 4.3.1; 129 V 354 E. 1 mit Hinweisen) sind die Bestimmungen des ELG für den EL-Anspruch bis zum 31. Dezember 2020 in der bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Fassung und für den Anspruch ab dem 1. Januar 2021 in der seither geltenden Fassung anwendbar. Vorbehalten bleiben die Übergangsbestimmungen zur Änderung vom 22. März 2019 (EL-Reform), wonach insbesondere das bisherige Recht unter bestimmten Voraussetzungen noch während dreier Jahre weitergilt.  
 
3.2. Die jährliche Ergänzungsleistung entspricht (grundsätzlich) dem Betrag, um den die anerkannten Ausgaben die anrechenbaren Einnahmen übersteigen (Art. 9 Abs. 1 ELG sowohl in der bis Ende 2020 als auch in der seither geltenden Fassung). Art. 10 ELG unterscheidet (nach wie vor) für die anerkannten Ausgaben zwischen zu Hause lebenden Personen (Abs. 1) und in Heimen oder Spitälern lebenden Personen (Abs. 2). Laut Art. 10 Abs. 2 ELG (in der bis Ende 2020 resp. seither geltenden Fassung) werden bei Personen, die dauernd oder länger als drei Monate in einem Heim oder Spital leben, insbesondere als Ausgaben anerkannt: (a) die Tagestaxe (für die Tage, die vom Heim oder Spital in Rechnung gestellt werden); die Kantone können die Kosten begrenzen, die wegen des Aufenthaltes in einem Heim oder Spital berücksichtigt werden; sie sorgen dafür, dass durch den Aufenthalt in einem anerkannten Pflegeheim in der Regel keine Abhängigkeit von der Sozialhilfe entsteht; (b) ein vom Kanton zu bestimmender Betrag für persönliche Auslagen.  
 
3.3. § 6 TG ELV regelt die maximal anrechenbare Tagestaxe für in Heimen oder Spitälern lebende Personen. Er differenziert zwischen einem Aufenthalt in einem inner- oder ausserkantonalen Spital, anerkannten Alters- oder Pflegeheim (Abs. 1a) und einem solchen in einem anderen inner- oder ausserkantonal anerkannten Heim (Abs. 1). Die maximale Tagestaxe beträgt bei einem Kinderheim oder einer heimähnlichen Institution wie Pflegefamilie, die eine professionelle Betreuung von Kindern garantiert, Fr. 205.- (§ 6 Abs. 1 Ziff. 1 TG ELV), bei einem von der Politischen Gemeinde bewilligten Betreuungs- und Pflegeangebot Fr. 120.- (§ 6 Abs. 1 Ziff. 4 TG ELV) und bei einem Wohnheim für Invalide (Menschen mit Behinderung), exklusive Hilflosenentschädigung, Fr. 135.- (§ 6 Abs. 1 Ziff. 5 TG ELV).  
 
4.  
Die Vorinstanz hat festgestellt, dass die Versicherte am 1. Juni 2017 zusammen mit ihrem Sohn in die Institution B.________ eingetreten sei. Im Februar 2019 habe sie in die Aussenwohngruppe der Institution B.________ gewechselt, während ihr Sohn im Kinderhaus der Institution B.________ verblieben sei. Vom 16. April bis zum 11. Juni 2019 habe sich die Versicherte stationär in der Klinik C.________ AG aufgehalten; anschliessend sei sie in das Jugendhaus der Institution B.________ zurückgekehrt. Seit dem 1. Juli (nicht Juni) 2020 lebe sie in einer Wohnform des Vereins D.________, der dafür unter Gemeindeaufsicht stehe. Die Institution B.________ verfüge über eine Bewilligung des Departements für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau, der Verein D.________ über eine solche der für ein Kleinheim zuständigen kommunalen Stelle. Damit sei von einem Heimaufenthalt im EL-rechtlichen Sinne auszugehen; zudem sei die subjektive Heimbedürftigkeit der Versicherten ausgewiesen. Auf dieser Grundlage hat das kantonale Gericht entschieden, dass für die Ermittlung der EL eine "Heimberechnung" (im Sinne von Art. 10 Abs. 2 ELG) vorzunehmen sei. Da es sich bei der Versicherten nicht um ein Pflegekind handle, sei nicht die maximale Tagestaxe von Fr. 205.- gemäss § 6 Abs. 1 Ziff. 1 TG ELV, sondern jene von Fr. 135.- gemäss § 6 Abs. 1 Ziff. 5 TG ELV (Wohnheim für Invalide) sachgerecht und anwendbar. 
 
5.  
 
5.1. Die vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen bleiben unbestritten und für das Bundesgericht verbindlich (vgl. vorangehende E. 2.1).  
 
5.2. Die Beschwerdeführerin macht einzig geltend, die Vorinstanz habe unberücksichtigt gelassen, dass die Versicherte ab dem 1. Juni (recte: Juli) 2020 in einem kommunal bewilligten Betreuungs- und Pflegeangebot gelebt habe. Für einen solchen Aufenthalt sehe § 6 Abs. 1 Ziff. 4 TG ELV ausdrücklich eine maximal anrechenbare Tagestaxe von Fr. 120.- vor. Indem die Vorinstanz dennoch § 6 Abs. 1 Ziff. 5 TG ELV als einschlägig erachtet habe, habe sie das kantonale Recht in willkürlicher Weise angewandt und Art. 9 BV verletzt.  
 
5.3. Ob die Willkürrüge den qualifizierten Anforderungen an die Begründung (vgl. vorangehende E. 2.1) genügt, kann offenbleiben.  
Zwar mag der Wortlaut von § 6 Abs. 1 Ziff. 4 TG ELV - für sich allein betrachtet - eindeutig und klar sein. Indessen ist angesichts des Wortlautes von § 6 Abs. 1 Ziff. 5 TG ELV auch nicht von vornherein ausgeschlossen, dass die Versicherte, die eine ganze Invalidenrente bezieht, auch für die Zeit ab dem 1. Juli 2020 von dieser Bestimmung erfasst werden kann. Weder dazu noch zu den weiteren Auslegungselementen (vgl. BGE 147 V 297 E. 6.1; 146 V 224 E. 4.5.1) wird auch nur ansatzweise etwas vorgebracht. Ob die Vorinstanz kantonales Recht verletzt hat, lässt sich jedenfalls nicht ohne Weiteres beantworten und ist hier auch nicht zu prüfen. Soweit die Beschwerdeführerin eine (allfällige) Verletzung kantonalen Rechts mit Willkür gleichzusetzen scheint, kann ihr nicht gefolgt werden. Entgegen ihrer Auffassung leuchtet denn auch nicht ein, weshalb es per se "ausserordentlich stossend" und "im Ergebnis unhaltbar" sein sollte, wenn für die Versicherte eine (allenfalls) um Fr. 15.- zu hohe Tagestaxe als Ausgabe anerkannt würde. Die angefochtenen Entscheide halten vor dem Willkürverbot von Art. 9 BV stand (vgl. vorangehende E. 2.2). Die Beschwerde ist unbegründet. 
 
6.  
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Verfahren 9C_161/2022 und 9C_162/2022 werden vereinigt. 
 
2.  
Die Beschwerden werden abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
3.  
Die Gerichtskosten von insgesamt Fr. 1000.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 7. Juli 2022 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Das präsidierende Mitglied: Stadelmann 
 
Die Gerichtsschreiberin: Dormann