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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
6B_1161/2019  
 
 
Urteil vom 13. Oktober 2020  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Denys, Präsident, 
Bundesrichter Muschietti, 
Bundesrichterin van de Graaf, 
Gerichtsschreiber Traub. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A._________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Eveline Gloor, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau, 
Frey-Herosé-Strasse 20, Wielandhaus, 5001 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Unrechtmässiger Bezug von Sozialhilfe; Landesverweis nach Art. 66a Abs. 2 StGB (Härtefallprüfung), 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts 
des Kantons Aargau, Strafgericht, 2. Kammer, 
vom 13. August 2019 (SST.2018.234 / pg). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Die Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach wirft A._________ unrechtmässigen Bezug von Sozialhilfeleistungen vor. Im September und Oktober 2017 habe sie Sozialhilfe in Höhe von insgesamt Fr. 4'542.-- bezogen und nicht gemeldet, dass sie im gleichen Zeitraum temporär gearbeitet und einen Nettolohn von Fr. 6'196.40 bezogen hat. Auch anlässlich eines Gesprächs mit dem Sozialen Dienst der Gemeinde habe sie sich als arbeitslos bezeichnet und das erwähnte Einkommen verschwiegen. Die nach Aufkommen eines entsprechenden Verdachts einverlangten Bankauszüge habe sie nicht im geforderten Umfang an die Behörde eingereicht. 
 
Das Bezirksgericht Zurzach sprach A._________ am 4. Juni 2018 des unrechtmässigen Bezugs von Leistungen einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe (Art. 148a Abs. 1 StGB) schuldig und belegte sie mit einer unbedingten Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu Fr. 50.--. Ausserdem sprach es eine Landesverweisung für die Dauer von fünf Jahren aus (Art. 66a Abs. 1 lit. e StGB). 
 
B.   
Das Obergericht des Kantons Aargau bestätigte das erstinstanzliche Urteil (Urteil vom 13. August 2019). 
 
C.   
A._________ führt Beschwerde in Strafsachen. Sie beantragt, des unrechtmässigen Bezugs einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe nach Art. 148a Abs. 2 StGB (leichter Fall) schuldig gesprochen und mit einer Busse von Fr. 500.-- bestraft zu werden. Eventuell sei von der Landesverweisung abzusehen. Subeventuell sei die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Sie ersucht um unentgeltliche Rechtspflege und Vertretung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Zur strafrechtlichen Qualifikation macht die Beschwerdeführerin geltend, in ihrem Fall sei nicht der mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bewehrte Grundtatbestand des unrechtmässigen Bezugs von Sozialleistungen (Abs. 1), sondern ein leichter Fall (Abs. 2), d.h. eine mit blosser Busse verbundene Übertretung, gegeben. Es sei nicht genügend berücksichtigt worden, dass sie die Erwerbstätigkeit nur während zweier Monate nicht gemeldet habe. Zusammen mit dem geringen Betrag folge daraus ein leichter Fall. Mit Blick auf die Rechtsfolge der Landesverweisung dränge sich dieser Schluss auch aus Gründen der Verhältnismässigkeit auf.  
 
1.2. Nach Art. 148a StGB macht sich des unrechtmässigen Bezugs von Leistungen einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe schuldig, wer jemanden durch unwahre oder unvollständige Angaben, durch Verschweigen von Tatsachen oder in anderer Weise irreführt oder in einem Irrtum bestärkt, sodass er oder ein anderer Leistungen einer Sozialversicherung oder Sozialhilfe bezieht, die ihm oder dem andern nicht zustehen (Abs. 1). In leichten Fällen ist die Strafe Busse (Abs. 2).  
 
Was die strittige Frage angeht, ob ein leichter Fall im Sinn von Art. 148a Abs. 2 StGB vorliege, erwägt die Vorinstanz, die Abgrenzung vollziehe sich u.a. anhand des Deliktbetrags. Dieser belaufe sich hier nach Auffassung der ersten Instanz auf Fr. 4'542.--, nach Auffassung der Beschuldigten auf Fr. 4'364.25. Welcher Betrag zutreffe, sei indessen belanglos. Die Beschwerdeführerin habe die im kantonalen Sozialhilferecht verankerte Meldepflicht hinsichtlich veränderter Verhältnisse verletzt und darüber hinaus trotz des entsprechenden Erwerbseinkommens in den fraglichen Abrechnungsperioden Sozialhilfeleistungen bezogen. Anlässlich einer Besprechung vom 31. Oktober 2017 habe sie bei den Sozialen Diensten der Gemeinde zudem wahrheitswidrig angegeben, nach wie vor arbeitslos zu sein. Erst nachdem sie mit einem Verdachtsmoment konfrontiert worden sei, habe sie das verschwiegene Einkommen anlässlich eines weiteren Gesprächs am 29. November 2017 zugegeben. Doch auch bei diesem Gespräch habe sie tatsachenwidrig nur von einer während zweier Wochen ausgeübten Arbeit gesprochen. Sodann falle eine einschlägige Vorstrafe wegen versuchten Betrugs zum Nachteil der Arbeitslosenversicherung (Strafbefehl vom 31. März 2016) ins Gewicht. Insgesamt handle es sich unabhängig von der genauen Höhe der unrechtmässig bezogenen Sozialhilfe nicht mehr um einen leichten Fall im Sinn von Art. 148a Abs. 2 StGB
 
Die Vorinstanz geht zutreffend davon aus, dass ein bestimmter Grenzbetrag (vgl. etwa Empfehlungen der Schweizerischen Staatsanwälte-Konferenz [SSK] betreffend die Ausschaffung verurteilter Ausländerinnen und Ausländer [Art. 66a bis 66d StGB] vom 24. November 2016: Grenzbetrag von Fr. 3'000.--) nicht für sich allein als Regelkriterium zur Abgrenzung des leichten Falls dienen kann (MATTHIAS JENAL, in: Basler Kommentar, Strafrecht II, 4. Aufl. 2018, N 22 zu Art. 148a StGB; vgl. auch GARBARSKI/BORSODI, in: Commentaire romand, Code pénal II, 2017, N 33 zu Art. 148a StGB). Ein Grenzbetrag kann, in welcher Höhe auch immer, nur im Sinn einer Erheblichkeitsschwelle bedeutsam sein. Da der Gesetzgeber der bundesrätlichen Fassung von Art. 148a StGB folgte, hat die Botschaft besondere Bedeutung für die Interpretation dieses Tatbestandes (Urteil 6B_1015/2019 vom 4. Dezember 2019 E. 4.5.1). Nach der Botschaft sind - neben dem Betrag der unrechtmässig bezogenen Sozialleistung, d.h. dem Ausmass des verschuldeten Erfolgs - auch weitere Elemente (vgl. Art. 47 StGB) zu beachten, die das Verschulden des Täters "herabsetzen" können (Botschaft vom 26. Juni 2013 zur Änderung des Strafgesetzbuchs und des Militärstrafgesetzes, BBl 2013 6039). 
 
Für einen leichten Fall im Sinn von Art. 148a Abs. 2 StGB sprechen der relativ tiefe Betrag und die kurze Zeit des unrechtmässigen Leistungsbezugs. Erschwerend wirkt jedoch, dass die Beschwerdeführerin anlässlich zweier Gespräche wiederholt unwahre Angaben gemacht hat. Abgesehen von Fällen mit einem geringen Betrag sah der Gesetzgeber vor allem dann einen leichten Fall für gegeben, wenn "das Verhalten des Täters nur eine geringe kriminelle Energie offenbart oder die Beweggründe und Ziele des Täters nachvollziehbar sind" (BBl 2013 6039). Die Vorinstanz stellt in tatsächlicher Hinsicht fest, an die Verletzung der Auskunftspflicht (Verschweigen eines Erwerbseinkommens für die Monate September und Oktober 2017) schliessend habe die Beschwerdeführerin anlässlich einer Besprechung bei den Sozialen Diensten der Gemeinde am 31. Oktober 2017 wahrheitswidrig angegeben, nach wie vor arbeitslos zu sein. Von der Erwerbstätigkeit habe die Behörde indirekt Kenntnis erhalten. Bei einem weiteren Gespräch am 29. November 2017 habe die Beschwerdeführerin zugegeben, gearbeitet zu haben. Doch auch jetzt habe sie nicht die tatsächliche Situation dargelegt, sondern erwähnt, sie habe lediglich während zweier Wochen gearbeitet (angefochtenes Urteil S. 11). Diese Abfolge, insbesondere die falsche Auskunft selbst nach Aufdeckung eines zuvor aktiv geleugneten Einkommens, zeugt von einer Haltung, die nicht mehr mit einem leichten Fall vereinbar ist. Von einer bloss geringen kriminellen Energie oder von nachvollziehbaren Beweggründen und Zielen kann unter diesen Umständen nicht mehr gesprochen werden. Daher verstösst es nicht gegen Bundesrecht, dass die Vorinstanz - unabhängig vom Betrag der unrechtmässig bezogenen Leistung - den Grundtatbestand (Art. 148a Abs. 1 StGB) zur Anwendung kommen lässt. 
 
2.  
 
2.1. Die Beschwerdeführerin ist deutsche Staatsangehörige. Weil kein leichter Fall eines unrechtmässigen Bezugs von Leistungen einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe nach Art. 148a Abs. 2 StGB gegeben ist, stellt sich die Frage der Landesverweisung (Art. 66a Abs. 1 lit. e StGB).  
 
2.2. Die Beschwerdeführerin rügt, die Aussprechung dieser primär sichernden strafrechtlichen Massnahme (Urteil 6B_627/2018 vom 22. März 2019 E. 1.3.2 mit Hinweisen) verstosse unter verschiedenen Titeln gegen Bundesrecht. Im Zusammenhang mit den persönlichen Umständen, die für die Beurteilung eines Härtefalls (Art. 66a Abs. 2 StGB; BGE 144 IV 332) bedeutsam sind, macht die Beschwerdeführerin u.a. geltend, ihre betagte Mutter lebe in in einem Pflegeheim in B.________ (Kanton Aargau). Werde die Landesverweisung angeordnet, sei es ihr nicht mehr erlaubt, in die Schweiz einzureisen. Damit wäre es ihr auch nicht mehr möglich, ihre Mutter im Heim zu besuchen resp. sie tageweise zu sich auf Besuch zu nehmen und zu betreuen.  
 
Betreffend das enge Verhältnis zur betagten Mutter im aargauischen Pflegeheim erwägt die Vorinstanz, die Beschwerdeführerin könne sich auch um ihre Mutter kümmern, wenn sie in Deutschland in Grenznähe wohnen bleibe (angefochtenes Urteil S. 17 E. 6.3.3). Eine Landesverweisung ginge jedoch mit einem Einreiseverbot einher. Ausländerinnen und Ausländer, die in die Schweiz einreisen wollen, dürfen nicht von einer Fernhaltemassnahme oder einer Landesverweisung u.a. nach Art. 66a StGB betroffen sein (Art. 5 Abs. 1 lit. d AIG; vgl. GRAEDEL/ARN, Die neuen Bestimmungen zur Landesverweisung, in: BVR 2017 S. 375 f.; BRUN/FABBRI, Die Landesverweisung - neue Aufgaben und Herausforderungen für die Strafjustiz, in: recht 2017 S. 240 f.; FIOLKA/VETTERLI, Die Landesverweisung nach Art. 66a StGB als strafrechtliche Sanktion, in: Plädoyer 2016, H. 5 [Dossier], S. 88 f.). Der hier drohende Eingriff in eine gelebte familiäre Beziehung ist in die Härtefallbeurteilung resp. Interessenabwägung nach Art. 66a Abs. 2 StGB einzubeziehen und nicht erst nachträglich im Rahmen einer sinngemäss angewendeten Ausnahmeklausel nach Art. 67 Abs. 5 AIG (in der Fassung vom 1. Oktober 2016) zu berücksichtigen (vgl. BUSSLINGER/UEBERSAX, Härtefallklausel und migrationsrechtliche Auswirkungen der Landesverweisung, in: Plädoyer 2016, H. 5 [Dossier] S. 105). Der direkte Kontakt zwischen der Beschwerdeführerin und ihrer pflegebedürftigen Mutter wäre auf fünf Jahre hinaus praktisch verunmöglicht, es sei denn, die Mutter könnte zumutbarerweise für Besuche jeweils zu ihrer Tochter nach Deutschland gebracht und dann wieder in das Pflegeheim in der Schweiz zurückgeführt werden. Doch selbst in diesem Fall wäre der Kontakt offenkundig stark erschwert. Damit hat die Vorinstanz bei der Beurteilung des Härtefalls und der anschliessenden Interessenabwägung (Art. 66 Abs. 2 erster Satz a.E. StGB) die Tragweite der strittigen Massnahme verkannt. Dies verletzt Bundesrecht. 
 
2.3. Die Auswirkungen einer Landesverweisung auf die persönliche Beziehung der Beschwerdeführerin zu ihrer Mutter sind unter zutreffenden rechtlichen Voraussetzungen in die umfassende Beurteilung nach Art. 66a Abs. 2 StGB einzubeziehen. Zu diesem Zweck ist die Sache an die Vorinstanz zur neuen Entscheidung zurückzuweisen. Eine Behandlung der weiteren Vorbringen im Zusammenhang mit der Landesverweisung erübrigt sich insoweit.  
 
3.   
Die Rückweisung an die Vorinstanz präjudiziert die Beurteilung in der Sache nicht. Daher kann mit Blick auf das Beschleunigungsgebot (Art. 29 Abs. 1 BV) auf die Einholung von Vernehmlassungen verzichtet werden (vgl. Urteil 6B_151/2019 vom 17. April 2019 E. 5). 
 
Die Beschwerdeführerin trägt ausgangsgemäss einen angemessenen Teil der Gerichtskosten. Im Übrigen sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Aargau hat der Rechtsvertreterin der Beschwerdeführerin eine Entschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Insoweit ist das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos. Im Übrigen ist es zufolge Aussichtslosigkeit des Rechtsbegehrens abzuweisen (Art. 64 Abs. 1 BGG). Der finanziellen Lage der Beschwerdeführerin ist mit herabgesetzten Gerichtskosten Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 13. August 2019 wird aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
2.   
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen. 
 
3.   
Die Beschwerdeführerin trägt die Gerichtskosten im Umfang von Fr. 600.--. 
 
4.   
Der Kanton Aargau hat der Rechtsvertreterin der Beschwerdeführerin, Rechtsanwältin Eveline Gloor, für das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 1'500. - zu bezahlen. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 2. Kammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 13. Oktober 2020 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Denys 
 
Der Gerichtsschreiber: Traub