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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
6B_614/2020  
 
 
Urteil vom 13. Oktober 2020  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Denys, Präsident, 
Bundesrichterinnen Jacquemoud-Rossari, van de Graaf, 
Gerichtsschreiber Traub. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Markus Schultz, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
1. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, 8090 Zürich, 
2. B.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Urs Schuppisser, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Einstellung (fahrlässige Gefährdung durch Verletzung der Regeln der Baukunde, fahrlässige Körperverletzung), 
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich, III. Strafkammer, vom 15. April 2020 (UE190106-O/U). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die Subunternehmerin eines Bauprojekts beauftragte A.________, Eigentümer eines Fenstermontageunternehmens, nach Rücksprache mit der Generalunternehmerin u.a. mit der Montage einer Schiebetüre. Am 15. Dezember 2017 begab sich A.________ mit Mitarbeitern zur Baustelle, um den Auftrag auszuführen. Vor Ort stellte er fest, dass dem Vorhaben ein - zu einem anderen Zweck (Zimmermannsarbeiten) errichteter - provisorischer Zwischenboden (Fanggerüst zur Reduktion der Fallhöhe) im Weg stand. Für diese Konstruktion war der Bauleiter B.________ verantwortlich. Beim eigenhändigen Abbau des Fanggerüsts stürzte A.________ aus einer Höhe von 2,7 Metern auf den Betonboden. Dabei verletzte er sich schwer und ist seither teilarbeitsunfähig. 
A.________ reichte Strafanzeige gegen B.________ und gegen Unbekannt ein wegen fahrlässiger Gefährdung durch Verletzung der Regeln der Baukunde (Art. 229 Abs. 2 StGB) und wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung (Art. 125 Abs. 2 StGB). Die Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland stellte das Strafverfahren gegen B.________ ein (Verfügung vom 25. März 2019). 
 
B.  
Das Obergericht des Kantons Zürich wies die gegen die Einstellungsverfügung erhobene Beschwerde ab (Beschluss vom 15. April 2020). 
 
C.  
A.________ führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, der angefochtene Beschluss sei aufzuheben und die Staatsanwaltschaft zu verpflichten, die Strafuntersuchung im Hinblick auf eine Anklage beim zuständigen Gericht weiterzuführen. Eventuell sei der angefochtene Beschluss aufzuheben und die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Die Beschwerdeberechtigung richtet sich nach Art. 81 Abs. 1 BGG. Die Privatklägerschaft ist zur Beschwerde legitimiert, wenn der angefochtene Entscheid sich auf die Beurteilung ihrer Zivilansprüche auswirken kann (Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG). Dass sich der angefochtene Entscheid auf Schadenersatz- und Genugtuungsansprüche des Beschwerdeführers auswirken kann, ist nach der Natur des im Raum stehenden strafrechtlichen Vorwurfs offensichtlich. Die Beschwerde in Strafsachen ist daher zulässig. 
 
2.  
 
2.1. Nach Art. 319 Abs. 1 StPO verfügt die Staatsanwaltschaft unter anderem dann die vollständige oder teilweise Einstellung des Verfahrens, wenn kein Tatverdacht erhärtet ist, der eine Anklage rechtfertigt (lit. a), kein Straftatbestand erfüllt ist (lit. b) oder Rechtfertigungsgründe einen Straftatbestand unanwendbar machen (lit. c). Der Entscheid über die Einstellung eines Verfahrens richtet sich nach dem Grundsatz  in dubio pro duriore. Danach darf die Staatsanwaltschaft das Verfahren grundsätzlich nur bei klarer Straflosigkeit oder offensichtlich fehlenden Prozessvoraussetzungen einstellen (BGE 146 IV 68 E. 2.1). Hingegen ist, sofern die Erledigung mit einem Strafbefehl nicht in Frage kommt, Anklage zu erheben, wenn eine Verurteilung wahrscheinlicher erscheint als ein Freispruch. Ist ein Freispruch genauso wahrscheinlich wie eine Verurteilung, drängt sich in der Regel, insbesondere bei schweren Delikten, eine Anklageerhebung auf. Bei zweifelhafter Beweis- oder Rechtslage hat nicht die Staatsanwaltschaft über die Stichhaltigkeit des strafrechtlichen Vorwurfs zu entscheiden, sondern das zur materiellen Beurteilung zuständige Gericht.  
Der Grundsatz, dass im Zweifel nicht eingestellt werden darf, ist auch bei der Überprüfung von Einstellungsverfügungen zu beachten (BGE 143 IV 241 E. 2.2.1 S. 243 mit Hinweisen). 
 
2.2. Nach Art. 125 Abs. 1 StGB ist auf Antrag strafbar, wer fahrlässig einen Menschen am Körper verletzt. Fahrlässig handelt, wer die Folge seines Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedenkt oder darauf nicht Rücksicht nimmt (Art. 12 Abs. 3 erster Satz StGB). Pflichtwidrig ist die Unvorsichtigkeit, wenn der Täter die Vorsicht nicht beachtet, zu der er nach den Umständen und nach seinen persönlichen Verhältnissen verpflichtet ist (Art. 12 Abs. 3 zweiter Satz StGB) und wenn er zugleich die Grenzen des erlaubten Risikos überschritten hat. Wo besondere, der Unfallverhütung und der Sicherheit dienende Normen ein bestimmtes Verhalten gebieten, bestimmt sich das Mass der zu beachtenden Sorgfalt in erster Linie nach diesen Vorschriften (BGE 145 IV 154 E. 2.1 S. 157; 143 IV 138 E. 2.1 S. 140). Wo eine derartige Regelung fehlt, kann der Vorwurf der Fahrlässigkeit auch auf allgemeine Rechtsgrundsätze wie den allgemeinen Gefahrensatz gestützt werden (BGE 106 IV 80 E. 4b S. 79, Urteil 6B_1364/2019 vom 14. April 2020 E. 3.2.1). Grundsätzlich gilt, dass derjenige, der einen Gefahrenbereich schafft, die davon ausgehenden Gefahren zu kontrol-lieren und zu verhindern hat, dass dadurch fremde Rechtsgüter geschädigt werden. Grenze dieser Sicherungspflicht bildet die Zumutbarkeit (Urteil 6B_261/2018 vom 28. Januar 2019 E. 5.1).  
Grundvoraussetzung für das Bestehen einer Sorgfaltspflichtverletzung und mithin für die Fahrlässigkeitshaftung bildet die Vorhersehbarkeit des Erfolgs. Die zum Erfolg führenden Geschehensabläufe müssen für den Täter mindestens in ihren wesentlichen Zügen voraussehbar sein. Zunächst ist zu fragen, ob der Täter eine Gefährdung der Rechtsgüter des Opfers hätte voraussehen resp. erkennen können und müssen. Für die Beantwortung dieser Frage gilt der Massstab der Adäquanz. Sodann muss das Verhalten geeignet sein, nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung einen Erfolg wie den eingetretenen herbeizuführen oder mindestens wesentlich zu begünstigen (BGE 142 IV 237 E. 1.5.2 S. 244; 135 IV 56 E. 2.1 S. 64). Die Adäquanz ist zu verneinen, wenn ganz aussergewöhnliche Umstände, wie das Mitverschulden des Opfers oder eines Dritten oder Material- oder Konstruktionsfehler, als Mitursache hinzutreten, und wenn damit schlechthin nicht gerechnet werden musste. Die Mitursache muss derart schwer wiegen, dass sie als wahrscheinlichste und unmittelbare Ursache des Erfolgs erscheint und so alle anderen ursächlichen Faktoren - namentlich das Verhalten der beschuldigten Person - in den Hintergrund drängt (BGE 135 IV 56 E. 2.1 S. 64). 
 
2.3.  
 
2.3.1. Der Beschwerdeführer macht geltend, der Umfang der vorinstanzlichen Erwägungen sei nicht vereinbar mit dem Schluss, es liege eine klare Straflosigkeit des Beschwerdegegners vor. Die Würdigung im angefochtenen Beschluss nehme die sachrichterliche Beurteilung vorweg.  
Dem ist entgegenzuhalten, dass die Entscheidungsgründe des angefochtenen Entscheids verschiedene Aspekte aufgreifen (müssen), die für die entsprechende Prognose (Straflosigkeit) eine Rolle spielen. Die Fragestellung, ob ein die Anklage rechtfertigender Tatverdacht ausreichend erhärtet sei oder nicht resp. ob ein Straftatbestand von vornherein entfällt (Art. 319 Abs. 1 lit. a und b StPO), führt nicht automatisch zu einer bloss summarischen Prüfung. Im Einzelfall kann eine eingehende Beurteilung nötig sein, um eine klare Prognose begründen zu können. 
 
2.3.2. In der Sache rügt der Beschwerdeführer die vorinstanzliche Auffassung als unhaltbar, wonach sein Selbstverschulden den Kausalzusammenhang zwischen Handlungen oder Unterlassungen des Beschwerdegegners und dem Unfall unterbrochen habe. Der Beschwerdegegner habe massgebliche Sicherheits- und Organisationsvorschriften verletzt. Diese stellten die Hauptursache dar. Gemäss einem Bericht der Suva habe das Auffanggerüst nicht den Bestimmungen der Verordnung vom 29. Juni 2005 über die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei Bauarbeiten (Bauarbeitenverordnung, BauAV; SR 832.311.141) entsprochen. Die BauAV schreibe vor, dass ein Gerüst einwirkende Kräfte auch während des Auf-, Um- und Abbaus aufnehmen können müsse. Es sei nicht nachvollziehbar, warum allein das Betreten des mangelhaften Gerüstes den Kausalzusammenhang unterbrechen sollte. Die Vorinstanz habe festgestellt, dass der Zwischenboden zum Zeitpunkt des Unfalls nicht mehr notwendig gewesen sei. Da diese Konstruktion die Montage des Fensters verunmöglichte, habe sie abgebaut werden müssen. Die Vorinstanz übersehe, dass der Beschwerdegegner als Bauleiter dafür habe sorgen müssen, dass dieser Konflikt überhaupt nicht erst entstehe. Zudem habe er damit rechnen müssen, dass jemand den Zwischenboden betrete. Wenn ein Arbeiter auf das (für einen solchen Fall vorgesehene) Auffanggerüst gefallen wäre, wäre es erforderlich gewesen, dass der Zwischenboden sicher wieder verlassen (oder von Rettungskräften sicher betreten) werden könne. Dies sei nicht gewährleistet gewesen, da der Zwischenboden lediglich mit lose übereinandergelegten Schaltafeln belegt gewesen sei. Auch im Hinblick auf einen Abbau des Auffanggerüstes habe der Beschwerdegegner damit rechnen müssen, dass das Gerüst - trotz des Geländers - betreten werde. Es mache keinen Unterscheid, ob der Beschwerdeführer den Zwischenboden im Rahmen des Abbaus betrete oder ein Arbeiter im Rahmen eines Sturzes. Massgebend bleibe, dass die Konstruktion die auf sie wirkenden Kräfte nicht aufnehmen konnte.  
 
2.3.3. Insgesamt macht der Beschwerdeführer geltend, die Vorinstanz sei zu Unrecht von einem unterbrochenen Kausalzusammenhang zwischen einer allfälligen Sorgfaltspflichtverletzung des Beschwerdegegners und dem Unfall ausgegangen. Die Erwägungen im angefochtenen Entscheid zeigen indessen, dass eine allfällige Verletzung von Sicherheitsvorschriften bei der Montage des Auffanggerüsts keine adäquate Ursache des Unfalls darstellte. Selbst wenn eine dem Beschwerdegegner zuzurechnende Sorgfaltswidrigkeit den Unfallhergang begünstigt haben sollte, würde diese Ursache durch das Verhalten des Beschwerdeführers selbst entscheidend verdrängt. Massgebend ist, dass der Beschwerdeführer nicht befugt war, den Zwischenboden im Hinblick auf dessen Abbau zu betreten. Der Umstand, dass der Zwischenboden dem Einbau des Fensters im Weg stand, ändert daran nichts. Da es sich um unbestrittene Tatsachen handelt, durfte die Vorinstanz ohne Weiteres davon ausgehen, dass es nicht die Aufgabe des Beschwerdeführers war, den Abbau selbst in Angriff zu nehmen, sowie, dass dafür ausgebildete Arbeiter aufgeboten werden konnten. Entgegen dem Verständnis des Beschwerdeführers hat die Vorinstanz in diesem Zusammenhang nicht festgestellt, der Zwischenboden sei zum Zeitpunkt des Unfalls nicht mehr benötigt worden; sie hat vielmehr erwogen, dies möge zwar zutreffen, allerdings habe der Beschwerdeführer zum massgeblichen Zeitpunkt nicht davon ausgehen können (angefochtener Beschluss S. 12 E. 7.3 a.E.). Die vorinstanzliche Feststellung, ein sofortiger Abbau des Zwischenbodens sei nicht notwendig gewesen, hält der Beschwerdeführer für bundesrechtswidrig zustandegekommen, weil die Vorinstanz diesbezügliche Beweise (Befragung des Kranführers) nicht abgenommen habe. Für das Abladen der Fenster habe ein Kranführer aufgeboten werden müssen, was den Zeitdruck hinsichtlich deren Einbau belege. Eine Verletzung des Untersuchungsprinzips ist der Vorinstanz jedoch nicht vorzuwerfen. Sie erwägt, es habe genügend zeitlichen Spielraum gegeben, um den Einbau der grossen Schiebetüre zu verschieben, bis das Hindernis beseitigt war. Es ist nicht ersichtlich, inwiefern diese - anhand von aktenkundigen Erkenntnissen über die Abläufe auf der Baustelle getroffene - Feststellung willkürlich sein sollte.  
Die in der Beschwerdeschrift vorgetragenen Überlegungen dazu, ob das Auffanggerüst zwecktauglich montiert gewesen sei, stellen die vorinstanzliche Kausalitätsbeurteilung nicht infrage. Ob der Zwischenboden den ihm zugedachten Zweck erfüllen konnte und ob er in diesem Rahmen gefahrlos betreten werden konnte, ist hier nicht von Bedeutung, weil der Beschwerdeführer das Gerüst nicht zu diesem Zweck betreten hat. Die Vorinstanz verweist in diesem Zusammenhang auf ein Schreiben der Suva, wonach Auffanggerüste grundsätzlich nicht betreten werden dürfen; sobald sie benutzt werden, müssten sie den Vorschriften der BauAV entsprechen. Soweit dies nicht der Fall sei, seien sie entsprechend zu sichern. Nach Feststellung der Vorinstanz ergibt sich aus den Akten, dass der Zwischenboden mit einer Abschrankung gesichert war. Der Beschwerdeführer hat das Gerüst betreten, obwohl dies, durch die vorhandene Abschrankung sichtbar, unzulässig war. Auf willkürfreier Beweiswürdigung beruht schliesslich die Folgerung der Vorinstanz, der Beschwerdeführer habe durch die Wegnahme von Schaltafeln die Gefahr selbst herbeigeführt, dass diese sich beim Betreten unkontrolliert verschieben konnten. 
 
2.4. Die Vorinstanz begründet somit nachvollziehbar, weshalb eine Verurteilung wegen fahrlässiger Körperverletzung oder wegen fahrlässiger Gefährdung durch Verletzung der Regeln der Baukunde (konkretes Gefährdungsdelikt) vorliegend unwahrscheinlich erscheint. Die kantonalen Instanzen haben mit der Einstellung des Strafverfahrens das ihnen zustehende Ermessen (vgl. Urteil 6B_553/2019 vom 6. November 2019 E. 3.1) eingehalten. Der Grundsatz  in dubio pro duriore ist nicht verletzt.  
 
3.  
Die Beschwerde ist abzuweisen. Die Gerichtskosten sind ausgangsgemäss dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Dem Beschwerdegegner ist keine Entschädigung zuzusprechen, da er im bundesgerichtlichen Verfahren nicht zur Vernehmlassung eingeladen wurde. 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 3'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 13. Oktober 2020 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Denys 
 
Der Gerichtsschreiber: Traub