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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
9C_824/2019  
 
 
Urteil vom 14. Januar 2020  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Glanzmann, 
Gerichtsschreiberin Stanger. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, 
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Karin Herzog, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 31. Oktober 2019 (IV 2018/3 Z). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Mit Verfügung vom 22. November 2017 hob die IV-Stelle des Kantons St. Gallen die bisher ausgerichtete ganze Rente des A.________ insbesondere unter Berücksichtigung der psychiatrischen Expertise des Dr. med. B.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, auf. 
 
B.  
 
B.a. Gegen die Rentenaufhebung erhob der Versicherte Beschwerde beim Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen. Dieses orientierte die Parteien mit Schreiben vom 27. September 2019 über seinen Beschluss, bei Dr. med. C.________, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, ein psychiatrisches Gerichtsgutachten einzuholen, da der medizinische Sachverhalt nicht spruchreif sei. Mit Eingabe vom 15. Oktober 2019 teilte die IV-Stelle mit, dass sie mit einer weiteren Begutachtung nicht einverstanden sei, und ersuchte um Erlass eines anfechtbaren Zwischenentscheids.  
 
B.b. Am 31. Oktober 2019 entschied das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, dass Dr. med. C.________ mit der Erstattung eines psychiatrischen Gerichtsgutachtens zur Beantwortung des im Schreiben vom 27. September 2019 formulierten Fragekatalogs beauftragt werde.  
 
C.   
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 31. Oktober 2019 sei aufzuheben und die Verfügung vom 22. November 2017 sei zu bestätigen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Das Bundesgericht prüft seine Zuständigkeit und die Eintretensvoraussetzungen von Amtes wegen und mit freier Kognition (Art. 29 Abs. 1 BGG; BGE 139 V 42 E. 1 S. 44mit Hinweisen). 
 
2.  
 
2.1. Der angefochtene Gerichtsentscheid bezieht sich ausschliesslich auf die Frage der Einholung eines psychiatrischen Gerichtsgutachtens. Dabei handelt es sich um einen das Verfahren nicht abschliessenden Zwischenentscheid.  
 
2.2. Beschwerden an das Bundesgericht gegen selbstständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide sind zulässig, wenn sie die Zuständigkeit oder den Ausstand betreffen (Art. 92 Abs. 1 BGG), einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG) oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG).  
 
2.3.  
 
2.3.1. Die Eintretensvoraussetzungen von Art. 92 Abs. 1 BGG sind offensichtlich nicht erfüllt. Entgegen der Auffassung der beschwerdeführenden IV-Stelle ka nn die Eintretensfrage auch nicht auf der Grundlage von Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG bejaht werden. Wenn das Bundesgericht zum Schluss käme, die vorinstanzliche Begründung betreffend Notwendigkeit einer weiteren Begutachtung sei unzutreffend, könnte damit in der Sache nicht sofort ein Endentscheid herbeigeführt werden, da das Versicherungsgericht über die materielle Rentenaufhebung noch nicht befunden hat. Der Gegenstand des letztinstanzlichen Verfahrens kann nicht über denjenigen des angefochtenen Entscheids hinausgehen.  
 
2.3.2. Ein nicht wiedergutzumachender Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG käme in Betracht, wenn die Beschwerdeinstanz eine (weitere) Begutachtung nicht zulassen und damit die IV-Stelle zwingen würde, eine Leistungsverfügung auf einen aus ihrer Sicht unvollständigen Sachverhalt abzustützen; grundsätzlich aber nicht im umgekehrten, hier vorliegenden Fall, wo die Vorinstanz eine von der Verwaltung als überflüssig betrachtete Begutachtung anordnete (vgl. Urteil 9C_57/2019 vom 7. März 2019 E. 1.2.2 mit Hinweis auf 9C_154/2014 vom 3. September 2014 E. 2.1).  
Indessen macht die IV-Stelle vorliegend geltend, die Vorinstanz habe eine bundesrechtswidrige Praxis entwickelt und bei den Gutachtern eine "Zweiklassengesellschaft" eingeführt. Nach dieser neuen Rechtsprechung wolle die Vorinstanz den Beurteilungen von Gutachtern, die nach ihrer Auffassung besonders viele Gutachten verfassten, grundsätzlich nur noch den Beweiswert von RAD-Beurteilungen beimessen. Damit führe die Vorinstanz neue Beweisregeln ein, die gegen Bundesrecht verstiessen. Da sie an ihrer bundesrechtswidrigen Rechtspraxis festhalte und regelmässig entsprechend vorgehe (vgl. deren Entscheide IV 2018/181 vom 9. Januar 2019 und IV 2018/9 vom 17. September 2019), seien mit Blick auf die Rechtsprechung des Bundesgerichts (Urteil 9C_463/2019 vom 25. September 2019 E. 1.2) die Eintretensvoraussetzungen erfüllt. 
 
2.3.3. Das von der IV-Stelle zitierte Urteil des Bundesgerichts befasst sich mit der Frage, was geschieht, wenn eine Vorinstanz die Sache regelmässig zur gutachterlichen Abklärung an die Verwaltung zurückweist, obwohl sie jeweils selbst eine medizinische Beurteilung in Form eines Gerichtsgutachtens einholen sollte (vgl. BGE 137 V 210 E. 4.4.1.4 S. 264). Das Bundesgericht behält sich vor, in einem solchen Fall ausnahmsweise auf die Beschwerde gegen einen ungerechtfertigten Rückweisungsentscheid einzutreten (vgl. zuletzt Urteil 8C_503/2019 vom 19. Dezember 2019 E. 1). Dahinter steht die Überlegung, dass eine strikte Einzelfallhandhabung der Eintretensvoraussetzungen es verunmöglichen würde, eine Fehlpraxis zu korrigieren (vgl. Urteil 9C_454/2014 vom 31. Juli 2014 E. 2.3). Zu prüfen ist, ob die vorliegende Konstellation damit vergleichbar ist.  
 
2.3.4.  
 
2.3.4.1. Im kantonalen Verfahren hat das Versicherungsgericht mit Schreiben vom 27. September 2019 gegenüber den Parteien dargelegt, dass es den Sachverhalt für noch nicht spruchreif abgeklärt erachte. Bei der Beweiswürdigung der Beurteilung durch den Administrativgutachter Dr. med. B.________ sei dem erheblichen Ausmass seiner wirtschaftlichen Abhängigkeit gegenüber der IV-Stelle Rechnung zu tragen. Dies führe dazu, dass den Expertisen von Dr. med. B.________ ein Stellenwert vergleichbar mit demjenigen von Berichten versicherungsinterner medizinischer Fachpersonen zukomme. Auf seine Beurteilung könne demnach nicht abgestellt werden, wenn auch nur geringe Zweifel an ihrer Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit bestünden. Wie in der Beschwerde aufgezeigt wird, hatte die Vorinstanz auch schon in früheren Fällen den Beweiswert einer Expertise mit der Begründung einer wirtschaftlichen Abhängigkeit eines Gutachters gegenüber der IV-Stelle herabgesetzt.  
 
2.3.4.2. Im angefochtenen Entscheid hat sich das Versicherungsgericht nicht zu der gegen diese Praxis erhobenen Kritik der Beschwerdeführerin (vorinstanzliche Eingabe der IV-Stelle vom 15. Oktober 2019) geäussert. Gemäss Vorinstanz erübrige sich eine diesbezügliche Auseinandersetzung, da bereits die in den Erwägungen des angefochtenen Entscheids (näher) dargelegten Mängel "konkrete Indizien gegen die Zuverlässigkeit der Einschätzung von Dr. B.________ im Sinn von BGE 135 V 469 f. E. 4.4" darstellen und "erhebliche Zweifel" daran begründen würden.  
Indem das Versicherungsgericht nun aber zur Darlegung dieser erheblichen Zweifel im Wesentlichen die gleichen Gründe anführte (vorinstanzliche Erwägungen 2.1 und 2.2) wie in seinem Schreiben vom 27. September 2019, wo es die Expertise entsprechend seiner Praxis bereits aufgrund von geringen Zweifeln als nicht beweiswertig erachtete, wird klar, dass es sich bei der Prüfung der Beweiswertigkeit des Administrativgutachtens nicht an die Vorgaben der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. E. 3.1 nachfolgend) gehalten hat; vielmehr orientierte sich die Vorinstanz einmal mehr an ihrer eigenen Praxis. Mit ihrer erwägungsweisen expliziten Bezugnahme auf diese Praxis ("Rechtsprechung des Versicherungsgerichts zur wirtschaftlichen Abhängigkeit von Dr. B.________ und deren Folgen für den beweisrechtlichen Stellenwert der von ihm erstatteten Administrativgutachten" mit Verweis auf den hinsichtlich dieses Experten ergangenen Entscheid vom 17. September 2019) wird zudem deutlich, dass die Vorinstanz auch in Zukunft daran festhält und nicht gewillt ist, sich an die Rechtsprechung des Bundesgerichts zu halten. Vor diesem Hintergrund rechtfertigt sich eine Öffnung des Rechtswegs an das Bundesgericht, um die Umsetzung der Vorgaben gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung (vgl. E. 3.1 nachfolgend) sicherzustellen. Auf die Beschwerde ist somit einzutreten. 
 
3.   
Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie den medizinischen Sachverhalt als nicht spruchreif erachtete und zum Schluss kam, es sei ein psychiatrisches Gerichtsgutachten einzuholen. 
 
3.1. Hinsichtlich des Beweiswerts eines Arztberichtes ist entscheidend, ob er für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge sowie der medizinischen Situation einleuchtet und die Schlussfolgerungen der Experten begründet sind (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3 S. 352 ff. mit Hinweis). Den von Versicherungsträgern im Verfahren nach Art. 44 ATSG eingeholten, den Anforderungen der Rechtsprechung entsprechenden Gutachten externer Spezialärzte (Administrativgutachten) darf voller Beweiswert zuerkannt werden, solange "nicht konkrete Indizien gegen die Zuverlässigkeit" der Expertise sprechen (BGE 137 V 210 E. 1.3.4 S. 227; 135 V 465 E. 4.4 S. 470; 125 V 351 E. 3b/bb S. 353; vgl. dazu auch SUSANNE BOLLINGER, in: Basler Kommentar, Allgemeiner Teil des Sozialversicherungsrechts, 1. Aufl. 2020, N. 45 zu Art. 61 ATSG).  
 
3.2. Die Vorinstanz hat die Frage, ob dem psychiatrischen Gutachten des Dr. med. B.________ Beweiswert zukommt, nicht entsprechend dieser Vorgaben geprüft. Insbesondere ging sie nicht von einem grundsätzlich beweiswertigen Administrativgutachten aus, auf welches abgestellt wird, solange nicht konkrete Indizien gegen seine Zuverlässigkeit sprechen. Wie oben dargelegt, hat sie (einzig) gestützt auf den Umstand, dass Dr. med. B.________ von der IV-Stelle regelmässig zur medizinischen Begutachtung beigezogen wird, den Beweiswert seiner Expertise erheblich herabgesetzt, stellte in der Folge nicht darauf ab, und ging von einem aus psychiatrischer Sicht nicht spruchreifen, durch ein Gerichtsgutachten zu klärenden Sachverhalt aus. Damit verstiess das Versicherungsgericht gegen den bundesrechtlichen Grundsatz der freien Beweiswürdigung (Art. 61 lit. c in fine ATSG), weshalb der angefochtene Entscheid aufzuheben ist.  
 
3.3. Mit Blick auf den Ausgang des Verfahrens braucht auf die weiteren Vorbringen der Beschwerdeführerin, insbesondere betreffend die geltend gemachte Verletzung der Begründungspflicht, nicht näher eingegangen zu werden.  
 
4.   
Die Beschwerde ist offensichtlich begründet, weshalb sie im vereinfachten Verfahren nach Art. 109 Abs. 2 lit. b BGGerledigt wird. Auf einen Schriftenwechsel wird angesichts des Verfahrensausgangs, der auf klarer Rechtslage beruht, verzichtet. Die Einholung einer Vernehmlassung käme einem formalistischen Leerlauf gleich und würde nur weitere Kosten verursachen (Art. 102 Abs. 1 BGG; vgl. Urteile 9C_479/2019 vom 17. September 2019 E. 4 und 9C_285/2017 vom 15. Mai 2017 E. 4). 
 
5.   
Das Verfahren ist kostenpflichtig. Die Gerichtskosten und eine allfällige Parteientschädigung hätte grundsätzlich die unterliegende Partei zu tragen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG; BGE 133 V 642). Unnötige Kosten hat indessen zu bezahlen, wer sie verursacht (Art. 66 Abs. 3 BGG). Dies erlaubt es, die Gerichtskosten ausnahmsweise der Vorinstanz resp. dem Gemeinwesen, dem diese angehört, aufzuerlegen. Die Vorinstanz setzt sich konsequent über die anwendbare Rechtsprechung des Bundesgerichts (vgl. E. 3.1) hinweg. Damit hat sie die IV-Stelle zum Gang vor das Bundesgericht gezwungen, was zu einer unnötigen Verlängerung des Verfahrens führte. Dieser Umstand kann nicht dem Beschwerdegegner angelastet werden. Demnach sind dem Kanton St. Gallen die Gerichtskosten aufzuerlegen (vgl. Urteil 9C_242/2018 vom 21. Februar 2019 E. 7). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 31. Oktober 2019 wird aufgehoben. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Kanton St. Gallen auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 14. Januar 2020 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Die Gerichtsschreiberin: Stanger