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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_20/2022  
 
 
Urteil vom 14. Juli 2022  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Stadelmann, präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichterin Moser-Szeless, 
nebenamtliche Bundesrichterin Bechaalany, 
Gerichtsschreiberin Nünlist. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Dean Kradolfer, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Thurgau, Rechts- und Einsprachedienst, 
St. Gallerstrasse 11, 8500 Frauenfeld, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau 
vom 17. November 2021 (VV.2020.219/E). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Der 2000 geborene A.________ leidet unter anderem an einer angeborenen Herzmissbildung (Ziff. 313 des Anhangs der Verordnung vom 9. Dezember 1985 über Geburtsgebrechen [GgV, SR 831.232.21; GgV Anhang]). Am 22. März 2017 ersuchte er die Eidgenössische Invalidenversicherung (IV) um Wiederaufnahme des Verfahrens betreffend berufliche Massnahmen, nachdem eine Kostengutsprache für (weitere) berufliche Massnahmen nach Durchführung des Mahn- und Bedenkzeitverfahrens verneint worden war. Nach Abklärungen sprach die IV-Stelle des Kantons Thurgau am 5. September 2017 die Kosten für eine erstmalige berufliche Ausbildung zum Polygrafen EFZ gut. 
Mit Verfügung vom 13. Juli 2018 stellte die IV-Stelle den Abbruch der Ausbildung fest. Am 29. Januar 2019 erstattete die Ärztliche Begutachtungsinstitut GmbH, Basel (ABI), ein polydisziplinäres (internistisch, psychiatrisch, neurologisch, orthopädisch, kardiologisch, gastroenterologisch, endokrinologisch, neuropsychologisches) Gutachten. 
Ende August respektive anfangs September 2019 begann der Versicherte mit dem Studiengang "Bachelor of Arts" am Institut B.________. Mit Schreiben vom 3. September 2019 teilte die IV-Stelle ihm mit, dass sie diese Ausbildung nicht unterstütze und den Anspruch auf weitere Leistungen prüfe. Nach durchgeführten Vorbescheidverfahren wies sie mit Verfügungen vom 15. Juli 2020 den Anspruch auf berufliche Massnahmen ab und sprach dem Versicherten ab 1. Mai 2018 eine halbe Invalidenrente zu. 
 
B.  
Die gegen die Verfügung betreffend berufliche Massnahmen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 17. November 2021 ab. 
 
C.  
A.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragen, der angefochtene Entscheid und die Verfügung vom 15. Juli 2020 betreffend berufliche Massnahmen seien aufzuheben. Es seien ihm die gesetzlichen Leistungen gemäss IVG zu erbringen. Eventualiter sei ein Gutachten zu seiner Eignung für die Ausbildung am Institut B.________ und zur späteren Tätigkeit im theologischen, kirchlichen oder sozialdiakonischen Bereich einzuholen. Subeventualiter sei die Sache zu weiteren Abklärungen an die Vorinstanz oder an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen. 
Die Beschwerdegegnerin und das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichten, erstere unter Antrag auf Abweisung, auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.  
 
2.1. Streitig und zu prüfen ist, ob Bundesrecht verletzt wurde, indem die Vorinstanz den Anspruch des Beschwerdeführers auf Kostenersatz im Zusammenhang mit seinem Studium am Institut B.________ verneint hat.  
 
2.2. Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19. Juni 2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535). Die dem angefochtenen Urteil zugrunde liegende Verfügung erging vor dem 1. Januar 2022. Nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts (statt vieler: BGE 144 V 210 E. 4.3.1; 129 V 354 E. 1 mit Hinweisen) sind daher die Bestimmungen des IVG und diejenigen der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) sowie des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG; SR 830.1) in den bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassungen anwendbar.  
 
2.3. Das kantonale Gericht hat die hier massgebenden gesetzlichen Grundlagen sowie die Rechtsprechung zutreffend wiedergegeben. Dies betrifft insbesondere die Voraussetzungen, unter denen Anspruch auf Kostenersatz im Rahmen einer erstmaligen beruflichen Ausbildung besteht (Art. 16 Abs. 1 IVG i.V.m. Art. 5 Abs. 1 IVV). Darauf wird verwiesen.  
 
2.4. Zu beachten gilt es, dass die Missachtung des Untersuchungsgrundsatzes eine Rechtsfrage darstellt (vgl. Urteile 9C_899/2017 vom 9. Mai 2018 E. 2.1 und 8C_673/2016 vom 10. Januar 2017 E. 3.2).  
 
3.  
Das kantonale Gericht hat den grundsätzlichen Anspruch des Beschwerdeführers auf eine erstmalige berufliche Ausbildung bejaht. In Würdigung der Akten betreffend die abgebrochene Ausbildung zum Polygrafen EFZ und der Stellungnahme der ABI ist es zum Schluss gekommen, dass der Beschwerdeführer mit dieser Ausbildung überwiegend wahrscheinlich überfordert gewesen ist. Es ist der Beschwerdegegnerin darin gefolgt, dass der Beschwerdeführer auf eine im Vergleich dazu weniger anspruchsvolle berufliche Ausbildung angewiesen ist und hat diese Voraussetzung hinsichtlich des Studiengangs "Bachelor of Arts" am Institut B.________ verneint. Zudem hat es erwogen, die beim Beschwerdeführer vorliegenden Einschränkungen erschienen mit Tätigkeiten, die nach einem allfällig erfolgreich absolvierten Studium ausgeübt werden könnten, nicht vereinbar. Zusammenfassend entspreche der vom Beschwerdeführer angestrebte Studiengang "Bachelor of Arts" am Institut B.________ nicht seinen Fähigkeiten. 
 
4.  
 
4.1. Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen vor Bundesgericht nur soweit vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG), was in der Beschwerde näher darzulegen ist. Der vorinstanzliche Verfahrensausgang allein bildet noch keinen hinreichenden Anlass im Sinne von Art. 99 Abs. 1 BGG für die Zulässigkeit von unechten Noven, die bereits im kantonalen Verfahren ohne Weiteres hätten vorgebracht werden können. Echte Noven, d.h. Tatsachen und Beweismittel, die sich erst nach dem vorinstanzlichen Entscheid ereigneten oder erst danach entstanden, sind vor Bundesgericht unzulässig (BGE 148 V 174 E. 2.2 mit Hinweis auf BGE 143 V 19 E. 1.2).  
 
4.2. In Nachachtung des Dargelegten haben die vom Beschwerdeführer vor Bundesgericht vorgelegten Beweismittel, die nach dem vorinstanzlichen Entscheid datieren, unberücksichtigt zu bleiben.  
Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers ist sodann nicht ersichtlich, inwiefern erst der angefochtene Entscheid Anlass dazu gegeben haben soll, die im Entscheidzeitpunkt bereits vorhandenen Beweismittel einzureichen. Diese scheinen vielmehr allesamt der Substanziierung von Umständen respektive Sachverhaltselementen zu dienen, die bereits im Verwaltungsverfahren thematisiert worden waren. Auf eine genaue Erörterung sowie Weiterungen hierzu kann jedoch mit Blick auf die nachfolgenden Ausführungen verzichtet werden. 
 
5.  
Zu prüfen bleibt, ob von einer Verletzung von Bundesrecht durch das kantonale Gericht auszugehen ist. Diesbezüglich weist der Beschwerdeführer zu Recht darauf hin, dass das ABI-Gutachten überholt ist: Die Expertise wurde am 29. Januar 2019 erstattet. Zu diesem Zeitpunkt war die Ausbildung zum Polygrafen EFZ abgebrochen worden. Ab Ende August respektive anfangs September 2019 hat der Beschwerdeführer am Institut B.________ den Studiengang "Bachelor of Arts" begonnen. Wie es mit seiner Eignung zu diesem Studium und den im Anschluss daran möglichen Tätigkeiten aus medizinischer Sicht aussieht, entbehrt einer umfassenden und allseitigen medizinischen Beurteilung. Diesen Mangel hätte die Beschwerdegegnerin vor ihrem Entscheid beheben müssen, etwa mittels ergänzender Rückfrage an die Experten der ABI. Hierzu ist die Sache an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen. Diese hat unter Berücksichtigung der konkreten Anforderungen des Studiums am Institut B.________ sowie des vom Beschwerdeführer anvisierten Berufsbildes die medizinische Eignung zu eruieren. Danach wird über den Anspruch auf Kostenersatz gemäss Art. 16 Abs. 1 IVG für das Studium am Institut B.________ - unter Berücksichtigung der weiteren Voraussetzungen - neu zu entscheiden sein. 
Hinzuweisen bleibt darauf, dass die schulischen Voraussetzungen für die Aufnahme zum Studium mit der Annahme des Beschwerdeführers am Institut B.________ nicht mehr in Frage zu stellen sind. Weiterungen erübrigen sich. 
 
6.  
Die Rückweisung der Sache an die Verwaltung gilt als vollständiges Obsiegen der leistungsansprechenden Partei nach Art. 66 Abs. 1 und Art. 68 Abs. 2 BGG (etwa: BGE 132 V 215 E. 6.1; Urteil 8C_694/2018 vom 22. Februar 2019 E. 4). Als unterliegende Partei trägt demnach die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Sie schuldet dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung von Fr. 2800.- für das bundesgerichtliche Verfahren (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens ist die Sache an das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau zurückzuweisen (Art. 67 und Art. 68 Abs. 5 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 17. November 2021 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Thurgau vom 15. Juli 2020 werden aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verfügung an die IV-Stelle des Kantons Thurgau zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.  
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen. 
 
4.  
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau zurückgewiesen. 
 
5.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 14. Juli 2022 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Das präsidierende Mitglied: Stadelmann 
 
Die Gerichtsschreiberin: Nünlist