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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
9C_278/2019  
 
 
Urteil vom 16. August 2019  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Meyer, präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichter Parrino, Bundesrichterin Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiberin N. Möckli. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Dr. Barbara Wyler, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, 
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (prozessuale Revision), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen 
vom 11. März 2019 (IV 2017/370). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Die 1977 geborene A.________ schloss Ende des Jahres 2008 ihr Medizinstudium ab und war anschliessend ab 1. Januar 2009 als Assistenzärztin der Gynäkologie im Spital B.________ tätig. Am 22. März 2009 zog sie sich bei einem Sturz mit dem Snowboard eine Fraktur LWK1 zu. Daraufhin meldete sich die Versicherte im August 2010 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Der Regionale Ärztliche Dienst (RAD) kam im Bericht vom 29. August 2012 - nachdem die Versicherte seit Januar 2012 als Assistenzärztin in einer psychiatrischen Klinik beschäftigt war - zum Schluss, in Berücksichtigung der lumbalen Rückenbeschwerden sei eine Ausbildung zur Fachärztin für Psychiatrie/Psychotherapie eine idealst leidensadaptierte Tätigkeit. Mit Verfügung vom 19. November 2012 lehnte die IV-Stelle des Kantons St. Gallen eine Kostengutsprache für eine solche Facharztausbildung mangels invaliditätsbedingten Mehrkosten ab und verneinte zugleich einen Rentenanspruch.  
 
A.b. Am 16. März 2017 ersuchte A.________ um prozessuale Revision der Verfügung vom 19. November 2012 mit der Begründung, eine Ausbildung zur psychiatrischen Fachärztin sei aufgrund der Rückenschmerzen nicht möglich gewesen. Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren trat die IV-Stelle auf dieses Gesuch nicht ein (Verfügung vom 12. September 2017).  
 
B.   
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen ab, soweit es darauf eintrat (Entscheid vom 11. März 2019). 
 
C.   
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, der vorinstanzliche Entscheid und die Verfügung vom 12. September 2017 seien aufzuheben. Auf ihr Revisionsgesuch vom 16. März 2017 sei materiell einzutreten und die fehlerhafte Verfügung zu revidieren. Eventualiter sei das Gesuch vom 16. März 2017 als Wiederanmeldungsgesuch nach Art. 87 Abs. 2 IVV entgegenzunehmen und der Beschwerdeführerin ab diesem Zeitpunkt eine ganze Invalidenrente auszurichten. Es sei ein zweiter Schriftenwechsel durchzuführen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es, unter Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), nur die geltend gemachten Vorbringen, falls allfällige weitere rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 138 I 274 E. 1.6 S. 280 mit Hinweis). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).  
 
1.2. Die Beschwerde ist innert der Beschwerdefrist vollständig begründet einzureichen (vgl. Art. 42 Abs. 1 BGG). Soweit erforderlich stellt das Bundesgericht die Beschwerde der Vorinstanz sowie den allfälligen anderen Parteien, Beteiligten oder zur Beschwerde berechtigten Behörden zu und setzt ihnen Frist zur Einreichung einer Vernehmlassung (Art. 102 Abs. 1 BGG). Ein zweiter Schriftenwechsel findet in der Regel nicht statt (Art. 102 Abs. 3 BGG).  
Nachdem vorliegend auf die Einholung einer Vernehmlassung verzichtet wurde (Art. 102 Abs. 1 BGG) und eine Replik einzig zu Darlegungen zu verwenden ist, zu denen die Ausführungen in der Vernehmlassung eines anderen Verfahrensbeteiligten Anlass gaben (vgl. BGE 135 I 19 E. 2.2 S. 21), besteht schon deswegen kein Grund, einen zweiten Schriftenwechsel durchzuführen. 
 
2.   
Die Beschwerdeführerin insistierte mit Eingabe vom 11. April 2017 an die IV-Stelle, bei ihrem Gesuch vom 16. März 2017 handle es sich "nicht um eine Wiederanmeldung aufgrund von einer Veränderung", sondern um ein Gesuch um prozessuale Revision im Sinne von Art. 53 Abs. 1 ATSG (vgl. weiter die Eingabe der Beschwerdeführerin vom 25. April 2017). Entsprechend prüfte und verfügte die IV-Stelle mit Verfügung vom 12. September 2017 einzig, ob die Voraussetzungen für eine prozessuale Revision der (Renten-) Verfügung vom 19. November 2012 erfüllt sind. Dies bildet den Anfechtungsgegenstand. Nicht dazu gehört, ob seit der Verfügung vom 19. November 2012 eine erhebliche Veränderung des Sachverhalts glaubhaft ist (Art. 17 ATSG i.V.m. Art. 87 Abs. 2 IVV; Urteil U 371/05 vom 20. Januar 2006 E. 2.3) oder die Zusprechung einer Rente (Urteil U 231/01 vom 1. Oktober 2002 E. 2). Die Vorinstanz ist daher zu Recht auf diese Anträge nicht eingetreten. Aus dem selben Grund ist auf diese Rechtsbegehren auch im bundesgerichtlichen Verfahren nicht einzutreten. 
 
3.   
Die Beschwerdeführerin bringt zunächst vor, in der Verfügung vom 12. September 2017 heisse es, auf das neue Leistungsbegehren werde nicht eingetreten. Zwischen einem Leistungsbegehren und einem Gesuch um prozessuale Revision bestehe jedoch ein wesentlicher Unterschied. Aus diesem formellen Grund sei die Verfügung mangelhaft und irreführend gewesen und müsse aufgehoben werden. Diesen Ausführungen kann nicht gefolgt werden. Aus der Verfügung vom 12. September 2017 geht - unabhängig davon wie die Beschwerdegegnerin vom Wortlaut her über das Gesuch betreffend prozessuale Revision entschieden hat (Nichteintreten, Abweisung) - unmissverständlich hervor, dass dieses Gesuch abgelehnt wurde. Die Verfügung konnte daher von der Beschwerdeführerin sachgerecht angefochten werden. Dies zeigt auch ihre im vorinstanzlichen Verfahren eingereichte Beschwerde. 
Soweit die Beschwerdeführerin im Übrigen rügt, die Vorinstanz sei mit keinem Wort auf diesen Mangel der Verfügung vom 12. September 2017 eingegangen, ist dem entgegenzuhalten, dass für das kantonale Gericht kein Anlass dazu bestand. Denn die Beschwerdeführerin konnte die Verfügung sachgerecht anfechten. 
 
4.   
Weiter ist strittig, ob der vorinstanzliche Entscheid Bundesrecht verletzt, indem darin bestätigt wird, dass die Voraussetzungen für eine prozessuale Revision der Verfügung vom 19. November 2012 nicht erfüllt sind. 
 
4.1.  
 
4.1.1. Gemäss Art. 53 Abs. 1 ATSG müssen formell rechtskräftige Verfügungen und Einspracheentscheide in Revision gezogen werden, wenn die versicherte Person oder der Versicherungsträger nach deren Erlass erhebliche neue Tatsachen entdeckt oder Beweismittel auffindet, deren Beibringung zuvor nicht möglich war.  
 
4.1.2. Neu sind Tatsachen, die sich bis zum Zeitpunkt, da im Hauptverfahren noch tatsächliche Vorbringen prozessual zulässig waren, verwirklicht haben, jedoch dem Revisionsgesuchsteller trotz hinreichender Sorgfalt nicht bekannt waren. Die neuen Tatsachen müssen ferner erheblich sein, d.h. sie müssen geeignet sein, die tatbestandliche Grundlage des zur Revision beantragten Entscheids zu verändern und bei zutreffender rechtlicher Würdigung zu einer anderen Entscheidung zu führen. Neue Beweismittel haben entweder dem Beweis der die Revision begründenden neuen erheblichen Tatsachen oder dem Beweis von Tatsachen zu dienen, die zwar im früheren Verfahren bekannt gewesen, aber zum Nachteil des Gesuchstellers unbewiesen geblieben sind. Erheblich ist ein Beweismittel, wenn anzunehmen ist, es hätte zu einem anderen Urteil geführt, falls das Gericht resp. die Verwaltung im Hauptverfahren davon Kenntnis gehabt hätte. Ausschlaggebend ist, dass das Beweismittel nicht bloss der Sachverhaltswürdigung, sondern der Sachverhaltsfeststellung dient. Es bedarf dazu neuer Elemente tatsächlicher Natur, welche die Entscheidungsgrundlagen als objektiv mangelhaft erscheinen lassen (BGE 143 V 105 E. 2.3 S. 108 mit Hinweisen).  
 
4.1.3. Neue Tatsachen und Beweismittel im Sinne von Art. 53 Abs. 1 ATSG sind innert 90 Tagen nach ihrer Entdeckung geltend zu machen; nebst dieser relativen Frist gilt eine absolute 10-jährige Frist, die mit der Eröffnung der Verfügung resp. des Einspracheentscheides zu laufen beginnt (BGE 143 V 105 E. 2.1 S. 107). Grundsätzlich bestimmt sich der Zeitpunkt, in welchem die Partei den angerufenen Revisionsgrund hätte entdecken können, nach dem Prinzip von Treu und Glauben. Praxisgemäss beginnt die relative 90-tägige Revisionsfrist zu laufen, sobald bei der Partei eine sichere Kenntnis über die neue erhebliche Tatsache oder das entscheidende Beweismittel vorhanden ist. Blosse Vermutungen oder gar Gerüchte genügen dagegen nicht und vermögen den Lauf der Revisionsfristen nicht in Gang zu setzen. Die sichere Kenntnis ist nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht erst dann gegeben, wenn der Revisionskläger die neue erhebliche Tatsache sicher beweisen kann, sondern es genügt ein auf sicheren Grundlagen fussendes Wissen darüber (BGE 143 V 105 E. 2.4 S. 108).  
 
4.2.  
 
4.2.1. Gemäss Vorinstanz sei fraglich, ob die Aufgabe der psychiatrischen Facharztausbildung bzw. die damit verloren gegangene berufliche Perspektive eine relevante Tatsache im Sinne von Abs. 53 Abs. 1 ATSG bezogen auf die leistungsabweisende Verfügung vom 19. November 2012 darstelle. Die Beschwerdeführerin habe jedoch ohnehin das Revisionsgesuch nicht innert der 90-tägigen (relativen) Frist eingereicht, denn der Versicherten sei nach Beendigung ihrer Assistenzarzttätigkeit, somit spätestens anfangs 2013 klar gewesen, dass für die Bestimmung des Invalideneinkommens nicht mehr auf den tatsächlich als angestellte Assistenzärztin erzielten Verdienst abgestellt werden könne bzw. dass diese Tätigkeit aus ihrer Sicht nicht (mehr) als Grundlage für die Bestimmung ihrer Resterwerbsfähigkeit dienen könne. Daran vermöchten die Verfügungen des Unfallversicherers vom 4. Januar 2016, 13. Februar 2017 und 28. September 2016 nichts zu ändern, sei doch nicht ersichtlich, inwiefern darin eine relevante Tatsache im Sinne von Art. 53 Abs. 1 ATSG bezogen auf die im invalidenversicherungsrechtlichen Verfahren ergangene Verfügung vom 19. November 2012 enthalten sei.  
 
4.2.2. Die Beschwerdeführerin bringt dagegen im Wesentlichen vor, für den Beginn der 90-tägigen Frist seien die UVG-Verfügungen bzw. Entscheide massgebend. Erst mit diesen sei die rentenabschliessende Arbeitsfähigkeit der Beschwerdeführerin beurteilt worden. Die IV-Stelle habe nämlich mit der UVG-Versicherung koordinieren müssen.  
 
4.3.  
 
4.3.1. Der Umstand, dass eine versicherte Person eine Ausbildung wider Erwarten nicht realisieren und aufgrund dessen nur einer deutlich schlechter bezahlten Arbeit nachgehen kann, stellt grundsätzlich eine erhebliche neue Tatsache im prozessualrevisionsrechtlichen Sinne dar (Urteil 9C_682/2017 E. 4.3.4 vom 6. September 2018). Sollte sich herausstellen, dass entgegen der Verfügung vom 19. November 2012 die Ausbildung zur Fachärztin für Psychiatrie/Psychotherapie (Assistenzarzttätigkeit) keiner leidensangepassten Tätigkeit entsprach, wäre unter dem Titel der prozessualen Revision auf diese Verfügung zurückzukommen.  
 
4.3.2. Wie dem Gesuch der Beschwerdeführerin vom 16. März 2017 zu entnehmen ist, vertritt sie die Auffassung, dass ihr die Ausbildung zur Fachärztin für Psychiatrie/Psychotherapie nicht möglich gewesen sei. Sie verwies auf die Aufgabe der Assistenzarzttätigkeit per 31. Dezember 2012 bzw. 30. Juni 2013 wegen Rückenproblemen (vgl. auch ihre Eingabe vom 11. April 2017, Einwand vom 23. Juni 2017 sowie die Beschwerde und Replik im Verfahren vor dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen). Diese Behauptung hat die Beschwerdeführerin jedoch nicht mit Arztberichten unterlegt. Gleich wie ein Observationsbericht für sich allein keine sichere Basis für Sachverhaltsfeststellungen betreffend den Gesundheitszustand und die Arbeitsfähigkeit einer versicherten Person bildet (BGE 143 V 105 E. 2.4 S. 109), erbringt auch die Aufgabe der Assistenzarzttätigkeit durch die Beschwerdeführerin nicht den Beweis, dass ihr diese Arbeit aus gesundheitlichen Gründen nicht zumutbar gewesen ist. Aus den ins Recht gelegten Entscheiden des Unfallversicherers ergibt sich zudem nichts, dass eine Assistenzarzttätigkeit der Beschwerdeführerin im Bereich Psychiatrie/Psychotherapie als unzumutbar erscheinen liesse (vgl. Verfügungen des Unfallversicherers vom 4. Januar 2016, 28. September 2016, 13. Februar 2017, Einspracheentscheid des Unfallversicherers vom 18. Februar 2019).  
 
4.3.3. Obwohl die Beschwerdeführerin gemäss den vorinstanzlichen Feststellungen (subjektiv) seit Juli 2013 überzeugt war, die Ausbildung zur Fachärztin für Psychiatrie/Psychotherapie (Assistenzarzttätigkeit) nicht ausüben zu können, liegt damit - wie aufgezeigt - noch kein auf sicheren Grundlagen fussendes Wissen vor. Entgegen dem angefochtenen Entscheid kann für den Beginn des Fristenlaufs nicht an dieser Tatsache angeknüpft werden. Zur Frage, ab wann die Versicherte aufgrund einer ärztlichen Beurteilung über eine solch sichere Wissensgrundlage verfügte (oder allenfalls hätte verfügen sollen), äusserte sich die Vorinstanz nicht. Wie es sich damit verhält, kann offengelassen werden, denn nach dem Dargelegten zeigt sich, dass der Argumentation der IV-Stelle in der Verfügung vom 12. September 2017 zu folgen ist, die Beschwerdeführerin habe keine neuen Tatsachen nachgewiesen, die bereits im Zeitpunkt der Verfügung vom 19. November 2012 bestanden haben (vgl. E. 4.3.2). Daher konnte dem Gesuch der Beschwerdeführerin vom 16. März 2017 von vornherein kein Erfolg beschieden sein. Der vorinstanzliche Entscheid, der die Verfügung der IV-Stelle mit einer anderen Begründung schützte, ist folglich im Ergebnis zu bestätigen.  
 
5.   
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die Kosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
 Das Bundesgericht erkennt:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten wird. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 16. August 2019 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Das präsidierende Mitglied: Meyer 
 
Die Gerichtsschreiberin: Möckli