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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
1B_453/2020  
 
 
Urteil vom 23. September 2020  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Chaix, Präsident, 
Bundesrichter Müller, Merz, 
Gerichtsschreiber Härri. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwalt Eric Stern, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen. 
 
Gegenstand 
Sicherheitshaft, 
 
Beschwerde gegen die Verfügung des Obergerichts 
des Kantons Schaffhausen vom 1. September 2020 
(50/2020/12). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Am 5. März 2020 verurteilte das Kantonsgericht Schaffhausen den ukrainischen Staatsangehörigen A.________ wegen gewerbs- und bandenmässigen Diebstahls, mehrfacher Brandstiftung, Sachbeschädigung, mehrfacher, teilweise versuchter Entwendung eines Personenwagens zum Gebrauch und Verletzung von Verkehrsregeln zu 3 Jahren und 9 Monaten Freiheitsstrafe, unter Anrechnung der Untersuchungs- und Sicherheitshaft von 706 Tagen, sowie zu Fr. 120.-- Busse. Überdies verwies es ihn für 5 Jahre des Landes. Es behielt ihn bis zur Rechtskraft seines Urteils oder dem Antritt einer freiheitsentziehenden Sanktion, längstens bis zum 5. September 2020, in Sicherheitshaft. Das Kantonsgericht erachtete es insbesondere als erwiesen, dass er während rund zwei Monaten in der Schweiz zusammen mit zwei weiteren ukrainischen Staatsangehörigen 24 Diebstähle begangen habe. 
A.________ erhob Berufung. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen verzichtete auf eine Anschlussberufung. 
Am 13. August 2020 teilte das Obergericht des Kantons Schaffhausen den Parteien mit, es stelle sich die Frage der Verlängerung der längstens bis zum 5. September 2020 angeordneten Sicherheitshaft. Es gab den Parteien Gelegenheit, dazu Stellung zu nehmen. Am 14. August 2020 beantragte A.________ seine Haftentlassung. Die Staatsanwaltschaft beantragte am 17. August 2020 in der Sache die Verlängerung der Haft. Dazu nahm A.________ am 21. August 2020 Stellung. 
Mit Verfügung vom 1. September 2020 behielt die Verfahrensleiterin des Obergerichts A.________ bis zum 30. November 2020 in Sicherheitshaft (Dispositiv Ziffer 1). Sie bejahte den dringenden Tatverdacht sowie Fluchtgefahr und beurteilte die Haft als verhältnismässig. 
 
B.  
A.________ führt "Beschwerde in Strafsachen (einschliesslich subsidiäre Verfassungsbeschwerde) " mit dem Antrag, Dispositiv Ziffer 1 der Verfügung der Verfahrensleiterin des Obergerichts aufzuheben und ihn aus der Sicherheitshaft zu entlassen. Eventualiter sei die Sache in Aufhebung von Dispositiv Ziffer 1 an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
 
C.  
Das Obergericht hat auf Vernehmlassung verzichtet. Die Staatsanwaltschaft beantragt unter Hinweis auf die angefochtene Verfügung die Abweisung der Beschwerde. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Gegen den angefochtenen Entscheid ist gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG die Beschwerde in Strafsachen gegeben. Ein kantonales Rechtsmittel steht nicht zur Verfügung. Die Vorinstanz hat nach Art. 233 i.V.m. Art. 380 StPO als einzige kantonale Instanz entschieden. Die Beschwerde ist somit gemäss Art. 80 BGG zulässig. Der Beschwerdeführer ist nach Art. 81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 1 BGG zur Beschwerde berechtigt. Die angefochtene Verfügung stellt einen Zwischenentscheid dar, der ihm einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG verursachen kann. Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen sind ebenfalls erfüllt und geben zu keinen Bemerkungen Anlass.  
Da die Beschwerde in Strafsachen zulässig ist, scheidet gemäss Art. 113 BGG die subsidiäre Verfassungsbeschwerde aus. 
 
1.2. Das Bundesgericht gab dem Beschwerdeführer am 14. September 2020 Gelegenheit zur Einreichung einer Replik bis zum 17. September 2020. Er hat mit E-Mail vom 22. September 2020 repliziert. Die Replik ist damit verspätet und kann schon deshalb nicht berücksichtigt werden. Eingaben per E-Mail sind ohnehin unzulässig (Urteil 9C_499/ 2020 vom 16. September 2020).  
 
2.   
Soweit der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanz habe ihren Entscheid unzureichend begründet und damit seinen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) verletzt, ist die Beschwerde unbehelflich. Die Vorinstanz brauchte sich nicht mit sämtlichen Vorbringen des Beschwerdeführers im Einzelnen auseinanderzusetzen. Wenn sie sich auf die für den Entscheid wesentlichen Gesichtspunkte beschränkt hat, ist das nicht zu beanstanden (BGE 143 III 65 E. 5.2 S. 70 f.; 139 IV 179 E. 2.2 S. 183; je mit Hinweisen). 
 
3.   
Gemäss Art. 221 Abs. 1 lit. a StPO ist Sicherheitshaft zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie sich durch Flucht dem Strafverfahren oder der zu erwartenden Sanktion entzieht. 
Der Beschwerdeführer bestreitet den dringenden Tatverdacht nicht. Ob er die Fluchtgefahr hinreichend substanziiert in Frage stellt, kann offen bleiben. 
Das Kantonsgericht verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 9 Monaten. Seit dem 30. März 2018 befindet er sich in Haft. Im Zeitpunkt des angefochtenen Entscheids drohte ihm daher ein weiterer Freiheitsentzug von 16 Monaten. Dies stellt einen erheblichen Fluchtanreiz dar. Der Beschwerdeführer ist ukrainischer Staatsangehöriger und wohnt in seinem Heimatland zusammen mit seiner Ehefrau sowie seinen beiden minderjährigen Kindern. Zur Schweiz hat er keine Beziehung. Es hält ihn hier somit nichts zurück. Wenn die Vorinstanz unter diesen Umständen Fluchtgefahr bejaht hat, verletzt das kein Bundesrecht. 
 
4.  
 
4.1. Der Beschwerdeführer macht geltend, die Dauer der Haft sei unverhältnismässig.  
 
4.2. Gemäss Art. 31 Abs. 3 BV und Art. 5 Ziff. 3 EMRK hat eine in strafprozessualer Haft gehaltene Person Anspruch darauf, innerhalb einer angemessenen Frist richterlich abgeurteilt oder während des Strafverfahrens aus der Haft entlassen zu werden. Eine übermässige Haftdauer stellt eine unverhältnismässige Beschränkung dieses Grundrechts dar. Nach Art. 212 Abs. 3 StPO dürfen deshalb Untersuchungs- und Sicherheitshaft nicht länger dauern als die zu erwartende Freiheitsstrafe, wobei nach ständiger Praxis bereits zu vermeiden ist, dass die Haftdauer in grosse Nähe zur zu erwartenden Freiheitsstrafe rückt (BGE 145 IV 179 E. 3.1 S. 180 f. mit Hinweisen).  
Nach der Rechtsprechung ist bei der Prüfung der zulässigen Haftdauer die Möglichkeit der bedingten Entlassung aus dem Strafvollzug grundsätzlich ausser Acht zu lassen. Die bedingte Entlassung hängt vom Verhalten des Gefangenen im Strafvollzug und von der Prognose hinsichtlich seines zukünftigen Verhaltens in Freiheit ab (Art. 86 Abs. 1 StGB). Die Beurteilung dieser Fragen fällt in das Ermessen der zuständigen Behörde (Art. 86 Abs. 2 StGB). Es ist in der Regel nicht Aufgabe des Haftrichters, eine solche Prognose zu stellen. Die Möglichkeit der bedingten Entlassung ist nur ausnahmsweise zu berücksichtigen, wenn es die konkreten Umstände des Einzelfalls gebieten, insbesondere wenn absehbar ist, dass die bedingte Entlassung mit grosser Wahrscheinlichkeit erfolgen dürfte (BGE 145 IV 179 E. 3.4 S. 182; 143 IV 160 E. 4.2 S. 166; je mit Hinweisen). 
 
4.3. Aufgrund des kantonsgerichtlichen Urteils muss der Beschwerdeführer mit einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 9 Monaten rechnen (BGE 145 IV 179 E. 3.4 S. 182 mit Hinweis). Im Zeitpunkt des angefochtenen Entscheids befand er sich seit 29 Monaten in Haft. Die Haftdauer ist damit noch nicht in grosse Nähe der im Falle einer Verurteilung zu erwartenden Strafe gerückt. Wenn die Vorinstanz die Möglichkeit der bedingten Entlassung nach Verbüssung von zwei Dritteln der Freiheitsstrafe ausser Acht gelassen hat, ist das im Lichte der dargelegten Rechtsprechung nicht zu beanstanden. Wie das Kantonsgericht ausführt, ist der Beschwerdeführer mittellos und hat er in der Ukraine keine feste Arbeitsstelle. Er habe aus finanziellen Gründen delinquiert. Insoweit sei zu seinen Gunsten festzuhalten, dass er verheiratet sei und zwei minderjährige Kinder habe. Er sei somit unter Druck gestanden, für seine Familie zu sorgen (Urteil S. 57 E. 4.3.2 und S. 58 E. 4.7). Dass sich daran etwas geändert hat, macht der Beschwerdeführer nicht geltend und ist nicht ersichtlich. Lebt er in seinem Heimatland aber mit seiner Familie nach wie vor in prekären finanziellen Verhältnissen und besteht daher der Grund für die ihm vorgeworfene Delinquenz fort, kann nicht gesagt werden, dass ihm für sein künftiges Legalverhalten mit grosser Wahrscheinlichkeit eine günstige Prognose zu stellen und er daher nach Verbüssung von zwei Dritteln der Freiheitsstrafe bedingt zu entlassen wäre.  
Die Beschwerde ist im vorliegenden Punkt deshalb unbegründet. 
 
5.   
Dass mildere Ersatzmassnahmen anstelle der Sicherheitshaft die Fluchtgefahr hinreichend bannen könnten, macht der Beschwerdeführer nicht geltend und ist nicht erkennbar. 
 
6.  
Soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung des Gleichbehandlungsgebots gemäss Art. 29 Abs. 1 BV rügt, da er gegenüber den beiden Mitbeschuldigten benachteiligt werde, kann auf die Beschwerde nicht eingetreten werden. Er führt nicht hinreichend substanziiert aus und belegt nicht, dass bei beiden Mitbeschuldigten in jeder Hinsicht dieselben rechtserheblichen Umstände vorliegen wie bei ihm (zu den Begründungsanforderungen BGE 146 IV 114 E. 2.1 S. 118 mit Hinweisen). Es ist nicht Aufgabe des Bundesgerichts, in den umfangreichen Akten - je ein Faszikel der Vorinstanz und des Kantonsgerichts sowie 10 Bundesordner der Staatsanwaltschaft - danach zu forschen, ob sich darin gegebenenfalls Anhaltspunkte finden lassen, welche die Rüge des Beschwerdeführers stützen. 
 
7.  
Die Beschwerde ist demnach abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Da sie aussichtslos war, kann die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung nach Art. 64 BGG nicht bewilligt werden. In Anbetracht der finanziellen Verhältnisse des Beschwerdeführers rechtfertigt es sich jedoch, auf die Erhebung von Gerichtskosten zu verzichten (Art. 66 Abs. 1 Satz 2 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden kann. 
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen. 
 
3.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
4.  
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der Staatsanwaltschaft und dem Obergericht des Kantons Schaffhausen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 23. September 2020 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Chaix 
 
Der Gerichtsschreiber: Härri