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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_471/2022  
 
 
Urteil vom 24. August 2022  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin, 
Bundesrichter Muschietti, 
Bundesrichterin van de Graaf, 
Gerichtsschreiberin Arquint Hill. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Güterstrasse 33, Postfach, 8010 Zürich, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Nichteintreten auf Berufung (rechtswidrige Einreise), 
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich, I. Strafkammer, vom 23. Februar 2022 (SB220059-O/U/bs). 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Bezirksgerichts Zürich vom 14. Oktober 2021 wegen rechtswidriger Einreise mit einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen zu Fr. 10.-- bestraft. Das Urteil wurde mündlich eröffnet und dem Beschwerdeführer im Dispositiv übergeben. Seine im Anschluss daran eingereichte Eingabe vom 21. Oktober 2021 nahm das Bezirksgericht - nach Überweisung durch die III. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich, an welche die Eingabe adressiert gewesen war - als Berufungsanmeldung entgegen und verfasste eine schriftliche Urteilsbegründung. Die vollständig begründete Version des Urteils vom 14. Oktober 2021 konnte dem Beschwerdeführer an seiner letzten bekannten Adresse beim Bundesasylzentrum B.________ am 12./17. Januar 2022 allerdings nicht zugestellt werden, da er gemäss Vermerk der Post "abgereist" war. Weil auch eine telefonische Anfrage beim Bundesasylzentrum vom 26. Januar 2022 keine weiteren Informationen zum aktuellen Aufenthaltsort des Beschwerdeführers ergab, veröffentlichte das Bezirksgericht das begründete Urteil in Anwendung von Art. 88 Abs. 1 lit. a StPO am 27. Januar 2022 im Amtsblatt des Kantons Zürich. 
Der Beschwerdeführer wandte sich offenbar im Dezember 2021 und erneut mit Eingabe vom 13. Januar 2022 an die III. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich, wobei er sich nach dem Verfahrensstand erkundigte (unter Angabe seiner aktuellen Wohnadresse sowie mit Entscheiden und Schreiben des Staatssekretariats für Migration [SEM] vom 20. Oktober und 10. Dezember 2021 [kantonale Akten, act. 40/1-5]). 
Das Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer, erachtete die Voraussetzungen für eine Publikation im Sinne von 88 Abs. 1 lit. a StPO als gegeben und trat mit Beschluss vom 23. Februar 2022 gestützt auf Art. 403 Abs. 1 und 3 StPO auf die Berufung des Beschwerdeführers nicht ein, weil keine Berufungserklärung innert der laufenden Frist von 20 Tagen per Datum der Publikation gemäss Art. 399 Abs. 3 StPO eingegangen war. 
Der Beschwerdeführer beantragt mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht die Aufhebung des Beschlusses vom 23. Februar 2022. Er macht sinngemäss geltend, die Vorinstanz habe die Voraussetzungen für eine Publikation des begründeten Urteils durch das Bezirksgericht im Amtsblatt rechtswidrig bejaht und sei in der Folge auf seine Berufung zu Unrecht nicht eingetreten. 
 
2.  
Soweit der Beschwerdeführer beantragt, zur Verhandlung vorgeladen zu werden oder daran teilnehmen zu dürfen, ist darauf hinzuweisen, dass das bundesgerichtliche Beschwerdeverfahren regelmässig schriftlich ist (Art. 58 Abs. 2 BGG). Eine mündliche Parteiverhandlung findet vor Bundesgericht nur ausnahmsweise statt, und die Parteien haben grundsätzlich keinen Anspruch darauf (Art. 57 BGG). Im vorliegenden Fall besteht hierzu keine Notwendigkeit. Entsprechend ist es auch nicht nötig, dem Beschwerdeführer einen russischsprachigen Übersetzer beizugeben. Im Übrigen hat er seinen Standpunkt in seiner Rechtsschrift an das Bundesgericht, die auf Deutsch verfasst wurde, ausführlich dargetan. 
 
3.  
Im Strafprozess bestimmt Art. 88 StPO, unter welchen Voraussetzungen die förmliche Zustellung durch eine öffentliche Bekanntmachung ersetzt werden kann. Sie erfolgt nur, wenn eine Zustellung nach Art. 85 ff. StPO nicht möglich ist. Die öffentliche Bekanntmachung ist mithin ultima ratio (vgl. BGE 147 IV 518 E. 3.1; Urteile 6B_31/2022 vom 23. Mai 2022 E. 4; 6B_931/2018 vom 9. April 2019 E. 1.3 und 5A_522/2015 vom 12. Oktober 2015 E. 3.3.1). 
Art. 88 StPO nennt (wie Art. 141 ZPO; s.a. Urteil 4A_646/2020 vom 12. April 2021 E. 3.1) abschliessend drei Konstellationen, bei deren Vorliegen die öffentliche Bekanntmachung zulässig ist: wenn der Aufenthaltsort des Adressaten unbekannt ist und trotz zumutbarer Nachforschungen nicht ermittelt werden kann (lit. a), wenn eine Zustellung unmöglich ist oder mit ausserordentlichen Umtrieben verbunden wäre (lit. b) und wenn eine Partei mit Wohnsitz oder Sitz im Ausland entgegen der Anweisung des Gerichts kein Zustellungsdomizil in der Schweiz bezeichnet hat (lit. c). Da die öffentliche Bekanntmachung das letzte Mittel für die Zustellung bleiben muss, kann ein unbekannter Aufenthaltsort oder die Unmöglichkeit der Zustellung im Sinne von Art. 88 Abs. 1 lit. a und lit. b StPO erst dann angenommen werden, wenn sämtliche zumutbaren Nachforschungen vorgenommen wurden, jedoch erfolglos geblieben sind. Als zumutbare Nachforschungen im Sinne von Art. 88 Abs. 1 lit. a StPO gelten etwa Erkundigungen bei der letzten bekannten Adresse, der zuletzt zuständigen Poststelle, bei Einwohnerregistern, Nachbarn, den nächsten Angehörigen oder allenfalls beim aktuellen Arbeitgeber (vgl. Urteile 6B_998/2021 vom 22. Juni 2022 E. 1.2, 6B_317/2022 vom 23. Mai 2022 E. 4 und 6B_652/2013 vom 26. November 2013 E. 1.4.3). Bevor die Behörde den Weg der Veröffentlichung einschlägt, hat sie sich durch die nach der Sachlage gebotenen Nachforschungen zu vergewissern, dass der Aufenthaltsort nicht nur ihr, sondern allgemein unbekannt ist. Erst wenn solche - zumutbaren - Erkundigungen nicht mehr möglich sind oder keine Aussichten auf Erfolg versprechen, besteht Raum für eine öffentliche Bekanntmachung nach Art. 81 Abs.1 lit. a StPO
Wird zur öffentlichen Bekanntmachung gegriffen, obschon die Voraussetzungen dafür offensichtlich nicht gegeben sind, ist der Entscheid mit einem derart schwerwiegenden Verfahrensmangel behaftet, dass er in der Regel als nichtig erscheint (BGE 136 III 571 E. 6.3; 129 I 361 E. 2.2; Urteile 4A_646/2020 vom 12. April 2021 E. 3.3.2; 5A_699/2019 vom 30. März 2020 E. 5.1, nicht publ. in BGE 146 III 247; 5A_667/2018 vom 2. April 2019 E. 4.2; 4A_224/2017 vom 27. Juni 2017 E. 2.3.2) Das gilt zumindest in jenen Fällen, in denen der Adressat keine Kenntnis vom Verfahren hatte (vgl. BGE 129 I 361 E. 2.2; Urteil 5A_699/2019 vom 30. März 2020 E. 5.1, nicht publ. in BGE 146 III 247). 
 
4.  
Das begründete Urteil des Bezirksgerichts Zürich vom 14. Oktober 2021 konnte dem Beschwerdeführer an seiner letzten bekannten Adresse beim Bundesasylzentrum B.________ nicht zugestellt werden; es wurde am 12./17. Januar 2022 mit dem Vermerk der Post "abgereist" an den Absender retourniert (Beschluss S. 2 E. 1). Das begründete Urteil konnte folglich nicht zur Abholung im Sinne von Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO hinterlegt werden. Insofern geht die Vorinstanz zusammen mit dem Bezirksgericht rechtsfehlerfrei davon aus, dass der Beschwerdeführer im Zeitpunkt des Zustellversuchs unbekannten Aufenthalts im Sinne von Art. 88 Abs. 1 lit. a StPO war (vgl. hierzu Urteil 6B_652/2013 vom 26. November 2013 E. 1.4.3). 
Hingegen ist der Vorinstanz nicht beizupflichten, wenn sie mit Blick auf die einzig erfolgte Telefonanfrage beim Bundesasylzentrum B.________ ohne weitere Erläuterungen stillschweigend annimmt, das Bezirksgericht habe sich aller ihm zu Gebote stehenden und zumutbaren Mittel bedient, um den Aufenthaltsort des Beschwerdeführers zu erforschen (Beschluss S. 3 E. 3). Dies ist angesichts der auf dem Spiel stehenden Interessen für den Beschwerdeführer - ein drohender Rechtsmittelverlust - offensichtlich nicht der Fall, zumal weitere - zumutbare - Abklärungen ohne Weiteres denkbar gewesen wären. Konkret in Betracht kamen vorliegend mit Blick auf die in den Akten vorhandenen Daten (z.B. ZEMIS-Nummer, Verfahrensnummer betreffend hängiges Asylverfahren, persönliche E-Mail-Adresse usw.) namentlich eine Anfrage beim SEM sowie eine direkte elektronische Kontaktaufnahme beim Beschwerdeführer selber. Zudem wären Anfragen auch bei der Migrationsbehörde des Kantons Zürich, dem Sozialamt des Kantons Zürich sowie bei der Administration der C.________-Kirche mit Sitz in Zürich möglich und zumutbar gewesen (vgl. kantonale Akten, insbesondere act. 9, act. 11/1 und act. 11/2, siehe insofern auch Urteil des Bezirksgerichts vom 14. Oktober 2021). Indessen wurden vorliegend keine solchen weiteren, auf der Hand liegenden Nachforschungen zum Aufenthaltsort des Beschwerdeführers angestellt, sondern es wurde vielmehr - nach einer einzigen telefonischen Anfrage beim Bundesasylzentrum B.________ - umgehend eine öffentliche Bekanntmachung im Amtsblatt veranlasst. Die sich aufdrängenden und erfolgversprechenden Möglichkeiten zur Ermittlung des Aufenthaltsorts des Beschwerdeführers wurden damit keineswegs ausgeschöpft. Die Voraussetzungen für die Anwendung der Zustellfiktion nach Art. 88 Abs. 1 lit. a StPO waren folglich - mangels gehöriger Abklärungen - entgegen der insoweit rechtsfehlerhaften Auffassung der Vorinstanz nicht erfüllt. Die am 27. Januar 2022 vorgenommene Publikation des begründeten Urteils des Bezirksgerichts Zürich vom 14. Oktober 2021 wirkte damit nicht fristauslösend (vgl. Urteil 6B_931/2018 vom 9. April 2019 E. 1.3 mit Hinweis auf die Literatur). 
Angesichts dieses Ergebnisses erübrigt es sich auf die weiteren Vorbringen in Bezug auf die Frage der Zustellung einzugehen. Insbesondere kann offenbleiben, ob die III. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich die an sie gerichtete Anfrage des Beschwerdeführers vom 13. Januar 2022 zum Verfahrensstand an das dannzumal zuständige Bezirksgericht hätte weiterleiten müssen. 
 
5.  
Die Vorinstanz hat sich mit der materiellen Seite der Angelegenheit nicht befasst. Folglich kann dies auch das Bundesgericht nicht tun (Art. 80 Abs. 1 BGG). Der Beschwerdeführer ist mit seinen diesbezüglichen sinngemässen Ausführungen nicht zu hören. Ebenso wenig ist auf die Beschwerde einzutreten, soweit der Beschwerdeführer die Ausrichtung einer Genugtuung wegen langfristigem seelischem Schmerz und moralischem Schaden beantragt. 
 
6.  
Die Beschwerde ist nach dem Gesagten gutzuheissen. soweit darauf eingetreten werden kann. Für das bundesgerichtliche Verfahren sind weder Kosten zu erheben noch Entschädigungen auszurichten. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung im Sinne von Art. 64 BGG wird gegenstandslos. Da es sich um einen Entscheid handelt, der die Beurteilung in der Sache nicht präjudiziert, und in Nachachtung des Beschleunigungsgebots (Art. 29 Abs. 1 BV), kann auf die Einholung von Vernehmlassungen verzichtet werden (vgl. Urteil 6B_151/2019 vom 17. April 2019 E. 5). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist. Der Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich, I. Strafkammer, vom 23. Februar 2022 wird aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
2.  
Es werden keine Kosten erhoben und keine Entschädigungen ausgerichtet. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 24. August 2022 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari 
 
Die Gerichtsschreiberin: Arquint Hill