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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
6B_74/2020  
 
 
Urteil vom 24. September 2020  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Denys, Präsident, 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, 
Bundesrichter Muschietti, 
Bundesrichterin van de Graaf, 
Bundesrichterin Koch, 
Gerichtsschreiber Briw. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Verweigerung der Namensangabe, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern, 2. Strafkammer, vom 11. Dezember 2019 (SK 19 144). 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. A.________ wurde im Strafbefehlsverfahren vorgeworfen, er habe am 11. Januar 2018 mit seinem Mobiltelefon eine Amtshandlung auf dem Bahnhofplatz in Biel gefilmt. Trotz mehrmaliger Aufforderung seitens der Polizei, dies zu unterlassen und Distanz zu halten, um die Anhaltung nicht zu behindern, habe er weiter gefilmt. Sodann habe er sich trotz mehrfacher Aufforderung seitens der Polizei geweigert, seinen Namen zu nennen und begonnen, sich körperlich zur Wehr zu setzen, als die Polizisten ihm mitgeteilt hätten, dass sie ihn zwecks Identitätsabklärung auf den Polizeiposten nehmen würden.  
 
1.2. Das Regionalgericht Berner Jura-Seeland sprach ihn am 14. Februar 2019 von der Anklage der Hinderung einer Amtshandlung (Art. 286 StGB) und der Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz (BetmG) frei und bestrafte ihn wegen Verweigerung der Namensangabe gemäss Art. 15 des Gesetzes über das kantonale Strafrecht (KStrG; BSG 311.1) mit einer Übertretungsbusse von Fr. 150.--.  
 
1.3. Auf seine Berufung hin stellte das Obergericht des Kantons Bern am 11. Dezember 2019 die Rechtskraft des Freispruchs von der Anklage der Widerhandlung gegen das BetmG fest und verurteilte ihn wegen Verweigerung der Namensangabe zu einer Übertretungsbusse von Fr. 150.--.  
 
1.4. A.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, den Schuldspruch aufzuheben und das Verfahren einzustellen, die Strafe und die Nebenfolgen des Urteils zu überprüfen sowie zu klären, ob der Vorinstanz eine unkorrekte Anklage zugrunde gelegen habe. Er beantragt die unentgeltliche Rechtspflege.  
 
1.5. Die Vorinstanz verzichtete auf Vernehmlassung. Die Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern reichte innert Frist keine Vernehmlassung ein.  
 
2.  
 
2.1. Der Beschwerdeführer bringt vor, der Freispruch von der Hinderung einer Amtshandlung sei rechtsgültig und somit die Verurteilung wegen Verweigerung der Namensangabe in Bezug auf den gleichen Sachverhalt ungültig ("ne bis in idem").  
 
2.2. Die Vorinstanz führt aus, die beiden Polizeibeamten hätten die Personalien des Beschwerdeführers feststellen wollen und ihn mehrmals aufgefordert, seinen Namen zu nennen bzw. seine Identitätskarte zu zeigen. Er habe den Ausweis schlussendlich hervorgeholt, diesen jedoch mit den Fingern verdeckt gehalten. Er habe die Herausgabe bis zum Schluss verweigert und habe zur Abklärung der Personalien auf den Polizeiposten mitgenommen werden müssen (Urteil S. 6).  
Die Polizisten seien zur Feststellung der Identität gestützt auf Art. 215 Abs. 1 lit. a i.V.m. Abs. 2 lit. a und b StPO berechtigt gewesen. Er sei in Anwendung von Art. 15 KStrG/BE wegen Verweigerung der Namensangabe schuldig zu erklären (Urteil S. 7). 
 
2.3. Die Vorinstanz begründet diese Entscheidung in formeller Hinsicht unter Bezugnahme auf die Teileinstellung betreffende Rechtsprechung wie folgt: Dem erstinstanzlichen Freispruch (Art. 286 StGB) und dem Schuldspruch (Art. 15 KStrG/BE) liege "ein und derselbe Sachverhalt zugrunde" (Urteil S. 3). Die Erstinstanz habe nach dem Freispruch, wie in ihrem Würdigungsvorbehalt (Art. 344 StPO) angekündigt, den Sachverhalt unter dem Gesichtspunkt der Verweigerung der Namensangabe geprüft. Es könne jedoch nicht aus einem rechtlichen Grund verurteilt und aus einem anderen das Verfahren eingestellt oder freigesprochen werden (Urteil 6B_653/2013 vom 20. März 2014 E. 3.2). Der Freispruch hätte nicht ergehen dürfen und könne dem Schuldspruch wegen Verweigerung der Namensangabe nicht entgegenstehen. "Er konnte also - trotz mangelnder Anfechtung - auch nicht in Rechtskraft erwachsen. Der wesentliche Mangel bzw. Widerspruch im erstinstanzlichen Urteilsdispositiv (zwei Urteile für einen Lebenssachverhalt) ist von Amtes wegen zu korrigieren" (Urteil S. 4).  
 
2.4. Nach dem Grundsatz "ne bis in idem" darf niemand wegen einer Straftat, für die er nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut strafrechtlich verfolgt oder bestraft werden. Das Verbot der doppelten Strafverfolgung verbietet die Wiederholung eines durch rechtskräftige Entscheidung abgeschlossenen Strafverfahrens. Es bildet mithin ein Verfahrenshindernis, das in jedem Verfahrensstadium von Amtes wegen zu berücksichtigen ist (BGE 144 IV 362 E. 1.3.2 S. 366 mit Hinweisen).  
Eine Teileinstellung kommt grundsätzlich nur in Betracht, wenn mehrere Lebensvorgänge oder Taten im prozessualen Sinne zu beurteilen sind, die einer separaten Erledigung zugänglich sind. Soweit es sich lediglich um eine andere rechtliche Würdigung ein und desselben Lebensvorgangs handelt, scheidet eine teilweise Verfahrenseinstellung aus (BGE 144 IV 362 E. 1.3.1 S. 365 f.). 
Nach der neueren bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist die nicht angefochtene und damit rechtskräftige Teileinstellung - auch wenn sie nicht hätte verfügt werden dürfen - nicht einfach inexistent. Die Sperrwirkung einer fehlerhaften, aber infolge Nichtanfechtung in Rechtskraft erwachsenen Teileinstellungsverfügung erfasst die Tat vielmehr unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt und lässt eine Verurteilung wegen des gleichen Lebenssachverhalts nicht zu. Es besteht ein Verfahrenshindernis im Sinne von Art. 329 Abs. 1 lit. c StPO (Urteil 6B_56/2020 vom 16. Juni 2020 E. 1.5.1 mit Hinweisen). 
 
2.5. Die Vorinstanz "korrigiert" das erstinstanzliche Urteil formaliter und bestätigt den Schuldspruch (Art. 15 KStrG/BE).  
 
2.5.1. In der Anklageschrift werden mehrere Lebensvorgänge aufgeführt: (1) Weiterfilmen trotz polizeilicher Aufforderung zur Distanzierung, (2) Weigerung der Namensnennung und (3) physische Gegenwehr bei Ankündigung der Mitnahme auf den Polizeiposten. Entsprechend unterschied die Erstinstanz zwischen drei Handlungen des Beschwerdeführers: "Filmen der Anhaltung der Drittperson", "Körpergewalt", "blosses Nichtnennen seines Namens oder der Weigerung, seinen Ausweis zu zeigen bzw. der Polizei zur Überprüfung der Echtheit zu geben" (erstinstanzliches Urteil S. 19 f.). Die Erstinstanz kam zum Ergebnis, dass diese Handlungen den Tatbestand von Art. 286 StGB nicht erfüllen würden.  
Die Erstinstanz brachte jedoch zum Lebensvorgang "Verweigerung der Namensnennung" den Würdigungsvorbehalt gemäss Art. 344 StPO an (vgl. SCHMID/JOSITSCH, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 3. Aufl. 2017, Rz. 1333). Nicht aus dem Dispositiv, wohl aber aus der bei der Auslegung des Dispositivs heranzuziehenden Urteilsbegründung ergibt sich unmissverständlich, dass vom erstinstanzlichen Freispruch einzig die Lebensvorgänge (1) und (3) erfasst wurden und der Beschwerdeführer von der Erstinstanz ausdrücklich wegen Verweigerung der Namensangabe i.S.v. Art. 15 KStrG schuldig erklärt wurde (erstinstanzliches Urteil S. 22). 
 
2.5.2. Den Kantonen bleibt die Gesetzgebung über das Übertretungsstrafrecht insoweit vorbehalten, als es nicht Gegenstand der Bundesgesetzgebung ist; die Kantone sind befugt, die Widerhandlungen gegen das kantonale Verwaltungs- und Prozessrecht mit Sanktionen zu bedrohen (Art. 335 Abs. 1 und 2 StGB).  
Die eidgenössische Ordnung betreffend die strafbaren Handlungen gegen die öffentliche Gewalt der Art. 285 ff. StGB ist nicht abschliessend (Urteil 6B_1297/2017 vom 26. Juli 2018 E. 2.2.2 mit Hinweisen, publ. in: SJ 2019 I 229). Insbesondere verstösst ein kantonalrechtlicher Übertretungsstraftatbestand wegen "Ungehorsams gegenüber der Polizei" nicht gegen Bundesrecht (BGE 81 IV 163 E. 3 S. 166). Blosser Ungehorsam erfüllt den Tatbestand von Art. 286 StGB regelmässig noch nicht (BGE 81 IV 163 E. 2 S. 164), erforderlich ist grundsätzlich ein aktives Störverhalten (BGE 133 IV 97 E. 4.2 S. 100 sowie E. 6 ff. S. 103 ff. zur Abgrenzung der Selbstbegünstigung), d.h. ein Störverhalten von gewisser Intensität (BERNHARD ISENRING, in Andreas Donatsch et al., StGB/JStG, Kommentar, 20. Aufl. 2018, Rz. 1c zu Art. 286 StGB mit Hinweis auf BGE 133 IV 97 E. 4.2 S. 100). Nach dieser Rechtsordnung sind die Kantone befugt, die Weigerung, auf gerechtfertigte Anordnung eines Polizeibeamten die Identität offenzulegen ("le refus de décliner son identité, sur ordre justifié d'un agent de police"), mit Busse zu ahnden (Urteil 6B_1297/2017 vom 26. Juli 2018 E. 2.3). 
 
2.5.3. Die Erstinstanz verletzte mit dem kantonalrechtlichen Schuldspruch den Grundsatz "ne bis in idem" nicht. Indem die Vorinstanz im Ergebnis den Schuldspruch wegen Übertretung von Art. 15 KStrG bestätigt, verletzt sie mithin kein Bundesrecht.  
 
3.  
 
3.1. Im Übrigen ist auf die nicht weiter begründete Beschwerde (Art. 42 Abs. 2 i.V.m. Art. 106 Abs. 2 BGG) nicht einzutreten.  
 
3.2. Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Da der Beschwerdeführer nicht anwaltlich vertreten ist, kann sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege grundsätzlich nur den Verzicht auf die Kostenauferlegung beschlagen. Eine Umtriebsentschädigung wird nur bei "besonderen Verhältnissen" zugesprochen, die hier nicht gegeben sind (Urteile 6B_1066/2019 vom 4. Dezember 2019 E. 5; 6B_957/2018 vom 21. November 2018 E. 3.5). Der Grundsatz "ne bis in idem" kann in der vorliegenden Konstellation durchaus Rechtsfragen aufwerfen, sodass nicht von vornherein von einer Aussichtslosigkeit im Sinne von Art. 29 Abs. 3 BV und Art. 64 Abs. 1 BGG auszugehen war (vgl. BGE 142 III 138 E. 5.1 S. 139 f.; 129 I 129 E. 2.3.1 S. 135 f.). Eine Bedürftigkeit ist anzunehmen. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist folglich in diesem Sinne gutzuheissen, sodass weder Kosten aufzuerlegen noch eine Entschädigung zuzusprechen ist (Art. 64 Abs. 1 und Art. 66 Abs. 1 BGG).  
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.   
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen. 
 
3.   
Es werden keine Kosten auferlegt und keine Entschädigung zugesprochen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern, 2. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 24. September 2020 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Denys 
 
Der Gerichtsschreiber: Briw