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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
9C_394/2019  
 
 
Urteil vom 27. August 2019  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Glanzmann, 
Gerichtsschreiberin Dormann. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Rémy Wyssmann, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 2. Mai 2019 (VBE.2018.536). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Die 1963 geborene A.________ meldete sich im März 2002 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Aargau sprach ihr mit Verfügung vom 27. Januar 2004 eine halbe Invalidenrente ab 1. November 2001 zu (Invaliditätsgrad von 55 %). Am 14. März 2007 und am 11. Juni 2012 bestätigte sie einen unveränderten Rentenanspruch. Im September 2012 leitete die Verwaltung ein weiteres Revisionsverfahren ein. Nach Abklärungen und Durchführung des Vorbescheidverfahrens hob sie mit Verfügung vom 14. Juni 2018 die bisherige Rente auf Ende Juli 2018 wiedererwägungsweise auf (Invaliditätsgrad 0 %). 
 
B.   
In teilweiser Gutheissung der dagegen erhobenen Beschwerde hob das Versicherungsgericht des Kantons Aargau die Verfügung vom 14. Juni 2018 auf und verpflichtete die IV-Stelle, der Versicherten weiterhin eine halbe Invalidenrente auszurichten (Entscheid vom 2. Mai 2019). 
 
C.   
Die IV-Stelle beantragt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten, der Entscheid vom 2. Mai 2019 sei aufzuheben und die Verfügung vom 14. Juni 2018 sei zu bestätigen; eventualiter sei die Sache zur Neubegutachtung und anschliessender Neubeurteilung an das kantonale Gericht zurückzuweisen. Ferner ersucht sie um aufschiebende Wirkung der Beschwerde. 
 
A.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. In formeller Hinsicht lässt sie beantragen, der Protokollauszug der IV-Stelle per 10. Mai 2019 sei zu den Akten zu nehmen, die "in den Augen der Beschwerdeführerin offensichtlich krass fehlerhaft urteilenden IV-Organe aus den Jahren 2004 und 2012" (Sachbearbeiter und IV-Ärzte) seien als Nebenintervenienten zum Verfahren beizuladen, gestützt auf Art. 6 Ziff. 1 EMRK sei eine öffentliche Gerichtsverhandlung durchzuführen, und das Gesuch um aufschiebende Wirkung sei abzuweisen. Zudem lässt sie eine Kostennote einreichen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Es besteht kein Anlass, (frühere) Mitarbeitende der IV-Stelle zum Verfahren beizuladen (vgl. SVR 2014 UV Nr. 32 S. 106, 8C_834/2013 E. 1) oder eine "öffentliche Gerichtsverhandlung" durchzuführen (vgl. Art. 57 f. BGG).  
 
Die Zulässigkeit des neu eingereichten Protokolls der IV-Stelle per 10. Mai 2019 (vgl. Art. 99 Abs. 1 BGG) braucht nicht geprüft zu werden: Soweit sich die Beschwerdegegnerin auf dessen Inhalt beruft, findet er sich im Protokoll der IV-Stelle per 30. Juli 2018, das in den vorinstanzlichen Akten enthalten ist. 
 
1.2. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1 S. 389). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht, und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG).  
 
2.   
Das kantonale Gericht hat die Rentenzusprache vom 27. Januar 2004 nicht als zweifellos unrichtig erachtet und deshalb die Voraussetzungen für deren Wiedererwägung gemäss Art. 53 Abs. 2 ATSG verneint. Weil auch kein anderer Rückkommenstitel (materielle oder prozessuale Revision nach Art. 17 Abs. 1 resp. Art. 53 Abs. 1 ATSG oder Revision nach lit. a der Schlussbestimmungen der Änderung des IVG vom 18. März 2011 [6. IV-Revision, erstes Massnahmepaket]) vorliege, hat es die Rentenaufhebung für unzulässig gehalten. 
 
3.   
 
3.1. Die IV-Stelle macht einzig geltend, die Vorinstanz habe zu Unrecht die Voraussetzungen für die Wiedererwägung der Rentenverfügung vom 27. Januar 2004 verneint.  
 
3.2. Nach Art. 53 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 2 ATSG und Art. 1 Abs. 1 IVG kann der Versicherungsträger auf formell rechtskräftige Verfügungen, welche nicht Gegenstand materieller richterlicher Überprüfung gebildet haben, zurückkommen, wenn diese nach damaliger Sach- und Rechtslage zweifellos unrichtig sind, und - was auf periodische Dauerleistungen regelmässig zutrifft (vgl. BGE 119 V 475 E. 1c S. 480) - ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist. Die Wiedererwägung im Sinne dieser Bestimmung dient der Korrektur einer anfänglich unrichtigen Rechtsanwendung einschliesslich unrichtiger Feststellung im Sinne der Würdigung des Sachverhalts, insbesondere bei einer klaren Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes (vgl. Art. 43 ATSG). Zweifellose Unrichtigkeit meint dabei, dass kein vernünftiger Zweifel an der (von Beginn weg bestehenden) Unrichtigkeit der Verfügung möglich, also einzig dieser Schluss denkbar ist (BGE 138 V 324 E. 3.3 S. 328). Soweit ermessensgeprägte Teile der Anspruchsprüfung vor dem Hintergrund der Sach- und Rechtslage einschliesslich der Rechtspraxis im Zeitpunkt der rechtskräftigen Leistungszusprechung in vertretbarer Weise beurteilt worden sind, scheidet die Annahme zweifelloser Unrichtigkeit aus (BGE 141 V 405 E. 5.2 S. 414 f.; Urteil 9C_766/2016 vom 3. April 2017 E. 1.1.2). Bei der Annahme zweifelloser Unrichtigkeit im Bereich der invaliditätsmässigen Leistungsvoraussetzungen ist daher Zurückhaltung geboten (SVR 2011 IV Nr. 71 S. 213, 9C_994/2010 E. 3.2.1; Urteil 9C_309/2017 vom 13. Juli 2017 E. 3.2 Abs. 2). Ansonsten würde die Wiedererwägung zum Instrument einer voraussetzungslosen Neuprüfung des Anspruchs, was sich nicht mit dem Wesen der Rechtsbeständigkeit formell zugesprochener Dauerleistungen verträgt (Urteil 9C_819/2017 vom 13. Februar 2018 E. 2.2 mit weiteren Hinweisen).  
 
3.3. Die Feststellungen, welche der Beurteilung der zweifellosen Unrichtigkeit zugrunde liegen, sind tatsächlicher Natur und folglich nur eingeschränkt überprüfbar (vgl. E. 1.2). Dagegen ist die Auslegung (Konkretisierung) dieses unbestimmten Rechtsbegriffs als Wiedererwägungsvoraussetzung eine grundsätzlich frei prüfbare Rechtsfrage (Art. 95 lit. a BGG; Urteile 9C_886/2017 vom 20. April 2018 E. 3.3; 9C_309/2017 vom 13. Juli 2017 E. 2.2.2 mit Hinweisen).  
 
3.4.  
 
3.4.1. Die Vorinstanz hat festgestellt, die IV-Stelle habe vor der Rentenzusprache zunächst den Bericht der Rehaklinik D.________ vom 27. Juni 2001, worin - nach stationärer Rehabilitation - eine Arbeitsunfähigkeit von 100 % bis zum 10. Juni 2001 resp. von 50 % ab 11. Juni 2001 attestiert wurde, und den Bericht des Hausarztes Dr. med. B.________ vom 16. April 2002, worin für die angestammte Tätigkeit eine vollständige und für angepasste Tätigkeiten eine 50 prozentige Arbeitsunfähigkeit attestiert wurde, zu den Akten genommen. Auf Empfehlung des Dr. med. C.________ vom Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD) habe sie den Bericht der Rehaklinik D.________ vom 3. September 2002 eingeholt, worin "aus rheumatologischer Sicht" eine uneingeschränkte Arbeitsfähigkeit für angepasste Tätigkeiten und eine Einschränkung von 50 % für die bisherige Arbeit attestiert wurde. Wiederum auf Empfehlung des RAD-Arztes habe die Verwaltung das psychiatrische Gutachten des Externen Psychiatrischen Dienstes des Kantons Aargau (EPD) vom 11. April 2003 veranlasst; darin wurde eine "vollumfänglich eingeschränkte" Arbeitsfähigkeit festgehalten. Nach Rücksprache mit dem psychiatrischen Konsiliarius, der Zweifel an der vom EPD gestellten Diagnose einer somatoformen Schmerzstörung geäussert habe, habe der RAD-Arzt eine Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit (EFL; vgl. dazu SVR 2009 IV Nr. 26 S. 73, 8C_547/2008 E. 4.2.1) und die anschliessende Diskussion der Ergebnisse mit dem Konsiliarius empfohlen. Anlässlich der EFL (Bericht der Rehaklinik D.________ vom 16. September 2003) sei für die angestammte Arbeit eine vollständige und für angepasste Tätigkeiten eine 50 prozentige Arbeitsunfähigkeit festgestellt worden. Die IV-Stelle habe keine weiteren medizinischen Berichte eingeholt, aber die Sache der Berufsberatung vorgelegt. Im Wesentlichen gestützt auf den EFL-Bericht habe sie der Versicherten eine halbe Rente zugesprochen.  
 
Im Rahmen der fachärztlich durchgeführten EFL seien zwar eine fragliche Leistungsbereitschaft und eine mässige Konsistenz beschrieben worden. Indessen hätten sich die Untersucher trotz dieser Umstände in der Lage gesehen, eine unbedingte Einschätzung der funktionellen Leistungsfähigkeit der Versicherten abzugeben. 
 
3.4.2. Im EFL-Bericht legten die Experten - darunter ein Facharzt für Physikalische Medizin und Rehabilitation - insbesondere nachvollziehbar dar, in welchen Bereichen sie von einer schmerzbedingten funktionellen Einschränkung ausgingen und wo sie eine Selbstlimitierung erkannten. Dass die vorinstanzlichen Feststellungen (E. 3.4.1) offensichtlich unrichtig (unhaltbar, willkürlich: BGE 141 IV 369 E. 6.3 S. 375; 135 II 145 E. 8.1 S. 153; vgl. auch Art. 106 Abs. 2 BGG) sein oder auf einer Rechtsverletzung beruhen sollen, ist nicht ersichtlich und wird auch nicht substanziiert geltend gemacht. Sie bleiben für das Bundesgericht verbindlich (E. 1.2).  
 
3.5. Ob es zwingend war, die Sache (unmittelbar) vor der Rentenzusprache ein weiteres Mal dem RAD zu unterbreiten (vgl. Art. 69 Abs. 4 IVV in der vom 1. Januar 2004 bis 31. Dezember 2011 geltenden Version [AS 2003 3859 und 2011 5679] und Urteil 9C_858/2014 vom 3. September 2015 E. 3.3.1), kann offenbleiben. Die Berufsberaterin erkannte in ihrem Bericht vom 13. November 2003, dass die Versicherte gemäss EFL in angepassten Tätigkeiten zu 50 % arbeitsfähig sei und die Akten ausgezeichnet dokumentierten, welche Art von Arbeiten ihr noch möglich sei. Ebenfalls am 13. November 2003 verfasste sie ("xxx - Berufsberatung/Stellenvermittlung") einen Eintrag im Protokoll der IV-Stelle. Als nächstes wurde am 9. Dezember 2003 unter dem Titel "yyy - Ärzte" der Vermerk "ok" in das Protokoll eingetragen. Das Kürzel "yyy" lässt sich ohne Weiteres dem RAD-Arzt Dr. med. C.________ zuordnen. Somit lag vor der Rentenzusprache die - wenn auch unbegründete - Zustimmung des RAD vor, wie die Beschwerdegegnerin zu Recht vorbringt. Sodann durfte die IV-Stelle resp. deren ärztlicher Dienst die Erkenntnisse der Fachperson für berufliche Eingliederung (mit-) berücksichtigen (Urteil 9C_886/2017 vom 20. April 2018 E. 3.5.2 mit Hinweisen).  
 
3.6. Weshalb vor der Rentenzusprache eine weitere psychiatrische Abklärung unabdingbar gewesen sein soll, wird nicht substanziiert dargelegt und leuchtet auch angesichts der u.a. festgestellten anhaltenden somatoformen Schmerzstörung nicht ein. Bei der damals gegebenen Aktenlage (E. 3.4.1) und unter Berücksichtigung der gebotenen Zurückhaltung hinsichtlich der für die Berentung massgeblichen, mit einem gewissen Ermessen verbundenen Bewertung der Arbeitsfähigkeit kann weder eine klare Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes noch eine sonstige Rechtsverletzung (E. 3.2) ausgemacht werden. Insbesondere wurde die Rente vor Etablierung der spezifischen Regeln betreffend die invalidisierende Wirkung von anhaltenden somatoformen Schmerzstörungen und vergleichbaren Leiden (vgl. BGE 130 V 352; 141 V 281) zugesprochen. Selbst wenn mit der Beschwerdeführerin angenommen wird, dass die bei Erlass der Verfügung vom 27. Januar 2004 vorhandenen ärztlichen Berichte aus heutiger Sicht nicht in allen Teilen überzeugen, war die Rentenzusprache nicht zweifellos unrichtig (vgl. z.B. Urteile 9C_886/2017 vom 20. April 2018 E. 3.5.3; 9C_819/2017 vom 13. Februar 2018 E. 2.4.3; 9C_309/2017 vom 13. Juli 2017 E. 3.1 und 3.2). Die Beschwerde ist unbegründet.  
 
 
4.   
Mit dem Entscheid in der Sache wird das Gesuch der IV-Stelle um aufschiebende Wirkung der Beschwerde gegenstandslos. 
 
5.   
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die Kosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die Beschwerdegegnerin hat Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
Was die Höhe der Parteikosten anbelangt, kann auf die den jeweiligen Zeitaufwand detailliert ausweisende Honorarnote des Rechtsvertreters der Beschwerdegegnerin abgestellt werden (vgl. Art. 12 Abs. 2 des Reglements vom 31. März 2006 über die Parteientschädigung und die Entschädigung für die amtliche Vertretung im Verfahren vor dem Bundesgericht [SR 173.110.210.3]; Urteile 9C_800/2016 vom 9. Mai 2017 E. 5; 9C_184/2016 vom 27. Mai 2016 E. 6.2). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 3'808.40.- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, dem Bundesamt für Sozialversicherungen und der Sammelstiftung E.________, Zürich, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 27. August 2019 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Die Gerichtsschreiberin: Dormann