Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
8C_415/2023
Urteil vom 3. Oktober 2024
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Wirthlin, Präsident,
Bundesrichter Maillard,
Bundesrichterin Heine,
Bundesrichterin Viscione,
Bundesrichter Métral,
Gerichtsschreiberin Durizzo.
Verfahrensbeteiligte
VAUDOISE ALLGEMEINE
Versicherungs-Gesellschaft AG,
Place de Milan, 1001 Lausanne,
Beschwerdeführerin,
gegen
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Volker Pribnow,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Unfallversicherung (Integritätsentschädigung),
Beschwerde gegen das Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 14. April 2023 (UV.2022.00213).
Sachverhalt:
A.
A.________, geboren 1999, arbeitete zwischen seinem Abschluss des Gymnasiums sowie Absolvierung des Militärdienstes und dem geplanten Beginn eines Physikstudiums an der Hochschule B.________ in einem Sandwich-Restaurant und war dadurch bei der Vaudoise Allgemeine Versicherungs-Gesellschaft AG (nachfolgend: Vaudoise) obligatorisch gegen die Folgen von Berufs- und Nichtberufsunfällen sowie Berufskrankheiten versichert. Am 8. Februar 2020 stürzte er im Bahnhof C.________ vom Perron unter einen Zug. Die Vaudoise erbrachte die gesetzlichen Leistungen. Wegen des Verlusts beziehungsweise der Amputation beider Unterschenkel sprach sie ihm mit Verfügung vom 16. Mai 2022 und Einspracheentscheid vom 18. Oktober 2022 eine Integritätsentschädigung bei einer Integritätseinbusse von 80 % (Fr. 118'560.-) zu.
B.
Die dagegen von A.________ erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 14. April 2023 gut und setzte die Integritätseinbusse auf 100 % fest (Fr. 148'200.-).
C.
Die Vaudoise lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Antrag, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils sei ihr Einspracheentscheid vom 18. Oktober 2022 zu bestätigen.
A.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Erwägungen:
1.
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde ( Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG ), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 mit Hinweisen).
1.2. Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG ).
2.
Streitig ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie dem Beschwerdegegner eine Integritätsentschädigung bei einer Integritätseinbusse von 100 % zusprach statt der von der Beschwerdeführerin auf 80 % festgesetzten. Umstritten ist die Bemessung beim Zusammenfallen mehrerer Integritätsschäden.
3.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über den Anspruch auf Integritätsentschädigung nach Art. 24 Abs. 1 und 25 Abs. 1 UVG sowie Anhang 3 zur UVV (in Verbindung mit Art. 25 Abs. 2 UVG) zutreffend dargelegt. Es bedarf dafür einer dauernden erheblichen Schädigung der körperlichen oder geistigen Integrität im Sinne eines anatomischen, funktionellen, geistigen oder psychischen Defizits (BGE 115 V 147 E. 1; 113 V 218 E. 4b) mit Beeinträchtigung in den Lebensfunktionen und im Lebensgenuss (BGE 117 V 71 E. 3a/bb/aaa). Die Schwere des Integritätsschadens wird nach dem medizinischen Befund beurteilt. Bei gleichem medizinischem Befund ist der Integritätsschaden für alle Versicherten gleich; er wird in der Unfallversicherung abstrakt und egalitär bemessen, ohne Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls. Auch geht es dabei nicht um die Schätzung erlittener Unbill, sondern um die medizinisch-theoretische Ermittlung der Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Integrität, wobei subjektive Faktoren ausser Acht zu lassen sind (BGE 133 V 224 E. 5.1; 115 V 147 E. 1 mit Hinweisen; Urteil 8C_812/2010 vom 2. Mai 2011 E. 6.2). Unerheblich ist, ob die Schädigung dank eines Hilfsmittels mehr oder weniger vollständig ausgeglichen werden kann mit der Folge, dass sie sich im täglichen Leben nicht mehr oder nur noch in geringem Masse nachteilig auswirkt. Die Bemessung des Integritätsschadens bei Funktionsausfall oder Gebrauchsunfähigkeit eines Organs hat daher auch bei der Versorgung mit Endoprothesen nach dem unkorrigierten Zustand zu erfolgen (BGE 115 V 147 E. 3a; RKUV 2001 Nr. U 445 S. 555, U 40/01 E. 4; RKUV 2003 Nr. U 496 S. 403, U 313/02 E. 3 und 4; Urteil 8C_746/2022 vom 18. Oktober 2023 E. 4.3).
Richtig dargestellt werden im angefochtenen Urteil insbesondere auch die Grundsätze über die Festsetzung der Integritätsentschädigung beim Zusammenfallen mehrerer körperlicher, geistiger oder psychischer Integritätsschäden aus einem oder mehreren Unfällen (Art. 36 Abs. 3 UVV). Hervorzuheben ist, dass die Integritätseinbusse für jeden Verlust einzeln zu bestimmen ist. Führen ein oder mehrere versicherte Ereignisse zu verschiedenen Integritätsschäden, sind die den einzelnen Schädigungen entsprechenden Prozentzahlen zusammenzuzählen, sofern die Beeinträchtigungen medizinisch eindeutig feststehen und sich in ihren Auswirkungen klar voneinander unterscheiden lassen (BGE 116 V 156 E. 3, insb. 3b; SVR 2008 UV Nr. 10 S. 32, U 109/06 E. 6; RKUV 1988 Nr. U 48 S. 230 E. 2b; Urteile 8C_38/2024 vom 28. Juni 2024 E. 2.3.2; 8C_300/2020 vom 2. Dezember 2020 E. 4.3; 8C_19/2017 vom 22. Mai 2017 E. 4.4; 8C_826/2012 vom 28. Mai 2013 E. 3.2; U 363/02 vom 5. April 2004 E. 5). Ist diese Voraussetzung nicht erfüllt, soll das Ergebnis praxisgemäss auf vergleichbare Schäden gemäss Skala hin überprüft beziehungsweise ein Quervergleich mit einer tabellarisch erfassten weitergehenden Schädigung vorgenommen werden. Dies galt etwa bei verbeibender Belastungsintoleranz eines Beins mit Bewegungseinschränkung des Knies und des Sprunggelenks sowie Arthrosen beziehungsweise bei einem Beschwerdebild mit Schwindel, Tinnitus und einer Gleichgewichtsstörung sowie einer psychischen Störung jeweils nach Verkehrsunfällen (s. insb. Urteile 8C_38/2024 vom 28. Juni 2024 E. 4; 8C_826/2012 vom 28. Mai 2013 E. 3.4; unveröffentlichtes Urteil U 100/98 vom 30. November 1998 E. 3b und 3c; ferner teilweise in SJZ 1996 S. 127 veröffentlichtes Urteil U 179/94 vom 16. August 1995; unveröffentlichte Urteile U 314/98 vom 5. Juli 1999 E. 1; U 235/96 E. 5b mit Hinweis auf RKUV 1989 Nr. U 78 S. 357 E. 3f). Die Integritätseinbusse kann insgesamt indessen nicht mehr als 100 % betragen (Art. 36 Abs. 3 UVV; BGE 116 V 156 E. 3b; Urteil 8C_812/2010 vom 2. Mai 2011 E. 4-6).
Zu ergänzen bleibt, dass dem Bundesgericht eine Angemessenheitskontrolle hinsichtlich der Beurteilung des Integritätsschadens durch die Vorinstanz verwehrt ist. Es hat nur bei rechtsfehlerhafter Ermessensausübung einzugreifen (Art. 24 Abs. 1 UVG; Art. 95 lit. a BGG; Urteile 8C_760/2023 vom 24. Juni 2024 E. 3.3; 8C_193/2013 vom 4. Juni 2013 E. 4.1).
4.
4.1. Gemäss Vorinstanz liegt nach zuletzt übereinstimmender Beurteilung durch die vom Beschwerdegegner beauftragte Privatgutachterin Dr. med. D.________, Fachärztin für Chirurgie FMH, vom 14. November 2022 und den beratenden Arzt der Beschwerdeführerin, Dr. med. E.________, Facharzt für orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates, vom 14. Dezember 2022 beidseitig ein Verlust des Beines oberhalb des Kniegelenks im Sinne der ausdrücklichen Regelung in Anhang 3 zur UVV vor. Diese Verletzung ist je für sich allein gesehen mit 50 % zu entschädigen. Nach dem kantonalen Gericht sind die beiden Integritätsentschädigungen zu addieren.
4.2. Die Beschwerdeführerin macht geltend, dass sich eine Integritätsentschädigung von insgesamt 100 % nicht rechtfertige angesichts des Quervergleichs mit der gemäss Anhang 3 zur UVV auf 100 % festzusetzenden Integritätseinbusse bei Tetraplegie und insbesondere auch mit Rücksicht auf die dort getroffene Unterscheidung gegenüber der Paraplegie, die mit 90 % zu entschädigen sei.
5.
Inwiefern das kantonale Gericht die beim Zusammenfallen mehrerer Integritätsschäden zu beachtenden Grundsätze verletzt haben sollte, ist nicht zu erkennen.
5.1. Unbestrittenerweise liegt an beiden Beinen ein Verlust jeweils oberhalb des Kniegelenks vor. Es handelt sich dabei um je medizinisch eindeutige und zudem klar unterscheidbare Beeinträchtigungen. Damit ist praxisgemäss die Voraussetzung gegeben für eine vollumfängliche Berücksichtigung der in der Verordnung ausdrücklich vorgesehenen Integritätseinbussen von je 50 % durch Zusammenzählen. Dass die Vorinstanz dem Beschwerdegegner eine Integritätsentschädigung von 100 % zugesprochen hat, ist somit nicht zu beanstanden.
5.2. Selbst eine Würdigung des entsprechenden Resultats einer Entschädigung von 100 % mit Blick auf allenfalls vergleichbare tabellarisch erfasste andere Schädigungen könnte daran nichts ändern. Gemäss der Liste von Anhang 3 zur UVV wird eine Gruppe von sehr schweren Integritätsschäden mit 80 bis 100 % veranschlagt. Dies gilt für die Tetraplegie sowie die vollständige Blindheit (100 %), die Paraplegie (90 %), sodann die vollständige Taubheit (85 %) und schliesslich die sehr schwere Beeinträchtigung der Lungenfunktion oder der Nierenfunktion, sehr schwere organische Sprachstörungen und das sehr schwere motorische oder psychoorganische Syndrom (je 80 %). Innerhalb dieser Gruppe von sehr schweren Schädigungen erfolgt somit nur eine geringfügige Abstufung über insgesamt 20 %. Mit grossem Abstand dazu folgen, jeweils mit 50 % zu bemessen, der Verlust eines Arms im Ellbogen oder oberhalb desselben, der Verlust eines Beines oberhalb des Kniegelenks, die sehr schwere Entstellung im Gesicht und die sehr starke schmerzhafte Funktionseinschränkung der Wirbelsäule, und schliesslich eine Vielzahl weiterer mit bis zu 40 % veranschlagter Schädigungen.
Dass beim hier vorliegenden Verlust beider Beine oberhalb des Knies eine Zuordnung zu den in Anhang 3 zur UVV geregelten schwersten Schädigungen zu erfolgen hat, wird auch von der Beschwerdeführerin nicht bestritten, nachdem sie selber eine Entschädigung von 80 % zusprach. Weshalb der Verlust beider Beine eine als geringer zu wertende Integritätseinbusse bewirken sollte als eine Tetraplegie, liesse sich kaum begründen, zumal hier zum funktionellen ein anatomisches Defizit hinzutritt. Zudem bleibt zu beachten, dass das Bundesgericht zulässigerweise lediglich bei rechtsfehlerhafter Ermessensausübung korrigierend einzuschreiten hätte. Eine solche ist hier indessen nicht auszumachen.
5.3. Die Beschwerde erweist sich damit als unbegründet.
6.
Die Gerichtskosten werden der unterliegenden Beschwerdeführerin auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG). Des Weiteren hat sie dem Beschwerdegegner eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
3.
Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 3. Oktober 2024
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Wirthlin
Die Gerichtsschreiberin: Durizzo