Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
7B_457/2024, 7B_725/2024
Urteil vom 4. Oktober 2024
II. strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Abrecht, Präsident,
Bundesrichter Hurni, Kölz,
Gerichtsschreiber Stadler.
Verfahrensbeteiligte
7B_457/2024, 7B_725/2024
A.________,
vertreten durch Advokat Dr. Andreas Noll,
Beschwerdeführer,
gegen
Justizvollzug und Wiedereingliederung, Rechtsdienst der Amtsleitung,
Hohlstrasse 552, 8048 Zürich,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Abweisung eines Sistierungsgesuchs,
Beschwerden gegen die Verfügungen des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich, 3. Abteilung, vom 18. März 2024 und 30. Mai 2024.
Sachverhalt:
A.
Mit Urteil vom 1. Juli 2022 bestätigte das Obergericht des Kantons Zürich unter anderem den durch das Bezirksgericht Uster ausgefällten Schuldspruch von A.________ wegen qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz (SR 812.121). Es verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 20 Monaten, wobei es deren Vollzug im Umfang von 14 Monaten aufschob, und ordnete eine Landesverweisung von 5 Jahren samt Ausschreibung im Schengener Informationssystem an. Eine hiergegen gerichtete Beschwerde in Strafsachen wies das Bundesgericht mit Urteil 6B_1157/2022 vom 24. Februar 2023 ab, soweit es darauf eintrat. Dagegen erhob A.________ am 12. Juli 2023 Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR).
B.
Mit Vollzugsbefehl vom 20. April 2023 ordnete das Amt für Justizvollzug und Wiedereingliederung des Kantons Zürich an, dass A.________ den unbedingt ausgesprochenen Teil der Freiheitsstrafe von sechs Monaten am 29. Juni 2023 im Normalvollzug im Strafvollzugszentrum Bachtel anzutreten habe. Am 25. Mai 2023 erhob A.________ Rekurs und beantragte, die Verbüssung der Strafe sei in der Form der elektronischen Überwachung, eventualiter in der Form der Halbgefangenschaft, anzuordnen. Mit Verfügung vom 12. Januar 2024 wies die Direktion der Justiz und des Inneren des Kantons Zürich den Rekurs ab. Hiergegen gelangte A.________ mit Beschwerde vom 18. Februar 2024 an das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich, wobei er unter anderem beantragte, das Beschwerdeverfahren bis zum rechtskräftigen Entscheid des EGMR über die Menschenrechtskonformität der ausgesprochenen Landesverweisung zu sistieren (Verfahren VB.2024.00093). Mit Verfügung vom 18. März 2024 wies das Verwaltungsgericht dieses Sistierungsgesuch ab.
C.
A.________ erhob Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht (7B_457/2024) und beantragte, die Zwischenverfügung des Verwaltungsgerichts vom 18. März 2024 sei aufzuheben und dieses sei anzuweisen, das vorinstanzliche Beschwerdeverfahren bis zum rechtskräftigen Entscheid des EGMR über die Menschenrechtskonformität der ausgesprochenen Landesverweisung zu sistieren. Ausserdem ersuchte er um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung für das bundesgerichtliche Verfahren.
D.
Am 6. Mai 2024 wandte sich A.________ erneut an das Verwaltungsgericht mit dem Gesuch um Sistierung des Beschwerdeverfahrens VB.2024.00093, bis das Bundesgericht über die Abweisung der Sistierung in der Präsidialverfügung vom 18. März 2024 entschieden habe. Das Verwaltungsgericht wies dieses Gesuch mit Verfügung vom 30. Mai 2024 ab.
E.
A.________ gelangte auch hiergegen mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht (7B_725/2024) und beantragte, in Aufhebung der Zwischenverfügung des Verwaltungsgerichts vom 30. Mai 2024 sei dieses anzuweisen, das vorinstanzliche Beschwerdeverfahren bis zum rechtskräftigen Entscheid des EGMR über die Menschenrechtskonformität der ausgesprochenen Landesverweisung - eventualiter bis zum rechtskräftigen Abschluss des bundesgerichtlichen Beschwerdeverfahrens 7B_457/2024 - zu sistieren. Weiter sei "von Amtes wegen der Erlass vorsorglichen Massnahmen zur Verhinderung einer Obsoleszenz der vorliegenden Beschwerde durch eine Fortsetzung des vorinstanzlichen Verfahrens durch die Vorinstanz zu prüfen". Ausserdem ersuchte er um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung für das bundesgerichtliche Verfahren.
F.
In den Verfahren 7B_457/2024 und 7B_725/2024 wurden die Akten, nicht aber Vernehmlassungen eingeholt.
Im Verfahren 7B_457/2024 wurde mit Verfügung vom 3. Juli 2024 das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung abgewiesen.
Erwägungen:
1.
Das Bundesgericht vereinigt mehrere Verfahren, wenn sie in einem engen sachlichen Zusammenhang stehen, namentlich, wenn sie auf einem im Wesentlichen gleichartigen tatsächlichen und rechtlichen Grund beruhen und wenn sie gleiche Parteien sowie ähnliche oder gleiche Rechtsfragen betreffen (Art. 71 BGG in Verbindung mit Art. 24 Abs. 2 lit. b BZP [SR 273]; BGE 133 IV 215 E. 1; 126 V 283 E. 1).
Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Es rechtfertigt sich deshalb, die Verfahren 7B_457/2024 und 7B_725/2024 zu vereinigen und die Beschwerden in einem einzigen Urteil zu behandeln.
2.
2.1. Mit den angefochtenen Verfügungen hat die Vorinstanz die Gesuche des Beschwerdeführers um Sistierung des kantonalen Beschwerdeverfahrens VB.2024.00093 abgewiesen. Diese Entscheide schliessen das Verfahren nicht ab. Es handelt sich daher um selbstständig eröffnete Zwischenentscheide, gegen welche die Beschwerde nach Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG nur zulässig ist, wenn sie einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können. Die Voraussetzung von Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG fällt hier ausser Betracht.
Der nicht wieder gutzumachende Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG muss ein Nachteil rechtlicher Natur sein, der auch durch einen späteren günstigen Endentscheid nicht oder nicht gänzlich beseitigt werden kann; rein tatsächliche Nachteile wie die Verfahrensverlängerung oder -verteuerung reichen nicht aus (BGE 149 II 476 E. 1.2.1; 144 III 475 E. 1.2; 142 III 798 E. 2.2; je mit Hinweisen). Die selbstständige Anfechtbarkeit von Zwischenentscheiden bildet aus prozessökonomischen Gründen eine Ausnahme vom Grundsatz, dass sich das Bundesgericht mit jeder Angelegenheit nur einmal befassen soll (BGE 148 IV 155 E. 1.1; 144 III 475 E. 1.2; 142 III 798 E. 2.2). Diese Ausnahme ist restriktiv zu handhaben, zumal die Parteien keiner Rechte verlustig gehen, wenn sie einen Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93 BGG nicht selbstständig anfechten, können sie ihn doch mit dem Endentscheid anfechten, soweit er sich auf dessen Inhalt auswirkt (Art. 93 Abs. 3 BGG). Dementsprechend obliegt es der beschwerdeführenden Partei darzutun, dass die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise Anfechtbarkeit eines Zwischenentscheids erfüllt sind, soweit deren Vorliegen nicht offensichtlich in die Augen springt (BGE 149 II 476 E. 1.2.1; 142 III 798 E. 2.2; 141 III 80 E. 1.2; je mit Hinweisen).
2.2. Der Beschwerdeführer bringt vor, im Fall der letztinstanzlichen Abweisung seiner Beschwerde gegen den Vollzugsbefehl vom 20. April 2023 müsste er den unbedingten Teil seiner Freiheitsstrafe (von sechs Monaten) im Normalvollzug verbüssen, lange bevor der EGMR seine auch für die Vollzugsform der Freiheitsstrafe relevante Beschwerde entschieden hätte. Selbst im Fall der letztinstanzlichen Gutheissung derselben Vollzugsbeschwerde würde er zum Zeitpunkt, da der EGMR über seine Beschwerde entscheide, den unbedingt vollziehbaren Strafteil in der von ihm anbegehrten Vollzugsform längst verbüsst haben, was den unmittelbaren Vollzug der Landesverweisung nach sich ziehen würde. Ob damit für den Beschwerdeführer ein nicht wieder gutzumachender Nachteil im Sinne von Art. 93 BGG dargetan ist, kann hier mit Blick auf den nachfolgenden Verfahrensausgang offenbleiben.
3.
3.1. Der Beschwerdeführer macht in den Verfahren 7B_457/2024 und 7B_725/2024 in der Sache identisch geltend, es sei "offenkundig mit hoher Wahrscheinlichkeit" mit einer Gutheissung seiner EMRK-Beschwerde zu rechnen, sodass seine Landesverweisung nachträglich aufgehoben werden müsste. Damit habe er "unbestrittenermassen" Anspruch auf Verbüssung des unbedingten Teils seiner ausgesprochenen Freiheitsstrafe in einer besonderen Vollzugsform (namentlich elektronische Überwachung oder Halbgefangenschaft). Im Gutheissungsfall der Hauptsache im kantonalen Beschwerdeverfahren erweise sich die Abweisung des Sistierungsantrages unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit als "klar unzulässig" und verstosse gegen Art. 13 Abs. 1 BV und Art. 8 EMRK. Die Strafe liesse sich "ohne weiteres" auch im Anschluss an den noch ausstehenden Entscheid des EGMR vollziehen. Im Abweisungsfall der Hauptsache würde ihm die besondere Vollzugsform der elektronischen Überwachung oder der Halbgefangenschaft zu Unrecht verweigert, was eine Verletzung von Art. 75 Abs. 1, Art. 79b respektive Art. 77b StGB, Art. 13 Abs. 1 BV und Art. 8 EMRK sowie Art. 10 Abs. 2 BV und Art. 5 Ziff. 1 EMRK darstellte.
3.2. Die weitschweifigen Ausführungen des Beschwerdeführers gehen an der Sache vorbei:
Entscheide des Bundesgerichts erwachsen am Tag ihrer Ausfällung in Rechtskraft (Art. 61 BGG). Der Beschwerdeführer übersieht, dass der Individualbeschwerde gemäss Art. 34 EMRK an den EGMR keine aufschiebende Wirkung zukommt (Urteil 1C_581/2016 vom 9. März 2017 E. 2.4 mit Hinweis). Der innerstaatliche Entscheid bleibt weiterhin vollstreckbar (Urteil des EMGR
Shamayev et al. gegen Georgien und Russland vom 12. April 2005 [Nr. 36378/02], § 472; siehe zum Ganzen auch MARK E. VILLIGER, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention [EMRK], 3. Aufl. 2020, Rz. 169 und 189). Dass der EGMR im anhängigen Beschwerdeverfahren gegen die rechtskräftig ausgesprochene Landesverweisung eine vorläufige Massnahme im Sinne von Art. 39 der Verfahrensordnung vom 4. November 1998 des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (SR 0.101.2) angeordnet hätte, wird weder behauptet noch ist dies ersichtlich.
Darüber hinaus ist der Vorinstanz darin zuzustimmen, dass die Verfahren vor dem EGMR lange dauern. Aufgrund der chronischen Überlastung des Gerichtshofs erscheint zweifelhaft, ob im vorliegenden Fall mit einer Entscheidung in absehbarer Zeit gerechnet werden kann. Die Vorinstanz betont zudem zu Recht, dass das öffentliche Interesse an der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs und am Prinzip der Rechtsgleichheit schwer wiegt. Vor diesem Hintergrund ist nicht zu beanstanden, wenn sie (jeweils) von einer Sistierung des Beschwerdeverfahrens gegen den Vollzugsbefehl der Freiheitsstrafe absieht.
4.
Die Beschwerden sind abzuweisen, soweit überhaupt darauf einzutreten ist. Damit erweist sich im Verfahren 7B_725/2024 die "Prüfung" vorsorglicher Massnahmen als gegenstandslos.
Nachdem im Verfahren 7B_457/2024 sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege mangels ausgewiesener Bedürftigkeit abgewiesen worden war, liess der Beschwerdeführer nachträglich Dokumente einreichen, welche seine Bedürftigkeit belegen sollen. So oder anders bleibt es dabei, dass sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege im Verfahren 7B_457/2024 wegen Aussichtslosigkeit der Beschwerde abzuweisen ist (Art. 64 Abs. 1 BGG). Ebenso ist sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege im Verfahren 7B_725/2024 abzuweisen. Der finanziellen Lage des Beschwerdeführers ist bei der Bemessung der Gerichtsgebühr Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Verfahren 7B_457/2024 und 7B_725/2024 werden vereinigt.
2.
Die Gesuche um unentgeltliche Rechtspflege werden abgewiesen.
3.
Die Beschwerden werden abgewiesen, soweit darauf eingetreten wird.
4.
Die Gerichtskosten von insgesamt Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Verwaltungsgericht des Kantons Zürich, 3. Abteilung, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 4. Oktober 2024
Im Namen der II. strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Abrecht
Der Gerichtsschreiber: Stadler