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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_679/2022  
 
 
Urteil vom 6. April 2023  
 
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichter Maillard, Abrecht, 
Gerichtsschreiberin Durizzo. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Branchen Versicherung Genossenschaft, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Gilles Benedick, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Ruedi Portmann, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Unfallversicherung (unfallähnliche Körperschädigung; Kausalzusammenhang), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 4. Oktober 2022 (UV 2021/70). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
A.________, geboren 1975, war als Vermittlerin bei den B.________ beschäftigt und dadurch bei der Branchen Versicherung Genossenschaft (nachfolgend: Branchen Versicherung) gegen die Folgen von Berufs- und Nichtberufsunfällen sowie Berufskrankheiten versichert. Gemäss Unfallmeldung vom 16. Februar 2021 und ihren ergänzenden Angaben vom 17. Februar 2021 habe A.________ am 3. Februar 2021 beim Tragen ihrer Skier bemerkt, dass sie das Endglied ihres rechten Mittelfingers nicht mehr habe strecken können. Im Spital C.________, wo sie sich gleichentags vorstellte, wurde die Diagnose eines "ligamentären Malletfingers" gestellt. Die Branchen Versicherung unterbreitete das Dossier ihrem Vertrauensarzt Dr. med. D.________, Facharzt für orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates FMH. Nach seinen Berichten vom 29. März und 1. Juni 2021 bezieht sich die erwähnte Diagnose auf einen Sehnenriss, der jedoch nicht durch das von A.________ geltend gemachte Ereignis vom 3. Februar 2021 verursacht worden, sondern degenerativ bedingt sei. Gestützt darauf lehnte die Branchen Versicherung ihre Leistungspflicht mit Verfügung vom 9. März 2021 und Einspracheentscheid vom 3. Juni 2021 ab mit der Begründung, dass weder ein Unfall im Rechtssinne noch eine unfallähnliche Körperschädigung vorliege. 
 
B.  
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 4. Oktober 2022 gut. Es hob den Einspracheentscheid vom 3. Juni 2021 auf und verpflichtete die Branchen Versicherung, für die Folgen des Ereignisses vom 3. Februar 2021 die gesetzlichen Leistungen zu erbringen. 
 
C.  
Die Branchen Versicherung lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Antrag, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und ihr Einspracheentscheid vom 3. Juni 2021 zu bestätigen.  
 
A.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
Erwägungen: 
 
 
1.  
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 mit Hinweisen).  
 
1.2. Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).  
 
2.  
Streitig ist, ob die vorinstanzliche Zusprechung der gesetzlichen Leistungen aus unfallähnlicher Körperschädigung nach Art. 6 Abs. 2 UVG vor Bundesrecht standhält. Zur Frage steht dabei die Beurteilung des natürlichen Kausalzusammenhangs zwischen dem Ereignis vom 3. Februar 2021 und dem gleichentags diagnostizierten "Malletfinger". Unbestritten ist, dass kein Unfall im Rechtssinne vorliegt. 
 
3.  
Das kantonale Gericht hat die Bestimmung über die Leistungspflicht des Unfallversicherers aus Art. 6 Abs. 2 UVG zutreffend dargelegt. Hervorzuheben ist die für die Haftung erforderliche Voraussetzung, dass die Listenverletzung (lit. a-h) nicht vorwiegend, das heisst zu mehr als 50 %, durch Abnützung oder Erkrankung verursacht wurde, und dass dem Unfallversicherer die Möglichkeit offen steht, sich von seiner Leistungspflicht zu befreien. Aus dem Vorliegen einer Listenverletzung lassen sich noch keine Schlüsse darüber ziehen, ob die Schädigung natürlich-kausal auf ein leistungspflichtiges Ereignis zurückzuführen oder degenerativ beziehungsweise erkrankungsbedingt sei. Die Leistungspflicht des Unfallversicherers ist zwar von Gesetzes wegen zu vermuten. Dieser ist jedoch zur Führung des Beweises zuzulassen, dass die Schädigung vorwiegend abnützungs- beziehungsweise erkrankungsbedingt sei. Bei der in erster Linie von medizinischen Fachpersonen zu beurteilenden Abgrenzungsfrage ist rechtsprechungsgemäss das gesamte Ursachenspektrum der in Frage stehenden Körperschädigung zu berücksichtigen. Nebst dem Vorzustand sind somit auch die Umstände des erstmaligen Auftretens der Beschwerden näher zu beleuchten. Die verschiedenen Indizien, die für oder gegen Abnützung oder Erkrankung sprechen, müssen aus medizinischer Sicht gewichtet werden. Lässt sich dabei kein initiales Ereignis erheben oder lediglich ein solches ganz untergeordneter beziehungsweise harmloser Art, so vereinfacht dies zwangsläufig in aller Regel den Entlastungsbeweis des Unfallversicherers (BGE 146 V 51 E. 8.2, 8.6 und 9.2; SVR 2021 UV Nr. 22 S. 103, 8C_382/2020 E. 6.1).  
 
Richtig wiedergegeben werden im angefochtenen Entscheid die Regeln über den Beweiswert von Arztberichten (BGE 134 V 231 E. 5.1; 125 V 351 E. 3a), insbesondere von versicherungsinternen beziehungsweise von vertrauensärztlichen Feststellungen (BGE 139 V 225 E. 5.2; 135 V 465 E. 4.4; 125 V 351 E. 3b/ee; 122 V 157 E. 1d; Urteile 8C_646/2019 vom 6. März 2020 E. 4.3; 9C_634/2019 vom 12. November 2019 E. 4.3; 8C_71/2016 vom 1. Juli 2016 E. 5.2). Es wird darauf verwiesen.  
 
4.  
 
4.1. Die Vorinstanz stellte fest, dass sich die Beschwerdegegnerin am 3. Februar 2021 beim Tragen ihrer Skier die Strecksehne am Endglied des rechten Mittelfingers gerissen und sich damit eine Listenverletzung zugezogen habe. Gemäss den vertrauensärztlichen Berichten des Dr. med. D.________ würden traumatische Risse von Sehnen grosse Kräfte erfordern, während eine schmerzfreie Durchtrennung mit zufälligem Bemerken der fehlenden Streckung als Funktionsverlust typisch sei für eine degenerativ bedingte Schädigung der Sehne. Dem setze die von der Beschwerdegegnerin beauftragte Dr. med. E.________, Fachärztin für Chirurgie FMH, entgegen, dass beim "Malletfinger" eine akute Strecksehnenläsion vorliege, wobei dafür kein "major trauma", etwa durch eine Sportverletzung, erforderlich sei, sondern auch ein "minor trauma" wie der von der Beschwerdegegnerin geschilderte Hergang genüge. Der Mechanismus basiere dabei auf einer forcierten Endglied-Flexion, wobei es weder einen Schlag noch eine Distorsion brauche. Dr. med. D.________ habe, so die Vorinstanz weiter, die Frage nach der Ursache der Sehnenläsion nicht anhand radiologischer Befunde, sondern allein gestützt auf die Fachliteratur zu Sehnenrupturen im Allgemeinen beantwortet. Eine degenerative Vorschädigung der Sehne sei nicht erstellt, zumindest habe die Beschwerdeführerin dazu keine weiteren Abklärungen getätigt. Zudem ergebe sich aus anderen, insbesondere im Internet publizierten medizinischen Berichten, dass solche Sehnen häufig von Abrissen betroffen seien, wofür bereits harmlose Bagatellverletzungen genügten. Aufgrund der bereits verstrichenen Zeit seit dem Vorfall seien von weiteren medizinischen Abklärungen keine neue Erkenntnisse mehr zu erwarten. Mit den vertrauensärztlichen Berichten lasse sich der Entlastungsbeweis jedoch nicht erbringen. Gemäss Vorinstanz ist daraus auf die Leistungspflicht der Beschwerdeführerin zu folgern.  
 
4.2. Die Beschwerdeführerin erneuert ihren Standpunkt, dass gemäss der einschlägigen Fachliteratur, auf die sich der Vertrauensarzt stützte, eine Rissbildung bei Sehnen unter physiologischen Bedingungen - wozu das Tragen von Skiern gehöre - auszuschliessen sei. Ein Vorbehalt sei lediglich anzubringen bei Vorschädigungen durch Tumore oder Entzündungen, was hier jedoch nicht geltend gemacht worden sei. Das hier vorliegende initiale, harmlose Ereignis vermöge als Ursache für die Listenverletzung nicht zu genügen. Die Vorinstanz habe die vertrauensärztlichen Berichte zu Unrecht als untauglich für den Entlastungsbeweis qualifiziert. Der von der Beschwerdegegnerin ins Feld geführte Begriff eines "minor trauma" sei in der Fachliteratur nicht gebräuchlich. Im Übrigen anerkenne die Vorinstanz, dass degenerative Veränderungen alleine zu einem Sehnenriss führen könnten, sodass wiederum nicht nachvollziehbar sei, weshalb gemäss kantonalem Gericht bereits ein "minor trauma" beziehungsweise eine Bagatellverletzung genüge für die Annahme, die Schädigung sei nicht überwiegend degenerativ bedingt.  
 
4.3. Die Beschwerdegegnerin bestreitet, dass das Tragen von Skiern als harmlose Bewegung zu qualifizieren sei. Vielmehr erfordere es aufgrund des Gewichts der Skier samt Bindung eine Kraftanstrengung auch der Finger. Selbst wenn jedoch der Beschwerdeführerin in ihrer Argumentation zu folgen wäre, lasse sich daraus keine Beweiserleichterung zu ihren Gunsten ableiten. Die Beschwerdegegnerin macht sinngemäss im Wesentlichen geltend, dass der Vertrauensarzt, dessen fachliche Befähigung generell in Zweifel gezogen wird, allein auf allgemeine medizinische Annahmen zur Verursachung von Sehnenrissen abstelle. Dies vermöge für den Haftungsausschluss nicht zu genügen, zumal bei der hier konkret vorliegenden Verletzung ("Malletfinger") eine differenziertere Betrachtungsweise Platz greifen müsse.  
 
5.  
Gemäss kantonalem Gericht begründete die von der Beschwerdegegnerin in Auftrag gegebene Stellungnahme von Dr. med. E.________ hinreichende Zweifel gegen die Zuverlässigkeit der vertrauensärztlichen Berichte. Es könne darauf daher nicht abgestellt werden. Inwiefern die Vorinstanz insoweit Bundesrecht verletzt haben sollte, ist nicht erkennbar. Praxisgemäss (oben E. 3) bedarf es im Rahmen des Entlastungsbeweises durch den Unfallversicherer einer Beleuchtung und Gewichtung des gesamten Ursachenspektrums. Daran fehlt es vorliegend mit der blossen Feststellung des Vertrauensarztes, dass Bagatelltraumen generell nicht geeignet seien, eine Sehnenverletzung herbeizuführen, zumal die von der Beschwerdegegnerin beauftragte Dr. med. E.________ unter Verweis auf medizinische Fachliteratur die Auffassung vertritt, dass ein "Malletfinger" auch durch ein "minor trauma" verursacht werden könne. 
Gestützt auf Internetrecherchen stellte das kantonale Gericht in der Folge fest, dass Strecksehnenrupturen am Fingerendgelenk häufig von Abrissen betroffen seien. Meist passiere dies etwa beim Bettenmachen oder bei Ballsportarten. Bereits harmlose Bagatellverletzungen würden genügen. Zudem bestünden gestützt auf den Bericht des Spitals C.________ keine Hinweise auf eine relevante Erkrankung. Damit verletzte die Vorinstanz die massgeblichen Grundsätze über die Würdigung von Arztberichten. Kann auf versicherungsinterne Berichte wegen auch nur geringfügiger Zweifel nicht abgestellt werden, fehlt es an zuverlässigen medizinischen Beurteilungsgrundlagen und ist ein Gutachten einzuholen. Das kantonale Gericht erwog unter anderem antizipierend, der entsprechende Beweis sei infolge Zeitablaufs nicht zu erbringen. Dabei verkennt die Vorinstanz, dass die Diagnosestellung anlässlich der Erstkonsultation im Spital C.________ auf einer bildgebenden Untersuchung beruhte. Zwar mag der entsprechende Bericht äusserst kurz gefasst sein, jedoch ist davon auszugehen, dass die damals angefertigten Bilder noch vorhanden und weiterer Interpretation zugänglich sind, immerhin als Ausgangspunkt für die erforderliche konkrete medizinische Beurteilung und Gewichtung sowohl des geltend gemachten Hergangs als auch des Vorzustandes als mögliche Teilursachen des Sehnenrisses. Ebenso wenig wie die Feststellung des Vertrauensarztes, dass Bagatelltraumen als Ursache generell nicht in Frage kämen, genügt jedenfalls diejenige des kantonalen Gerichts gestützt auf die ebenfalls bloss rudimentären Ausführungen von Dr. med. E.________ sowie die seinerseits entdeckten Internetquellen, dass im Gegenteil auch harmlose Mechanismen geeignet seien, einen Sehnenriss herbeizuführen. Gleichzeitig verletzte die Vorinstanz damit auch das dem Unfallversicherer mit Art. 6 Abs. 2 UVG eingeräumte Recht zur Führung eines Entlastungsbeweises. 
Die Beschwerde erweist sich damit als begründet. Die Sache ist an die Branchen Versicherung zu ergänzenden Abklärungen und zu erneutem Entscheid über ihre Leistungspflicht für den Sehnenriss am rechten Mittelfinger aus unfallähnlicher Körperschädigung zurückzuweisen. 
 
6.  
Die Rückweisung der Sache zum erneuten Entscheid kommt praxisgemäss einem Obsiegen der Beschwerde führenden Partei gleich. Die Beschwerdegegnerin hat daher im vorliegenden Verfahren die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
 
1.  
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 4. Oktober 2022 und der Einspracheentscheid der Branchen Versicherung Genossenschaft vom 3. Juni 2021 werden aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verfügung an die Branchen Versicherung Genossenschaft zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 6. April 2023 
 
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Die Gerichtsschreiberin: Durizzo