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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
1C_415/2024  
 
 
Urteil vom 11. Dezember 2024  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Kneubühler, Präsident, 
Bundesrichter Chaix, Haag, 
Gerichtsschreiberin Trutmann. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Kantonspolizei Aargau, Dienst Recht & Compliance, Tellistrasse 85, 5000 Aarau. 
 
Gegenstand 
Wegweisung und Fernhaltung gemäss § 34a PolG/AG, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau, 2. Kammer, Einzelrichter, 
vom 20. Juni 2024 (WPR.2024.54 / Bu / we). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Nach einer Auseinandersetzung zwischen A.________ und dessen Lebenspartnerin alarmierte dieser am 3. Juni 2024 die Polizei. Gleichentags verfügte die Kantonspolizei Aargau gestützt auf das kantonale Polizeigesetz gegenüber A.________ eine Wegweisung und Fernhaltung von seinem Wohnort für die Dauer von fünf Tagen bzw. bis und mit 8. Juni 2024. 
 
B.  
Dagegen erhob A.________ am 3. bzw. 10. Juni 2024 Beschwerde bei der Kantonspolizei, welche die Angelegenheit am 18. Juni 2024 dem Verwaltungsgericht des Kantons Aargau überwies. Dieses sprach A.________ ein schutzwürdiges Interesse an der Beurteilung der Massnahme ab und trat auf seine Beschwerde mit Urteil vom 20. Juni 2024 nicht ein. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 2. Juli 2024 richtet sich A.________ an das Bundesgericht. Er beantragt die Aufhebung des verwaltungsgerichtlichen Urteils vom 20. Juni 2024 sowie die Rückweisung der Angelegenheit zur materiellen Beurteilung der Sache. Zudem stellt er verschiedene Begehren im Zusammenhang mit dem polizeilichen Verfahren und seiner Beschwerdelegitimation sowie den Kosten- und Entschädigungsfolgen. Sodann ersucht er um unentgeltliche Prozessführung im bundesgerichtlichen Verfahren. 
Das Verwaltungsgericht verzichtet unter Verweis auf sein Urteil auf eine Vernehmlassung und schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Die Kantonspolizei beantragt, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten; eventualiter sei die Beschwerde abzuweisen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Endentscheid betreffend eine Massnahme nach kantonalem Polizeigesetz. Dagegen steht die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht offen (Art. 82 lit. a, Art. 86 Abs. 1 lit. d und Abs. 2 sowie Art. 90 BGG). Ein Ausschlussgrund gemäss Art. 83 BGG liegt nicht vor.  
 
1.2. Streitgegenstand bildet einzig die Frage, ob das Verwaltungsgericht dem Beschwerdeführer im vorinstanzlichen Verfahren zu Recht die Beschwerdeberechtigung abgesprochen hat. Unabhängig vom materiellen Entscheid sowie von der Legitimation in der Sache selbst kann eine Verfahrenspartei jedenfalls die Verletzung von Verfahrensrechten geltend machen, deren Missachtung eine formelle Rechtsverweigerung darstellt. Das schutzwürdige Interesse ergibt sich diesfalls nicht aus einer Berechtigung in der Sache selbst, sondern aus der Berechtigung, am Verfahren teilzunehmen (BGE 149 I 72 E. 3.1; 138 IV 78 E. 1.3; 137 II 305 E. 2; je mit Hinweisen). Der Beschwerdeführer ist daher in diesem Umfang zur Beschwerde legitimiert (vgl. Art. 89 Abs. 1 und Art. 94 BGG). Unzulässig sind seine Begehren hingegen, soweit sie sich gegen das Verhalten der Polizei am Einsatzort und im Rahmen seiner Befragung sowie gegen die polizeiliche Massnahme richten. Auf die Beschwerde ist in dieser Hinsicht nicht einzutreten.  
 
1.3. Ebenfalls unzulässig ist das Begehren des Beschwerdeführers, es sei festzustellen, dass er über ein schutzwürdiges Interesse an der Beurteilung der Massnahme verfüge. Grundsätzlich entscheidet das Bundesgericht in der Sache selbst bzw. reformatorisch (Art. 107 Abs. 2 BGG). Feststellungsbegehren sind gegenüber Leistungsbegehren subsidiär und bedürfen eines spezifischen Feststellungsinteresses (Urteile 7B_890/2024 vom 31. Oktober 2024 E. 2; 1B_268/2023 vom 12. Juni 2023 E. 1.2 mit Hinweis). Worin vorliegend ein besonderes Feststellungsinteresse erblickt werden könnte, ist weder ersichtlich noch ansatzweise dargetan; auch in dieser Hinsicht ist auf die Beschwerde nicht einzutreten.  
 
1.4. Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben keinen Anlass zu Bemerkungen. Auf die frist- und formgerechte Beschwerde (Art. 100 Abs. 1 und Art. 42 BGG) ist somit einzutreten. Wie nachfolgend aufgezeigt wird, erweist sie sich als offensichtlich begründet, sodass sie im Verfahren nach Art. 109 Abs. 2 lit. b BGG mit summarischer Begründung und unter Verweisung auf den angefochtenen Entscheid gutzuheissen ist.  
 
2.  
 
2.1. Die Vorinstanz begründet ihren Nichteintretensentscheid gestützt auf § 42 Abs. 1 lit. a des Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege vom 4. Dezember 2007 (VRPG/AG; SAR 271.200) folgendermassen: Die Fernhaltung- und Wegweisung habe bis am 8. Juni 2024 gegolten. Der Beschwerdeführer habe dagegen erst am 10. Juni 2024 Beschwerde erhoben. Es fehle daher an einem aktuellen Interesse an einer Beurteilung der Massnahme. Vorliegend seien auch keine besonderen Umstände ersichtlich, aufgrund derer vom Erfordernis des aktuellen Interesses abzusehen wäre.  
 
2.2. Der Beschwerdeführer bringt dagegen sinngemäss vor, er habe bereits am 3. Juni 2024 bei der Kantonspolizei eine Beschwerde gegen die Fernhaltung und Wegweisung eingereicht. Diese hätte umgehend zur Beurteilung an das Verwaltungsgericht weitergeleitet werden müssen. Zum Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung habe er über ein schutzwürdiges Interesse verfügt. Mit ihrem Vorgehen habe ihn die Vorinstanz nicht angehört und vor vollendete Tatsachen gestellt.  
 
3.  
Vorliegend rechtfertigt es sich, zunächst die Sachverhaltsrüge (Art. 97 Abs. 1 BGG) zu prüfen. 
 
3.1. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalt zugrunde (Art. 105 Abs. 1 BGG), es sei denn, deren Sachverhaltsfeststellung sei offensichtlich unrichtig, das heisst willkürlich, oder beruhe auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG (Art. 97 Abs. 1 und Art. 42 Abs. 2 BGG i.V.m. Art. 106 Abs. 2 BGG). Darunter fällt auch die unvollständige Erhebung des Sachverhalts (BGE 143 V 19 E. 6.1.3). Die Behebung des Mangels muss für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein (Art. 97 Abs. 1 BGG). Bei der Rüge der offensichtlich unrichtigen Sachverhaltsfeststellung gilt das strenge Rügeprinzip (Art. 106 Abs. 2 BGG).  
 
3.2. Der Beschwerdeführer macht geltend, seine Beschwerde vom 3. Juni 2024 werde im angefochtenen Entscheid nicht erwähnt. Es sei unklar, ob die Vorinstanz davon Kenntnis erhalten habe. Seine darin enthaltenen Ausführungen seien entscheidwesentlich.  
 
3.3. Seine Kritik ist berechtigt. In der Tat ist nicht nachvollziehbar, dass der Sachverhalt des angefochtenen Entscheids lediglich die Beschwerde vom 10. Juni 2024 umfasst, nicht jedoch die vom Beschwerdeführer erwähnte Beschwerde vom 3. Juni 2024. Aus dieser als "Einsprache" betitelten Eingabe geht deutlich hervor, dass der Beschwerdeführer mit der Fernhaltung und Wegweisung nicht einverstanden ist. Die dem vorliegenden Verfahren zugrunde liegende Massnahme wurde gestützt auf §§ 34 und 34a des Gesetzes über die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit vom 1. Januar 2007 (PolG/AG; SAR 531.200) am Abend des 3. Juni 2024 mündlich und am 4. Juni 2024 schriftlich angeordnet. Dagegen kann beim Kammerpräsidium des Verwaltungsgerichts Beschwerde erhoben werden (§ 48a Abs. 1 lit b PolG/AG). Die Beschwerde ist bei der anordnenden Behörde einzureichen. Dies hat der Beschwerdeführer getan: Aus den Akten geht hervor, dass er die Beschwerde vom 3. Juni 2024 nach der mündlichen Anordnung der Massnahme den diensthabenden Polizisten überreichte. Vor dem Hintergrund, dass die Vorinstanz den Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung als massgebend für ihren Nichteintretensentscheid erachtete, wäre sie somit verpflichtet gewesen, die Beschwerdeerhebung vom 3. Juni 2024 als rechtserhebliches Sachverhaltselement festzustellen. Indem sie dies unterliess, hat sie den rechtserheblichen Sachverhalt unvollständig festgestellt und damit eine Rechtsverletzung begangen.  
 
3.4. An diesem Ergebnis ändert nichts, dass die Kantonspolizei in ihrer Verfügung vom 4. Juni 2024 davon ausging, es handle sich bei der Beschwerde vom 3. Juni 2024 bloss um eine Stellungnahme des Beschwerdeführers. Rechtsprechungsgemäss dürfen an eine Rechtsschrift, welche bei der ersten Instanz eingereicht wird, keine hohen Anforderungen gestellt werden (Urteile 2C_942/2021 vom 2. März 2022 E. 5.1; 1C_630/2014 vom 18. September 2015 E. 4.2). Im Zweifelsfall wäre die Kantonspolizei zur Nachfrage verpflichtet gewesen (vgl. Urteile 1C_236/2014 vom 4. Dezember 2014 E. 3.5; 1C_519/2009 vom 22. September 2010 E. 6).  
 
3.5. Die Beschwerde erweist sich somit als offensichtlich begründet, weshalb sie im Verfahren nach Art. 109 Abs. 2 lit. b BGG gutzuheissen, das vorinstanzliche Urteil vom 20. Juni 2024 aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen ist. Die Vorinstanz geht im angefochtenen Entscheid davon aus, dass bei zeitnaher Beschwerdeerhebung die Möglichkeit einer Beurteilung durch den Einzelrichter vor Ablauf der Massnahme nicht ausgeschlossen gewesen wäre. Diese Voraussetzung ist mit der Beschwerde vom 3. Juni 2024 ohne weiteres erfüllt. Das im Grundsatz von Treu und Glauben (Art. 9 und Art. 5 Abs. 3 BV) enthaltene Verbot widersprüchlichen Verhaltens gebietet ein loyales und vertrauenswürdiges Verhalten im Rechtsverkehr (BGE 136 I 254 E. 5.2; Urteile 2C_251/2024 vom 18. September 2024 E. 7.1; 2C_211/2023 vom 3. September 2024 E. 8.1). Dem Beschwerdeführer, der umgehend Beschwerde gegen die polizeiliche Massnahme erhoben hatte, darf daher kein Nachteil daraus erwachsen, dass die Kantonspolizei seine Eingabe erst 15 Tage später an die Vorinstanz überwies (vgl. zur Dreitagesfrist der Überweisung der Angelegenheit an das Verwaltungsgericht: § 48a Abs. 2 PolG/AG).  
 
3.6. Damit bleibt Folgendes anzumerken: Die Vorinstanz geht im angefochtenen Urteil noch davon aus, dass im Rahmen der gerichtlichen Beurteilung der Verhältnismässigkeit einer Wegweisung Zurückhaltung geboten sei. Worauf sie ihre Auffassung stützt, geht aus ihren Ausführungen nicht hervor. Mit der erwähnten Fernhaltung und Wegweisung lag eine Grundrechtseinschränkung vor (vgl. dazu BGE 134 I 140 E. 6.2 f.). Das Bundesgericht prüft bei Grundrechtseingriffen die Verhältnismässigkeit grundsätzlich frei (BGE 147 I 450 E. 3.2.5; Urteil 2C_183/2021 vom 23. November 2021 E. 5.4, nicht publ. in: BGE 148 I 89). Daran hat sich auch die Vorinstanz zu halten, falls vom Beschwerdeführer eine entsprechende Rüge rechtsgenüglich erhoben wird.  
 
4.  
Bei diesem Verfahrensausgang obsiegt der Beschwerdeführer. Mit der Aufhebung des angefochtenen Entscheids und der Rückweisung der Angelegenheit an die Vorinstanz entfällt auch der vorinstanzliche Kostenentscheid. Dem Beschwerdeführer werden für das vorinstanzliche Verfahren somit keine Kosten auferlegt. Auch im bundesgerichtlichen Verfahren sind keine Kosten zu erheben. (Art. 66 Abs. 4 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Prozessführung für das bundesgerichtliche Verfahren des nicht anwaltlich vertretenen Beschwerdeführers wird daher gegenstandslos (vgl. Urteile 9C_185/2022 vom 2. Mai 2023 E. 5.2; 1B_292/2022 vom 28. Juli 2022 E. 6). Anspruch auf eine Entschädigung hat er nicht (vgl. Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau vom 20. Juni 2024 wird aufgehoben und die Sache zum neuen Entscheid im Sinne der Erwägungen an das Verwaltungsgericht zurückgewiesen. 
 
2.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.  
Das Gesuch um unentgeltliche Prozessführung für das bundesgerichtliche Verfahren wird als gegenstandslos abgeschrieben. 
 
4.  
Es wird keine Entschädigung zugesprochen. 
 
5.  
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Kantonspolizei Aargau und dem Verwaltungsgericht des Kantons Aargau, 2. Kammer, Einzelrichter, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 11. Dezember 2024 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Kneubühler 
 
Die Gerichtsschreiberin: Trutmann