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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
7B_41/2025  
 
 
Urteil vom 13. Februar 2025  
 
II. strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Abrecht, Präsident, 
Bundesrichter Kölz, Hofmann, 
Gerichtsschreiber Stadler. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Dr. Orly Ben-Attia, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Obergericht des Kantons Schaffhausen, Frauengasse 17, 8200 Schaffhausen, 
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen, Allgemeine Abteilung, Beckenstube 5, 8200 Schaffhausen. 
 
Gegenstand 
Rechtsverweigerung / Rechtsverzögerung, 
 
Beschwerde wegen Rechtsverweigerung und Rechtsverzögerung im Berufungsverfahren des Obergerichts des Kantons Schaffhausen (50/2024/14). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Mit Urteil vom 13. März 2024 sprach das Kantonsgericht Schaffhausen A.________ der qualifizierten Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz (BetmG, SR 812.121), des Fahrens in fahrunfähigem Zustand und des Fahrens ohne Berechtigung schuldig. Es verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 36 Monaten und zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je Fr. 30.--. Am 14. Juni 2024 liess A.________ beim Obergericht des Kantons Schaffhausen Berufung gegen dieses Urteil erklären.  
 
A.b. Mit Verfügung vom 10. September 2024 verlängerte die vorsitzende Oberrichterin Eva Bengtsson die Sicherheitshaft von A.________. Am 27. September 2024 wurden die Parteien unter Bekanntgabe der Gerichtsbesetzung (Oberrichterin Bengtsson, Ersatzrichterin Sonja Hammer, Ersatzrichter Martin Dubach und Gerichtsschreiberin B.________ sowie Akzessist C.________) zur Berufungsverhandlung vom 1. November 2024 vorgeladen. Mit Urteil vom selben Datum wies das Obergericht die Berufung ab und bestätigte das erstinstanzliche Urteil im Straf- und Schuldpunkt in der Sache.  
 
A.c. Zwischenzeitlich, am 16. Oktober 2024, hatte die Rechtsvertreterin von A.________ beim Obergericht ein Ausstandsgesuch gegen Oberrichterin Bengtsson gestellt. Sie begründete dieses mit der Mitwirkung von Oberrichterin Bengtsson in einem im Jahr 2022 abgeschlossenen Verfahren, in dem mit D.________ ein (möglicher) Mittäter von A.________ rechtskräftig verurteilt worden sei.  
Mit Entscheid vom 25. Oktober 2024 war das Obergericht auf das Ausstandsgesuch mit der Begründung nicht eingetreten, es sei verspätet gestellt worden, und weiter, mit dem Zuwarten habe A.________ sein Recht in Bezug auf den vorliegenden Ausstandsgrund verwirkt. Eine hiergegen gerichtete Beschwerde in Strafsachen hiess das Bundesgericht mit Urteil 7B_1156/2024 vom 16. Dezember 2024 teilweise gut, wobei es den Entscheid des Obergerichts vom 25. Oktober 2024 aufhob und die Sache zu neuer Entscheidung an dieses zurückwies. 
 
B.  
Am 23. Dezember 2024 gelangte A.________ an das Obergericht mit einem Gesuch um Aufhebung und Wiederholung "sämtlicher Amtshandlungen" unter Mitwirkung von Oberrichterin Bengtsson und einem Ausstandsgesuch gegen die Ersatzrichter Sonja Hammer und Martin Dubach sowie Obergerichtsschreiberin B.________. Zusätzlich stellte er ein Haftentlassungsgesuch. 
 
C.  
Mit Eingabe vom 16. Januar 2025 wendet sich A.________ erneut mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht und verlangt, es seien "die Rechtsverzögerung und Rechtsverweigerung festzustellen" und er sei unverzüglich aus der Sicherheitshaft zu entlassen. Eventualiter sei das Obergericht anzuweisen, unverzüglich über sein Haftentlassungsgesuch vom 23. Dezember 2024 zu entscheiden. Zudem sei das Obergericht anzuweisen, "unverzüglich über das Ausstandsgesuch zu entscheiden und eine neue Verfahrensleitung zu bestimmen". Ausserdem ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren. 
Am 29. Januar 2025 hat A.________ eine weitere Eingabe gemacht. 
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen hat auf Vernehmlassung verzichtet. Das Obergericht hat zur Beschwerde Stellung genommen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Gegen das unrechtmässige Verweigern oder Verzögern eines anfechtbaren Entscheids kann Beschwerde an das Bundesgericht geführt werden (Art. 94 BGG). Der Beschwerdeführer macht im Wesentlichen geltend, er habe am 23. Dezember 2024 beim Obergericht um Entlassung aus der Sicherheitshaft ersucht. Darüber sei bisher kein Entscheid ergangen. Da der kantonal letztinstanzliche Haftentscheid, dessen Verzögerung und Verweigerung gerügt wird, nach Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG unmittelbar beim Bundesgericht angefochten werden kann (vgl. Art. 78 Abs. 1 und Art. 80 Abs. 1 BGG in Verbindung mit Art. 233 und Art. 380 StPO), ist die Beschwerde in Strafsachen im Sinne einer Rechtsverweigerungs- und Rechtsverzögerungsbeschwerde nach Art. 94 BGG insoweit zulässig (siehe BGE 149 II 476 E. 1.2 mit Hinweisen). Zu dieser Beschwerde ist der Beschwerdeführer als Beschuldigter grundsätzlich berechtigt.  
 
1.2. Soweit der Beschwerdeführer im Übrigen verlangt, das Obergericht sei anzuweisen, unverzüglich über das Ausstandsgesuch zu entscheiden und eine neue Verfahrensleitung zu bestimmen, ist das aktuelle Rechtsschutzinteresse an der Rechtsverzögerungs- und Rechtsverweigerungsbeschwerde dahingefallen, nachdem das Obergericht zwischenzeitlich über das Ausstandsgesuch befunden hat (siehe E. 2.2 hiernach). Darüber hinaus fehlt es in diesem Punkt ohnehin an einer rechtsgenüglichen Begründung, weshalb auf die Beschwerde insoweit nicht einzutreten ist (vgl. Art. 42 Abs. 2 BGG).  
 
2.  
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 29 Abs. 1 BV sowie Art. 233 StPO
 
2.1. Art. 233 StPO verlangt, dass die Verfahrensleitung des Berufungsgerichts über Haftentlassungsgesuche innert 5 Tagen entscheidet. Die Frist ist Ausdruck des Beschleunigungsgebots in Haftsachen (Art. 31 Abs. 3 und 4 BV, Art. 5 Abs. 2 StPO) (BGE 143 IV 160 E. 3.2). Ersucht die beschuldigte Person während des Berufungsverfahrens um Haftentlassung, muss ihr die Verfahrensleitung Stellungnahmen zu ihrem Gesuch zur Kenntnisnahme und allfälliger Replik zustellen, bevor sie darüber entscheidet. Die fünftägige Frist beginnt deshalb erst nach Abschluss des Schriftenwechsels - für den entsprechend kurze Fristen zu setzen sind - zu laufen, das heisst nach Eingang einer allfälligen Replik der beschuldigten Person (Urteil 7B_752/2023 vom 27. Oktober 2023 E. 2.2 mit Hinweisen). Wie das Bundesgericht jüngst bestätigt hat, handelt es sich hierbei nicht um eine blosse Ordnungsvorschrift (Urteil 7B_750/2023 vom 3. November 2023 E. 3.4.2 mit weiteren Hinweisen).  
 
2.2. Das Obergericht teilt in seiner Vernehmlassung mit, es habe mit Entscheid vom 24. Januar 2025 das Ausstandsgesuch des Beschwerdeführers teilweise gutgeheissen und Oberrichterin Bengtsson im Berufungsverfahren Nr. 50/2024/14 in den Ausstand versetzt. Das Urteil Nr. 50/2024/14 vom 1. November 2024, die Berufungsverhandlung vom 1. November 2024 sowie der Beizug der Akten des Verfahrens in Sachen D.________ OG Nr. 50/2021/23 seien aufgehoben worden. Im Übrigen sei auf das Ausstandsgesuch nicht eingetreten worden. Das Obergericht führt weiter aus, in Nachachtung dieses Ausstandsentscheids habe im Berufungsverfahren Nr. 50/2024/14 am 27. Januar 2025 der Wechsel der Verfahrensleitung stattgefunden. Mit Schreiben vom 28. Januar 2025 habe es die Parteien über die neue Verfahrensleitung und die neu zuständige Gerichtsschreiberin informiert. Gleichzeitig habe es der Staatsanwaltschaft Gelegenheit zur Stellungnahme im Zusammenhang mit dem Haftentlassungsgesuch gegeben.  
 
2.3.  
 
2.3.1. Indem zwischen Einreichung des Haftentlassungsgesuchs vom 23. Dezember 2024 und Einleitung des Schriftenwechsels durch das Obergericht rund ein Monat verstrich, wurde das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen verletzt. Die Beschwerde ist insoweit gutzuheissen. Die Verletzung des Beschleunigungsgebots ist (im Dispositiv) festzustellen (vgl. BGE 137 IV 118 E. 2.2 mit Hinweisen). Im Übrigen ist es dem Sachgericht vorbehalten, im Rahmen einer Gesamtwürdigung darüber zu befinden, in welcher Weise - zum Beispiel durch eine Strafreduktion - eine Verletzung des Beschleunigungsgebots wieder gutzumachen ist (Urteil 7B_984/2023 vom 8. Januar 2024 E. 3.1.2 mit Hinweisen; vgl. BGE 142 IV 245 E. 4.1).  
 
2.3.2. Nach der Rechtsprechung führt die Nichteinhaltung der Fünftagefrist gemäss Art. 233 StPO nicht automatisch zu einer sofortigen Haftentlassung (Urteil 7B_750/2023 vom 3. November 2023 E. 3.4.4 mit Hinweisen). Abgesehen davon, dass diese Frist an den Abschluss des Schriftenwechsels anknüpft (siehe E. 2.1 hiervor), kann die Verletzung des Beschleunigungsgebots nur zur Haftentlassung führen, wenn die Verfahrensverzögerung geeignet ist, die Rechtmässigkeit der Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft in Frage zu stellen. Das ist nur der Fall, wenn sie besonders schwer wiegt und die Straf (verfolgungs) behörden erkennen lassen, dass sie nicht gewillt oder in der Lage sind, das Verfahren nunmehr mit der für Haftfälle verfassungs- und konventionsrechtlich gebotenen Beschleunigung voranzutreiben (vgl. BGE 140 IV 74 E. 3.2; 137 IV 92 E. 3.1 mit Hinweis; 137 IV 118 E. 2.2). Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt: Das Obergericht legt nachvollziehbar dar, dass es nach Erhalt des Ausstandsentscheids vom 24. Januar 2025 das Berufungsverfahren unverzüglich weiter instruiert habe. Zuvor hätten keine Instruktionen vorgenommen werden können, zumal Oberrichterin Bengtsson mit Blick auf das bundesgerichtliche Urteil 7B_1156/2024 vom 16. Dezember 2024 habe davon ausgehen müssen, dass sämtliche ihrer Amtshandlungen aufgehoben würden. Ein Wechsel der Verfahrensleitung sei erst nach Erhalt des Ausstandsentscheids vom 24. Januar 2025 möglich gewesen. Dass die (neue) Verfahrensleitung bis dahin noch keinen Haftentscheid gefällt hat, ist unter diesen Umständen nicht geeignet, die Rechtmässigkeit der Sicherheitshaft des Beschwerdeführers in Frage zu stellen.  
 
2.3.3. Dem Antrag des Beschwerdeführers auf sofortige Haftentlassung kann damit nicht entsprochen werden.  
 
3.  
Die Beschwerde ist teilweise gutzuheissen. Es ist festzustellen, dass das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verletzt worden ist. Das Obergericht ist aufzufordern, unverzüglich über das Haftentlassungsgesuch des Beschwerdeführers zu entscheiden. Im Übrigen ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. 
Aufgrund der konkreten Umstände rechtfertigt es sich, auf die Erhebung von Gerichtskosten zu verzichten (vgl. Art. 66 Abs. 1 BGG). Der Kanton Schaffhausen hat dem Beschwerdeführer, der bei diesem Ausgang als vollständig obsiegend zu gelten hat, für das bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene Entschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Diese ist praxisgemäss seiner Rechtsvertreterin auszurichten. Damit erweist sich sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege als gegenstandslos. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Es wird festgestellt, dass das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verletzt worden ist. Das Obergericht wird aufgefordert, unverzüglich über das Haftentlassungsgesuch des Beschwerdeführers zu entscheiden. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen, soweit darauf eingetreten wird. 
 
2.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.  
Der Kanton Schaffhausen hat die Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers, Rechtsanwältin Dr. Orly Ben-Attia, für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'500.-- zu entschädigen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen und dem Obergericht des Kantons Schaffhausen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 13. Februar 2025 
 
Im Namen der II. strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Abrecht 
 
Der Gerichtsschreiber: Stadler