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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_1430/2021  
 
 
Urteil vom 15. Februar 2023  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin, 
Bundesrichter Denys, 
Bundesrichterin van de Graaf, 
Gerichtsschreiberin Meier. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Stephan Stulz, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau, 
Frey-Herosé-Strasse 20, Wielandhaus, 5001 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Verletzung der Verkehrsregeln; willkürliche Beweiswürdigung; Verletzung des rechtlichen Gehörs, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, 3. Kammer, vom 4. November 2021 (SST.2021.173). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
A.________ wird vorgeworfen, als Führer eines Sattelschleppers mit Anhänger am 6. November 2017 mittags ausserorts infolge pflichtwidriger Unvorsicht einen Selbstunfall verursacht zu haben, als er in einer leichten Linkskurve auf der rechten Seite von der Strasse abkam, worauf der Lastenzug kippte. 
 
B.  
 
B.a. Das Bezirksgericht Brugg erkannte mit Urteil vom 30. November 2018A.________ der fahrlässigen Verletzung der Verkehrsregeln (Art. 90 Abs. 1 i.V.m. Art. 31 Abs. 1 und Art. 100 Ziff. 1 Abs. 1 SVG) für schuldig und verurteilte ihn zu einer Busse von Fr. 400.--. Dagegen erhob A.________ Berufung.  
 
B.b. Das Obergericht des Kantons Aargau wies die Berufung mit Urteil vom 9. September 2019 vollumfänglich ab.  
 
C.  
 
C.a. A.________ führte Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 9. September 2019 sei aufzuheben und er sei vom Vorwurf der Verkehrsregelverletzung freizusprechen.  
 
C.b. Das Bundesgericht hiess die Beschwerde mit Urteil vom 17. Juni 2020 gut und wies die Sache zur neuen Entscheidung an das Bezirksgericht Brugg zurück (6B_1177/2019).  
 
D.  
 
D.a. Das Bezirksgericht Brugg sprach A.________ mit Urteil vom 16. Oktober 2020 der Verletzung der Verkehrsregeln wegen Nichtbeherrschen des Fahrzeugs im Sinne von Art. 90 Abs. 1 i.V.m. Art. 31 Abs. 1 und Art. 100 Ziff. 1 Abs. 1 SVG schuldig und bestrafte ihn mit einer Busse von Fr. 400.--. Gegen dieses Urteil erhob A.________ Berufung.  
 
D.b. Das Obergericht des Kantons Aargau stellte mit Urteil vom 4. November 2021 die Verletzung des Beschleunigungsgebots fest und wies im Übrigen die Berufung vollumfänglich ab.  
 
E.  
A.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und er sei von Schuld und Strafe freizusprechen. Eventualiter sei die Sache an die zuständige Vorinstanz zurückzuweisen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung des rechtlichen Gehörs. Er macht geltend, die vorinstanzliche Verfahrensleitung habe zunächst ein mündliches Berufungsverfahren angeordnet und darauf hingewiesen, dass ihm an der Berufungsverhandlung zwei Parteivorträge zustünden sowie er dabei die Berufungsbegründung ergänzen könne. Alsdann habe sie mit Verfügung vom 28. Oktober 2021ohne Begründung das schriftliche Verfahren angeordnet. Am 4. November 2021 [recte: 5. November 2021] sei das begründete Urteil vom 4. November 2021 zugestellt worden.  
 
1.2.  
 
1.2.1. Das Berufungsverfahren ist grundsätzlich mündlich. Es kann nur schriftlich durchgeführt werden, wenn einer der in Art. 406 StPO abschliessend umschriebenen Ausnahmefälle gegeben ist (BGE 143 IV 483 E. 2.1.1; 139 IV 290 E. 1.1; je mit Hinweisen). Gemäss Art. 406 Abs. 1 lit. c StPO kann das Berufungsgericht die Berufung in einem schriftlichen Verfahren behandeln, wenn ausschliesslich Übertretungen Gegenstand des erstinstanzlichen Urteils bilden und mit der Berufung nicht ein Schuldspruch wegen eines Verbrechens oder Vergehens beantragt wird. Ob die Voraussetzungen für die Durchführung des schriftlichen Verfahrens vorliegen, ist von der Berufungsinstanz von Amtes wegen zu prüfen. Liegen die Voraussetzungen des schriftlichen Verfahrens nicht vor, kann darauf nicht gültig verzichtet werden (BGE 147 IV 127 E. 2.2.3 mit Hinweis).  
Im Übrigen hat das Berufungsgericht im Einzelfall zu prüfen, ob der Verzicht auf die öffentliche Verhandlung auch mit Art. 6 Ziff. 1 EMRK vereinbar ist. Diese Bestimmung gibt der beschuldigten Person im Strafverfahren - als Teilgehalt der umfassenden Garantie auf ein faires Verfahren - Anspruch auf eine öffentliche Gerichtsverhandlung und Urteilsverkündung. Ob vor einer Berufungsinstanz eine mündliche Verhandlung durchgeführt werden muss, ist insbesondere unter Beachtung des Verfahrens als Ganzem und der Umstände des Einzelfalles zu beurteilen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) muss selbst ein Berufungsgericht mit freier Kognition hinsichtlich Tat- und Rechtsfragen nicht in allen Fällen eine Verhandlung durchführen, da auch andere Gesichtspunkte, wie die Beurteilung der Sache innert angemessener Frist, mitberücksichtigt werden dürfen. Von einer Verhandlung in der Rechtsmittelinstanz kann etwa abgesehen werden, soweit die erste Instanz tatsächlich öffentlich verhandelt hat, wenn allein die Zulassung eines Rechtsmittels, nur Rechtsfragen oder aber Tatfragen zur Diskussion stehen, die sich leicht nach den Akten beurteilen lassen, ferner, wenn eine reformatio in peius ausgeschlossen oder die Sache von geringer Tragweite ist und sich etwa keine Fragen zur Person und deren Charakter stellen. Für die Durchführung einer mündlichen Verhandlung kann aber der Umstand sprechen, dass die vorgetragenen Rügen die eigentliche Substanz des streitigen Verfahrens betreffen. Sodann soll der Beschuldigte grundsätzlich erneut angehört werden, wenn in der Berufungsinstanz das erstinstanzliche Urteil aufgehoben wird und der Aufhebung eine andere Würdigung des Sachverhalts zugrunde liegt. Der EGMR hat zudem wiederholt festgehalten, dass die beschuldigte Person grundsätzlich von jenem Gericht anzuhören ist, das sie verurteilt. Gesamthaft kommt es entscheidend darauf an, ob die Angelegenheit unter Beachtung all dieser Gesichtspunkte sachgerecht und angemessen beurteilt werden kann (zum Ganzen BGE 147 IV 127 E. 2.3 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des EGMR; ferner BGE 143 IV 483 E. 2.1.2). 
 
1.2.2. Die Verfahrensleitung setzt der Partei, welche die Berufung erklärt hat, Frist zur schriftlichen Begründung (Art. 406 Abs. 3 StPO). Die schriftliche Begründung der Berufung gemäss Art. 406 Abs. 3 StPO ist im schriftlichen Verfahren Gültigkeitserfordernis. Sie ersetzt die Parteivorträge im mündlichen Verfahren und muss die in Art. 385 Abs. 1 StPO aufgeführten Punkte umfassen (Urteile 6B_1418/2017 vom 23. November 2018 E. 4; 6B_684/2017 vom 13. März 2018 E. 1.4.2; je mit Hinweisen). Soweit bereits die Berufungserklärung ausreichend begründet ist, ist eine nochmalige Einreichung der Begründung nicht notwendig. Das Berufungsgericht ist bei dieser Sachlage ohne Weiteres in der Lage, das Verfahren durchzuführen. Der appellierenden Partei ist dennoch nochmals Frist für eine Ergänzung der begründeten Berufungserklärung anzusetzen (Urteil 6B_540/2021 vom 13. April 2022 E. 1.5.1 mit Hinweisen).  
 
1.2.3. Der Anspruch auf rechtliches Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV verpflichtet die Behörde, die Vorbringen der Parteien tatsächlich zu hören, zu prüfen und in der Entscheidfindung zu berücksichtigen. Daraus folgt die Pflicht der Behörde, ihren Entscheid ausreichend und nachvollziehbar zu begründen (BGE 145 IV 99 E. 3.1 mit Hinweisen). Dabei muss die Begründung kurz die wesentlichen Überlegungen nennen, von denen sich die Behörde hat leiten lassen und auf die sie ihren Entscheid stützt (BGE 146 IV 297 E. 2.2.7 mit Hinweisen).  
 
1.2.4. Nach Art. 112 Abs. 1 lit. b BGG müssen beim Bundesgericht anfechtbare Entscheide die massgebenden Gründe tatsächlicher und rechtlicher Art enthalten. Der vorinstanzliche Entscheid hat eindeutig aufzuzeigen, auf welchem festgestellten Sachverhalt und auf welchen rechtlichen Überlegungen er beruht (BGE 141 IV 244 E. 1.2.1). Die Begründung ist insbesondere mangelhaft, wenn der angefochtene Entscheid jene tatsächlichen Feststellungen nicht trifft, die zur Überprüfung des eidgenössischen Rechts notwendig sind oder wenn die rechtliche Begründung des angefochtenen Entscheids so lückenhaft oder unvollständig ist, dass nicht geprüft werden kann, wie das eidgenössische Recht angewendet wurde (BGE 135 II 145 E. 8.2; 119 IV 284 E. 5b; Urteil 6B_1362/2020 vom 20. Juni 2022 E. 13.2.4; je mit Hinweisen). Genügt ein Entscheid den genannten Anforderungen nicht, kann das Bundesgericht ihn in Anwendung von Art. 112 Abs. 3 BGG an die kantonale Behörde zur Verbesserung zurückweisen oder aufheben. Hingegen steht es ihm nicht zu, sich an die Stelle der Vorinstanz zu setzen, die ihrer Aufgabe nicht nachgekommen ist (BGE 141 IV 244 E. 1.2.1; Urteil 6B_926/2020 vom 20. Dezember 2022 E. 1.4.8 mit Hinweisen).  
 
1.3. Die Rüge des Beschwerdeführers ist berechtigt. Die vorinstanzliche Verfahrensleitung ordnete zunächst mit Verfügung vom 3. August 2021 das mündliche Verfahren an und setzte dem Beschwerdeführer Frist, eine schriftliche Begründung der Berufung vorgängig zur Berufungsverhandlung einzureichen. Zugleich wies sie darauf hin, an der Berufungsverhandlung sei eine Ergänzung der Berufungsbegründung möglich und den Parteien stünden zwei Parteivorträge zu. Am 24. August 2021 (Datum: Postaufgabe) reichte der Beschwerdeführer eine "summarische Berufungsbegründung" ein. Alsdann ordnete die vorinstanzliche Verfahrensleitung mit Verfügung vom 28. Oktober 2021 gestützt auf Art. 406 Abs. 1 lit. c StPO das schriftliche Verfahren an. Das vorinstanzliche Urteil erging am 4. November 2021 und wurde dem Beschwerdeführer am 5. November 2021 zugestellt. Aufgrund der fehlenden Begründung sowohl in der Verfügung vom 28. Oktober 2021 der vorinstanzlichen Verfahrensleitung als auch im angefochtenen Urteil ist nicht ersichtlich, ob das Vorliegen der Voraussetzungen für die Durchführung des schriftlichen Verfahrens von Amtes wegen geprüft wurde, und kann die Rechtmässigkeit deren Anordnung nicht überprüft werden. Die Begründung vermag den Anforderungen von Art. 112 Abs. 1 lit. b BGG nicht zu genügen und verletzt den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör. Selbst wenn das schriftliche Berufungsverfahren zulässig gewesen wäre, beschnitt die vorinstanzliche Verfahrensleitung die Verteidigungsrechte und verletzte somit Bundesrecht, indem sie dem Beschwerdeführer im vorliegenden Fall keine Frist für eine Ergänzung der begründeten Berufungserklärung ansetzte. Das Vorgehen der Verfahrensleitung wie die Nichtkorrektur durch das Berufungsgericht erweisen sich als unhaltbar. Das Urteil ist aus diesem Grund aufzuheben.  
 
2.  
Die Beschwerde ist gutzuheissen. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Dem Kanton Aargau sind keine Gerichtskosten aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton Aargau hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 BGG). 
Auf eine Vernehmlassung kann verzichtet werden, da diese bundesgerichtliche Entscheidung sachlich keine präjudizierende Wirkung entfaltet und die Vorinstanz bei der Neubeurteilung das rechtliche Gehör gewähren wird (BGE 133 IV 293 E. 3.4.2 f.; Urteil 6B_699/2021 vom 21. Juni 2022 E. 2.5 mit Hinweisen). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 4. November 2021 wird aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
2.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.  
Der Kanton Aargau wird verpflichtet, dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung von Fr. 3'000.-- auszurichten. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 3. Kammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 15. Februar 2023 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari 
 
Die Gerichtsschreiberin: Meier