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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_179/2024  
 
 
Urteil vom 16. Oktober 2024  
 
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Heine, 
Gerichtsschreiber Wüest. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch Advokat Stephan Müller, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Invalidenrente), 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts Luzern vom 13. Februar 2024 (5V 22 401). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Nachdem ein erstes Leistungsgesuch der 1977 geborenen A.________ von der IV-Stelle Luzern mit Verfügung vom 8. November 2011 abgewiesen worden war, meldete sich die Versicherte im April 2015 wegen Beschwerden am rechten Handgelenk nach einem Sturz erneut bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle Luzern veranlasste unter anderem eine berufliche Abklärung bei der B.________ AG (Abschlussbericht vom 4. Juli 2018) und eine polydisziplinäre Begutachtung bei der Ärztliches Begutachtungsinstitut GmbH (ABI; Expertise vom 26. März 2019). Sie erteilte in der Folge Kostengutsprache für berufliche Eingliederungsmassnahmen, die sie mit Verfügung vom 13. November 2020 abschloss. Mit Vorbescheid vom 14. April 2022 kündigte sie an, sie werde A.________ aufgrund einer vorübergehenden Verschlechterung des Gesundheitszustands ab 1. August 2021 eine per 30. Juni 2022 befristete ganze Invalidenrente zusprechen. Daran hielt sie mit Verfügung vom 10. November 2022 fest. 
 
B.  
Die von A.________ dagegen erhobene Beschwerde hiess das Kantonsgericht Luzern mit Urteil vom 13. Februar 2024 teilweise gut. Es hob die Verfügung der IV-Stelle vom 10. November 2022 auf und sprach A.________ vom 1. Oktober 2015 bis 31. Oktober 2021 eine halbe, vom 1. November 2021 bis 30. Juni 2022 eine ganze Invalidenrente und ab 1. Juli 2022 eine Rente von 54 % zu. Im Übrigen wies es die Beschwerde ab. 
 
C.  
Die IV-Stelle Luzern führt hiergegen Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt, es sei das Urteil des Kantonsgerichts dahingehend abzuändern, dass A.________ für die Zeit ab dem 1. Juli 2022 Anspruch auf eine Rente von 47,5 % (statt 54 %) habe. Der Beschwerde sei zudem die aufschiebende Wirkung zu erteilen. 
A.________ und die Vorinstanz schliessen auf Abweisung der Beschwerde, wobei erstere um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung ersucht. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
 
D.  
Mit Verfügung vom 27. Mai 2024 erteilt der Präsident der Beschwerde die aufschiebende Wirkung, soweit das Kantonsgericht Luzern ab 1. Juli 2022 eine Rente von mehr als 47,5 % zusprach. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 145 V 57 E. 4.2). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.  
 
2.1. Es ist unbestritten, dass die Beschwerdegegnerin in der angestammten Tätigkeit als Flugzeugelektrikerin/-technikerin seit dem Unfall vom 6. März 2014 nicht mehr arbeitsfähig ist. Eine leidensangepasste Tätigkeit ist ihr jedoch gemäss verbindlicher vorinstanzlicher Feststellung (vgl. E. 1 hiervor) seit März 2014 im Rahmen eines Vollzeitpensums mit einer Arbeitsfähigkeit von 75 % zumutbar. Der vom kantonalen Gericht durchgeführte Einkommensvergleich ergab unter Berücksichtigung eines leidensbedingten Abzugs von 10 % einen Invaliditätsgrad von 56 %, woraus ein Anspruch auf eine halbe Invalidenrente ab 1. Oktober 2015 resultierte. Fest steht weiter, dass sich der Gesundheitszustand der Beschwerdegegnerin in der Folge verschlechterte (fünfter operativer Eingriff am rechten Handgelenk am 4. August 2021). Aufgrund einer 100%igen postoperativen Arbeitsunfähigkeit bestand ab 1. November 2021 (vgl. Art. 88a Abs. 1 und 2 IVV) Anspruch auf eine ganze Invalidenrente. Ab 11. März 2022 präsentierte sich wieder der präoperative Zustand, weshalb die Vorinstanz den Rentenanspruch infolge Vorliegens eines Revisionsgrundes ab 1. Juli 2022 neu prüfte.  
Im bundesgerichtlichen Verfahren ist einzig noch streitig und zu prüfen, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzt hat, indem sie der Beschwerdegegnerin ab 1. Juli 2022 eine Rente von 54 % zugesprochen hat. Der Streit dreht sich dabei um die Frage, ob die Vorinstanz bei der Ermittlung des hypothetischen Verdiensts nach Eintritt der Gesundheitsschädigung (Invalideneinkommen) einen Abzug vom Tabellenlohn berücksichtigen durfte oder nicht. 
 
2.2. Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19. Juni 2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535).  
Gemäss lit. b der Übergangsbestimmungen zur Änderung vom 19. Juni 2020 bleibt für Rentenbezüger, deren Rentenanspruch vor dem Inkrafttreten dieser Änderung entstanden ist und die in diesem Zeitpunkt das 55. Altersjahr noch nicht vollendet haben, der bisherige Rentenanspruch solange bestehen, bis sich der Invaliditätsgrad nach Art. 17 Abs. 1 ATSG ändert. Die am 1. Januar 2022 weniger als 55 Jahre alte Beschwerdegegnerin fällt unter diese Bestimmung. Dabei steht ausser Frage, dass sich ihr Gesundheitszustand nach 2022 wesentlich verbessert hat (vgl. E. 2.1 hiervor) und demnach ein Grund zur Rentenanpassung vorliegt. In dieser Hinsicht gelangt somit das ab 1. Januar 2022 geltende revidierte Recht zur Anwendung. 
 
2.3. Die Vorinstanz hat die massgebenden Rechtsgrundlagen zur Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG), zur Invalidität (Art. 8 ATSG, Art. 4 Abs. 1 IVG), zum Anspruch auf eine Invalidenrente (Art. 28 IVG) und zur Invaliditätsbemessung (Art. 28a Abs. 1 IVG; Art. 16 ATSG) in der bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen und in der ab 1. Januar 2022 geltenden Fassung zutreffend dargelegt. Richtig sind auch die Ausführungen zur Revision von Invalidenrenten (Art. 17 Abs. 1 ATSG; BGE 130 V 343 E. 3.5 mit Hinweisen). Darauf wird verwiesen.  
 
3.  
Das Kantonsgericht hielt im Zusammenhang mit dem Abzug vom Tabellenlohn fest, allein mit der zeitlichen Reduktion des Arbeitspensums um 25 % werde den qualitativen Einschränkungen der Beschwerdegegnerin zu wenig Rechnung getragen. Namentlich sei darin zu wenig berücksichtigt, dass die Beschwerdegegnerin verglichen mit einer gesunden Mitbewerberin eine Lohneinbusse zu gewärtigen habe, weil sie nebst den schmerzbedingt notwendigen Pausen ihre rechte dominante Hand lediglich als Hilfshand einsetzen könne. Dieser Umstand rechtfertige einen Abzug von 10 % vom statistischen Lohn, da an jedem Arbeitsplatz Aufgaben anfallen würden, die grundsätzlich den Einsatz beider Hände erforderten resp. mit der nichtdominanten Hand länger dauerten. 
 
4.  
 
4.1. Die IV-Stelle rügt eine Verletzung von Art. 26bis Abs. 3 IVV. Diese Bestimmung sehe einen Abzug einzig bei einer verbleibenden funktionellen Leistungsfähigkeit von 50 % oder weniger vor. Das sei vorliegend nicht der Fall, weshalb ein Abzug nicht statthaft sei.  
 
4.2. Zu den Neuerungen per 1. Januar 2022 hat sich das Bundesgericht in dem zur Publikation vorgesehenen Urteil 8C_823/2023 vom 8. Juli 2024 eingehend geäussert (E. 9). Nach Auslegung der Bestimmungen von Art. 28a Abs. 1 (Satz 2) IVG und Art. 26bis Abs. 3 IVV erwog es insbesondere auch unter Berücksichtigung der Gesetzesmaterialien, es könne grundsätzlich kein Zweifel daran bestehen, dass mit den Änderungen im Wesentlichen die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichts rezipiert werden sollte (E. 9.4.2). Nach dem Verordnungsgeber sei nunmehr lediglich noch ein "Teilzeitabzug" vorgesehen, der ab einer Leistungsfähigkeit von 50 Prozent und weniger zu gewähren sei und auf 10 Prozent begrenzt bleibe (E. 9.4.3). Das Bundesgericht erkannte die neue Bestimmung von Art. 26bis Abs. 3 IVV als gesetzeswidrig, soweit damit die bisher bestehende Möglichkeit des Abzugs vom Tabellenlohn in weiten Teilen aufgegeben werden sollte. Besteht aufgrund der gegebenen Fallumstände Bedarf an einer über den "Teilzeitabzug" hinausgehenden Korrektur, ist ergänzend auf die bisherigen Rechtsprechungsgrundsätze zum Abzug vom Tabellenlohn zurückzugreifen (E. 10).  
Die Rüge der IV-Stelle, es verbleibe unter der Geltung von Art. 26bis Abs. 3 IVV nebst dem hier nicht anwendbaren "Teilzeitabzug" kein Raum für weitere Abzüge, verfängt demnach nicht. 
 
4.3. Die Vorinstanz hat sodann überzeugend dargelegt, weshalb sich unter den hier gegebenen Umständen ein Abzug von 10 % vom Tabellenlohn rechtfertigt (vgl. E. 3 hiervor). Die IV-Stelle beanstandet diesen Abzug für die Zeit vor dem 1. Januar 2022 zu Recht nicht. Ein höherer Abzug steht vorliegend ebenfalls nicht zur Diskussion (vgl. Art. 107 Abs. 1 BGG). Da gemäss dem Urteil 8C_823/2023 vom 8. Juli 2024 auch unter der Geltung von Art. 26bis Abs. 3 IVV (in Kraft vom 1. Januar 2022 bis zum 31. Dezember 2023) Raum für eine Korrektur in Form eines Abzugs vom Tabellenlohn bleibt, hat es auch für die Zeit ab 1. Juli 2022 bei einem Abzug von 10 % sein Bewenden.  
 
4.4. Gegen die vorinstanzliche Invaliditätsbemessung erhebt die Beschwerdeführerin keine Einwände. Bei einem Invaliditätsgrad von 54 % besteht ab 1. Juli 2022 Anspruch auf eine Rente von 54 % einer ganzen Rente (vgl. Art. 28b Abs. 1 und 2 IVG), wie das Kantonsgericht richtig erwogen hat (vgl. lit. b Abs. 1 der Übergangsbestimmungen zur Änderung vom 19. Juni 2020 und Art. 17 Abs. 1 lit. a ATSG). Die Beschwerde ist demnach unbegründet.  
 
5.  
Bei diesem Verfahrensausgang hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und der Beschwerdegegnerin überdies eine Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Das von der Beschwerdegegnerin gestellte Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist damit gegenstandslos. 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.  
Die Beschwerdeführerin hat den Rechtsvertreter der Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'000.- zu entschädigen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 16. Oktober 2024 
 
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Der Gerichtsschreiber: Wüest