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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_287/2024  
 
 
Urteil vom 17. Dezember 2024  
 
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Métral, 
Gerichtsschreiber Wüest. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Rajeevan Linganathan, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle Bern, Scheibenstrasse 70, 3014 Bern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Invalidenrente), 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 5. April 2024 (200 23 687 IV). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Die 1993 geborene A.________ verlor bei einer Bombenexplosion in Sri Lanka im Jahr 2009 ihr linkes Auge. Am 17. Januar 2018 reiste sie in die Schweiz ein und im November 2019 meldete sie sich bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug (Hilfsmittel) an. Mit unangefochten gebliebener Verfügung vom 7. Januar 2020 verneinte die IV-Stelle Bern einen Anspruch auf das verlangte Hilfsmittel (Kunstauge), da die versicherungsmässigen Voraussetzungen fehlten.  
 
A.b. Mit Gesuch vom 2. Oktober 2020 beantragte A.________ erneut Leistungen der Invalidenversicherung (berufliche Integration/Rente). Die IV-Stelle holte unter anderem ein polydisziplinäres Gutachten der medaffairs AG vom 13. Dezember 2021 ein. Mit Verfügung vom 14. März 2022 verneinte sie bei einem Invaliditätsgrad von 20 % einen Rentenanspruch und mit Verfügung vom 25. März 2022 gewährte sie der Versicherten ab 1. Oktober 2019 eine Hilflosenentschädigung wegen einer Hilflosigkeit leichten Grades. Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern hiess die Beschwerde gegen die Rentenverfügung vom 14. März 2022 teilweise gut und wies die Sache zur weiteren Abklärung an die IV-Stelle zurück. Die Verfügung vom 25. März 2022 betreffend Hilflosenentschädigung bestätigte es.  
 
A.c. Mit Verfügung vom 24. Oktober 2022 verneinte die IV-Stelle einen Anspruch der A.________ auf berufliche Eingliederungsmassnahmen, weil sich die Versicherte als nicht arbeitsfähig betrachtete. Sodann holte die IV-Stelle ein ophthalmologisches Gutachten des Dr. med. B.________, Klinikdirektor und Chefarzt der Klinik für Augenheilkunde C.________, vom 24. April 2023 ein. Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren lehnte sie das Rentenbegehren mit Verfügung vom 28. August 2023 erneut ab, dieses Mal mit der Begründung, der Versicherungsfall sei vor der Einreise der A.________ in die Schweiz eingetreten.  
 
B.  
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies die von A.________ dagegen erhobene Beschwerde mit Urteil vom 5. April 2024 ab. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________ beantragen, es sei das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 5. April 2024 aufzuheben und die IV-Stelle zu verpflichten, ihr rückwirkend ab Anspruchsbeginn eine ganze Invalidenrente zuzusprechen. Eventualiter sei das Urteil des Verwaltungsgerichts aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
Nach Beizug der Akten der Vorinstanz verzichtet das Bundesgericht auf einen Schriftenwechsel. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG) und kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG; BGE 145 V 57 E. 4). 
 
2.  
 
2.1. Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzt hat, indem sie einen Rentenanspruch der Beschwerdeführerin verneint hat.  
 
2.2. Die Vorinstanz hat die Grundlagen über die versicherungsmässigen Voraussetzungen des Leistungsanspruchs (Art. 6 Abs. 2 und Art. 36 Abs. 1 IVG in der seit 1. Januar 2008 geltenden, hier anwendbaren Fassung), den Invaliditätseintritt (Art. 4 Abs. 2 IVG), die Entstehung des Rentenanspruchs (Art. 28 ff. IVG), den Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 138 V 218 E. 6) und den Beweiswert von Arztberichten (BGE 125 V 351 E. 3; vgl. auch BGE 134 V 231 E. 5.1) richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen.  
 
2.3. Zu betonen ist das Folgende:  
Nach den allgemeinen versicherungsmässigen Voraussetzungen (Art. 4 ff. IVG) sind ausländische Staatsangehörige, vorbehältlich Art. 9 Abs. 3 IVG, nur anspruchsberechtigt, solange sie ihren Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt (Art. 13 ATSG) in der Schweiz haben und sofern sie bei Eintritt der Invalidität während mindestens eines vollen Jahres Beiträge geleistet oder sich ununterbrochen während zehn Jahren in der Schweiz aufgehalten haben (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 IVG). Die besonderen Voraussetzungen des Anspruchs auf eine ordentliche Rente verlangen unter anderem, dass die versicherte Person bei Eintritt der Invalidität während mindestens drei Jahren Beiträge geleistet hat (vgl. Art. 36 Abs. 1 IVG). 
Die Invalidität gilt dabei als eingetreten, sobald sie die für die Begründung des Anspruchs auf die jeweilige Leistung erforderliche Art und Schwere erreicht hat (Art. 4 Abs. 2 IVG). Im Falle einer Rente gilt die Invalidität in dem Zeitpunkt als eingetreten, in dem die Voraussetzungen nach Art. 28 Abs. 1 IVG erfüllt sind (Urteil 9C_510/2020 vom 2. November 2020 E. 2.2). Eine Verschlechterung des Gesundheitszustands begründet grundsätzlich keinen neuen Versicherungsfall (SVR 2007 IV Nr. 7 S. 23, I 76/05 E. 2; Urteil 8C_268/2023 vom 15. November 2023 E. 2.2.2.2 mit Hinweisen). 
 
3.  
 
3.1. Die Vorinstanz stellte in tatsächlicher Hinsicht nach einlässlicher Würdigung der medizinischen Akten fest, aus allgemeininternistischer, neurologischer und psychiatrischer Sicht bestehe kein Gesundheitsschaden mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit. Es liege einzig aus ophthalmologischen Gründen eine relevante Einschränkung der Arbeits- und Leistungsfähigkeit vor. Diesbezüglich sei aufgrund des Fachgutachtens vom 24. April 2023 erstellt, dass eine 70%ige Arbeitsunfähigkeit bestehe und die in der Schweiz durchgeführten Operationen keinen Einfluss auf die Sehleistung (gehabt) hätten. Die Beschwerdeführerin habe aufgrund der 2009 erlittenen Bombenverletzung sowohl ein Auge verloren als auch die fast vollständige Funktion des anderen Auges eingebüsst. Damit sei die Beschwerdeführerin bei der Einreise in die Schweiz im Jahr 2018 bereits aufgrund schwerer Sehschwäche zu mindestens 40 % invalid gewesen. Gestützt auf diese Sachverhaltsfeststellungen kam das kantonale Gericht zum Schluss, der Versicherungsfall Rente sei eingetreten, bevor die Beschwerdeführerin die allgemeinen versicherungsmässigen Voraussetzungen nach Art. 6 Abs. 2 IVG und die besonderen Voraussetzungen des Anspruchs auf eine ordentliche Invalidenrente im Sinne von Art. 36 Abs. 1 IVG habe erfüllen können, weshalb die IV-Stelle zu Recht einen Rentenanspruch verneint habe.  
 
3.2. Was die Beschwerdeführerin dagegen vorbringt, verfängt nicht.  
 
3.2.1. Soweit die Beschwerdeführerin der Vorinstanz eine ungenügende Auseinandersetzung mit ihren Argumenten vorwirft, ist in Erinnerung zu rufen, dass das Gericht im Rahmen seiner Begründungspflicht (als Teilgehalt des Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV; vgl. BGE 142 III 433 E. 4.3.2) nicht gehalten ist, sich mit jeglichen Parteistandpunkten einlässlich auseinanderzusetzen und jedes einzelne Vorbringen ausdrücklich zu widerlegen. Vielmehr kann es sich auf die Darlegung der für seinen Entscheid wesentlichen Punkte beschränken. Eine Verletzung der Begründungspflicht ist zu verneinen, wenn eine sachgerechte Anfechtung des vorinstanzlichen Urteils möglich war (BGE 148 III 30 E. 3.1; 141 III 28 E. 3.2.4). Davon kann hier ohne Weiteres ausgegangen werden. So legte die Vorinstanz dar, weshalb der Versicherungsfall Rente bereits vor der Einreise der Beschwerdeführerin in die Schweiz eingetreten sei, weshalb diese die erforderliche Beitragsdauer nicht erfüllen konnte.  
 
3.2.2. Weiter macht die Beschwerdeführerin geltend, keines der Gutachten zeige mit Sicherheit auf, dass die Beeinträchtigung des rechten Auges eine reine Folge der Kriegsverletzung aus dem Jahr 2009 sei. Dabei verkennt sie, dass im Sozialversicherungsrecht - sofern das Gesetz nicht etwas Abweichendes vorsieht - der Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit gilt (BGE 144 V 427 E. 3.2). Gemäss ophthalmologischem Gutachten vom 24. April 2023 ist der Gesundheitsschaden am rechten Auge am ehesten Folge der Kriegsverletzung 2009. Die Beschwerdeführerin habe aufgrund der Bombenverletzung das linke Auge und in Bezug auf das rechte Auge fast die vollständige Funktion verloren. Die in der Schweiz durchgeführten Operationen hätten keinen Einfluss auf die Sehleistung gehabt. Der Gutachter attestierte in einer leidensangepassten Tätigkeit eine 70%ige Arbeitsunfähigkeit. Die Beschwerdeführerin zeigt nicht auf, inwiefern das kantonale Gericht das Beweismass falsch angewendet oder Beweise willkürlich gewürdigt haben soll, indem es gestützt auf die gutachterlichen Angaben feststellte, sie sei bei ihrer Einreise in die Schweiz bereits zu mindestens 40 % invalid gewesen (vgl. zur willkürlichen Beweiswürdigung: BGE 148 IV 356 E. 2.1). Zu betonen ist in diesem Zusammenhang, dass es die unterschiedliche Natur von Behandlungsauftrag der therapeutisch tätigen (Fach-) Person einerseits und Begutachtungsauftrag des amtlich bestellten fachmedizinischen Experten anderseits rechtsprechungsgemäss nicht zulässt, ein Administrativgutachten stets in Frage zu stellen und zum Anlass weiterer Abklärungen zu nehmen, wenn die behandelnden Arztpersonen zu anderslautenden Einschätzungen gelangen (vgl. Urteil 8C_156/2023 vom 26. Januar 2024 E. 4.3.2 mit Hinweisen).  
 
3.2.3. Unbehelflich ist im Weiteren der Einwand, die neben der eingeschränkten Sehleistung bestehenden übrigen Beschwerden, wie chronische Kopfschmerzen, depressive Episoden, Konzentrationsschwäche, Bewegungseinschränkung und chronische Müdigkeit, seien erst im Zuge der Operationen in der Schweiz aufgetreten, weshalb von einem neuen Versicherungsfall auszugehen sei. Denn die Vorinstanz stellte gestützt auf die medizinischen Akten fest, die genannten Beschwerden hätten keine Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit. Die Beschwerdeführerin bringt nichts vor, was diese vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellung als offensichtlich unrichtig erscheinen liesse (vgl. E. 1 hiervor). Entgegen ihrer Auffassung hat das kantonale Gericht kein Bundesrecht verletzt, indem es das Vorliegen eines neuen Versicherungsfalles verneint hat (vgl. dazu E. 2.3 hiervor).  
 
3.2.4. Steht nach dem Gesagten fest, dass die Beschwerdeführerin bei ihrer Einreise in die Schweiz im Januar 2018 bereits in rentenbegründendem Ausmass in ihrer Erwerbsfähigkeit eingeschränkt war, so war der Versicherungsfall Rente eingetreten, bevor sie die Anspruchsvoraussetzung der Leistung von Beiträgen während mindestens eines vollen Jahres nach Art. 6 Abs. 2 IVG resp. während drei Jahren gemäss Art. 36 Abs. 1 IVG erfüllen konnte (vgl. BGE 136 V 369 E. 1.1; Urteil 8C_237/2020 vom 23. Juli 2020 E. 6.1). Daran ändert nichts, dass der Rentenanspruch grundsätzlich erst nach Beendigung der Eingliederungsmassnahmen entstehen kann (vgl. BGE 148 V 397 E. 6.2.4 mit Hinweisen). Zum einen hat die IV-Stelle einen Anspruch der Beschwerdeführerin auf Eingliederungsmassnahmen zweimal abgelehnt (vgl. Mitteilung vom 27. Mai 2021 und Verfügung vom 24. Oktober 2022). Zum anderen erscheint zumindest fraglich, ob die versicherungsmässigen Voraussetzungen hierfür überhaupt erfüllt wären (vgl. Art. 6 Abs. 2 IVG).  
 
3.2.5. Da die Beschwerdeführerin im Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalls schon die einjährige Beitragspflicht gemäss Art. 6 Abs. 2 IVG nicht erfüllte, muss auf die Rügen im Zusammenhang mit der dreijährigen Beitragspflicht gemäss Art. 36 Abs. 1 IVG nicht weiter eingegangen werden. Es sei einzig darauf hingewiesen, dass die Beschwerdeführerin bei einer Einreise in die Schweiz im Januar 2018 frühestens ab diesem Zeitpunkt der Schweizerischen Invalidenversicherung unterstellt war (vgl. Art. 1b IVG i.V.m. Art. 1a Abs. 1 AHVG; vgl. auch BGE 125 V 253 E. 2), weshalb ihre Beiträge erst von da an aufgrund der von ihrem Ehemann geleisteten Beiträge als bezahlt gelten könnten (vgl. Art. 2 IVG i.V.m. Art. 3 Abs. 3 AHVG).  
 
3.3. Ferner zeigt die Beschwerdeführerin nicht ansatzweise auf, inwiefern hier die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Berufung auf den Vertrauensschutz (statt vieler: BGE 143 V 341 E. 5.2.1) gegeben sein sollen oder was sie aus der Berufung auf den Vertrauensschutz für sich ableiten will. Wie bereits die Vorinstanz richtig erkannt hat, erschliesst sich nicht, wo die Grundlage des Vertrauensschutzes vorliegend bestehen könnte. Ebenso wenig ist erkennbar, worin die nachteilige Disposition liegen soll. Auf Weiterungen kann verzichtet werden.  
 
4.  
Zusammenfassend hat die Vorinstanz kein Bundesrecht verletzt, indem sie einen Rentenanspruch der Beschwerdeführerin mangels Erfüllens der versicherungsmässigen Voraussetzungen verneint hat. Das vorinstanzliche Urteil hält damit vor Bundesrecht stand. 
 
5.  
Dem Verfahrensausgang entsprechend hat die unterliegende Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 65 Abs. 4 lit. a in Verbindung mit Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 17. Dezember 2024 
 
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Der Gerichtsschreiber: Wüest