Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
7B_1035/2024
Urteil vom 19. November 2024
II. strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Abrecht, Präsident,
Bundesrichterin Koch,
Bundesrichter Hurni, Kölz, Hofmann,
Gerichtsschreiber Eschle.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Benedikt Homberger,
Beschwerdeführer,
gegen
Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich, Schwere Gewaltkriminalität,
Güterstrasse 33, Postfach, 8010 Zürich.
Gegenstand
Haftentlassung Untersuchungshaft,
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich, III. Strafkammer, vom 16. September 2024 (UB240144-O/U/GRO>HON).
Sachverhalt:
A.
Die Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich führt ein Strafverfahren gegen A.________ wegen versuchter schwerer Körperverletzung etc. Ihm wird vorgeworfen, sich am 29. Juni 2024 um ca. 5.45 Uhr an der Zürcher Langstrasse gemeinsam mit zwei anderen Personen an einem Angriff auf B.________ beteiligt zu haben. Dabei soll er diesem mit einer Glasflasche mehrfach mit voller Kraft gegen den Kopf geschlagen haben.
Mit rechtskräftigem Strafbefehl vom 26. Mai 2024 war A.________ bereits wegen einfacher Körperverletzung und Raufhandel zu einer unbedingten Geldstrafe von 150 Tagesssätzen zu je Fr. 30.-- verurteilt worden.
B.
Am 30. Juni 2024 wurde A.________ verhaftet und am Tag darauf vom Zwangsmassnahmengericht des Bezirks Zürich wegen Kollusionsgefahr in Untersuchungshaft versetzt. An der Konfrontationseinvernahme vom 26. August 2024 legte A.________ ein Geständnis ab und stellte am 27. August 2024 ein Haftentlassungsgesuch. Dieses wurde nach Überweisung durch die Staatsanwaltschaft vom Zwangsmassnahmengericht mit Verfügung vom 2. September 2024 abgewiesen, weil von A.________ einfache Wiederholungsgefahr im Sinne von Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO ausgehe.
Das Obergericht des Kantons Zürich wies die gegen die Verfügung des Zwangsmassnahmengerichts erhobene Beschwerde mit Beschluss vom 16. September 2024 ab. Es liess dabei offen, ob neben einfacher auch qualifizierte Wiederholungsgefahr oder Fluchtgefahr besteht.
C.
A.________ führt mit Eingabe vom 25. September 2024 Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht. Er beantragt die Aufhebung des obergerichtlichen Beschlusses und eine umgehende Entlassung aus der Haft. In prozessualer Hinsicht ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
Die kantonalen Akten wurden eingeholt. Die Staatsanwaltschaft liess sich nicht vernehmen.
Erwägungen:
1.
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid betreffend Entlassung aus der Untersuchungshaft. Dagegen steht die Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht gemäss Art. 78 ff. BGG offen. Der Beschwerdeführer hat am vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen und befindet sich noch immer in Haft. Er hat folglich ein aktuelles, rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und ist somit gemäss Art. 81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 1 BGG zur Beschwerde legitimiert. Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten.
2.
Nach Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO ist Untersuchungshaft unter anderem zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie durch Verbrechen oder schwere Vergehen die Sicherheit anderer unmittelbar erheblich gefährdet, nachdem sie bereits früher gleichartige Straftaten verübt hat (sog. einfache Wiederholungsgefahr). An Stelle der Haft sind Ersatzmassnahmen anzuordnen, wenn sie den gleichen Zweck wie die Haft erfüllen (Art. 212 Abs. 2 lit. c und Art. 237 ff. StPO ).
Die Vorinstanz hat den dringenden Tatverdacht und den besonderen Haftgrund der einfachen Wiederholungsgefahr bejaht.
2.1. Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, dass in Anbetracht seines Geständnisses, wonach er B.________ mit einer Flasche gegen den Kopf geschlagen habe, sowie der aktenkundigen Videoaufnahmen des Vorfalls an der Zürcher Langstrasse ein dringender Tatverdacht auf eine versuchte schwere Körperverletzung (Art. 122 und Art. 22 StGB ) sowie auf Raufhandel (Art. 133 StGB) bzw. Angriff (Art. 134 StGB) besteht.
Er macht aber geltend, die Voraussetzungen der einfachen Wiederholungsgefahr seien nicht erfüllt, da die vom Gesetz verlangten Vortaten fehlten. Er habe während seines bald 10-jährigen Aufenthalts in der Schweiz lediglich eine Vorstrafe erwirkt. Die im vorliegenden Verfahren untersuchte Straftat könne dagegen trotz seines Geständnisses nicht als zweite Vortat herangezogen werden, da sie noch nicht rechtskräftig beurteilt sei. Aus den Materialien zur jüngsten StPO-Revision ergebe sich eindeutig, dass der Gesetzgeber nunmehr entgegen der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zwei rechtskräftige gleichartige Vortaten verlange.
2.2. Die Vorinstanz stellt sich auf den Standpunkt, die Revision gebe keinen Anlass, um von der gefestigten bundesgerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, wonach sich die Vortaten auch erst aus dem laufenden Verfahren ergeben können.
Sie erwägt, der Beschwerdeführer sei zum einen mit rechtskräftigem Strafbefehl vom 26. Mai 2024 wegen einfacher Körperverletzung und Raufhandels zu einer unbedingten Geldstrafe von 150 Tagessätzen zu je Fr. 30.-- verurteilt worden. Laut dem Strafbefehl habe er mehrere an einer Auseinandersetzung beteiligte Personen mit einem Holzstock geschlagen, u.a. gegen den Kopf. Angesichts der unberechenbaren Verletzungsfolgen handle es sich bei der begangenen einfachen Körperverletzung (Art. 123 Ziff. 1 StGB) um ein schweres Vergehen im Sinne von Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO.
Zum anderen habe der Beschwerdeführer im vorliegenden Verfahren ein Geständnis abgelegt und es läge eine Videoaufnahme bei den Akten, auf der die ausgeübten Schläge mit einer Glasflasche und eine spätere Stichbewegung in Richtung von B.________ deutlich festgehalten seien. Der Sachverhalt habe sich deshalb mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit so ereignet, wie er dem Beschwerdeführer von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen wird. Darin sei die zweite Vortat im Sinne von Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO zu erblicken.
2.3.
2.3.1. Nach dem Wortlaut von Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO sind für die Annahme von einfacher Wiederholungsgefahr eine Mehrzahl ("Straftaten") und damit mindestens zwei früher verübte gleichartige Straftaten erforderlich (Urteile 7B_1022/2023 vom 11. Januar 2024 E. 4.2.1; 7B_448/2023 vom 5. September 2023 E. 3.3.2). Diese Vortaten können sich zunächst aus rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahren ergeben. Nach der bisherigen Rechtsprechung zu aArt. 221 Abs. 1 lit. c StPO können sie aber auch erst Gegenstand des noch hängigen Strafverfahrens bilden, in dem sich die Frage der Untersuchungs- und Sicherheitshaft stellt. Das bedingt allerdings eine mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit, dass die beschuldigte Person solche Straftaten begangen hat. Der haftrechtliche Nachweis, dass die beschuldigte Person eine Straftat verübt hat, konnte daher bisher auch bei einem glaubhaften Geständnis oder einer erdrückenden Beweislage als erbracht gelten (BGE 150 IV 149 E. 3.1.3; 146 IV 326 E. 3.1; 143 IV 9 E. 2.3.1; 137 IV 84 E. 3.2 mit Hinweisen).
2.3.2. In der Lehre ist ein Streit darüber entbrannt, ob diese Praxis im Lichte der per 1. Januar 2024 in Kraft getretenen Revision des Haftrechts (AS 2023 468) weiterhin Geltung beanspruchen kann.
Das jüngere Schrifttum propagiert mehrheitlich, die Rechtsprechung sei aufzugeben und als Vortaten für die einfache Wiederholungsgefahr genügten nurmehr rechtskräftig beurteilte Straftaten (BÜRGI/HUSMANN, Extensive Praxis der Präventivhaft auch unter Art. 221 Abs. 1bis StPO - Besprechung von BGer, Urteil v. 5.3.2024, 7B_155/2024, forumpoenale 4/2024 S. 280; CONINX/STUDER, Revision des Haftrechts, in: Christopher Geth (Hrsg.), Die revidierte Strafprozessordnung, 2023, Rn. 4.24; GETH, Verteidigungsrechte und Haftrecht nach der Revision der Strafprozessordnung, BJM 2024 S. 143 f.; TIMON HEINIMANN, Der Haftgrund der Ausführungsgefahr, 2023, S. 163 Fn. 658; MARC JEAN-RICHARD-DIT-BRESSEL, Machtausgleich und Lagerdenken, forumpoenale 6/2023 S. 455; JOSITSCH/RÖTHLISBERGER, Reform von Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO, Jusletter 5. Juni 2023 Rn. 37; PALUMBO/PERESSIN/EGOND, Réforme du CPP: quels changements en matière de détention?, Anwaltsrevue 4/2024 S. 161; NIKLAUS RUCKSTUHL, Neuerungen im Haftrecht, Anwaltsrevue 8/2022 S. 331; WOLFGANG WOHLERS, Präventivhaft nach der StPO-Reform, forumpoenale 1/2023 S. 47). Zur Begründung hebt die Doktrin - und mit ihr der Beschwerdeführer - in erster Linie die Botschaft zur StPO-Revision hervor. Dort führt der Bundesrat aus, der Begriff «verübt» in Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO setze voraus, dass die früheren Straftaten
rechtskräftig beurteilt sein müssten, da diese Vortaten der einzige gesicherte Anhaltspunkt im Hinblick auf die zu erstellende Legalprognose seien (Botschaft vom 28. August 2019 zur Änderung der Strafprozessordnung, BBl 2019 6743 zu Art. 221). Weiter wird argumentiert, der Gesetzgeber habe mit Art. 221 Abs. 1bis StPO eine eigenständige gesetzliche Grundlage für die qualifizierte Wiederholungsgefahr geschaffen, die auf eine Vortat verzichte und einen dringenden Tatverdacht auf schwere Straftaten genügen lasse, weshalb für einfache Wiederholungsgefahr rechtskräftige Vorstrafen zu verlangen seien (CONINX/STUDER, a.a.O.; JEAN-RICHARD-DIT-BRESSEL, a.a.O.; WOHLERS, a.a.O.; derselbe, Neuerungen im Strafprozessrecht [...], forumpoenale 5/2024 S. 351 f.).
Dagegen sind MICHEROLI/TAG und MARC FORSTER der Auffassung, mit der Revision habe sich am Vortatenerfordernis bei der einfachen Wiederholungsgefahr nichts geändert, weshalb auch die sehr grosse Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung als Nachweis schwerer Vordelinquenz genügen könne. Die Auslegung geltenden Rechts in der Botschaft des Bundesrats, ohne dass daran ein Vorschlag einer Gesetzesänderung geknüpft werde, verstosse gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung und sei daher unbeachtlich (MICHEROLI/TAG, Anmerkungen zu aktuellen Entwicklungen im Haftrecht, Jusletter 16. Mai 2022, Rn. 90 f.; MARC FORSTER, Basler Kommentar, Strafprozessordnung/Jugendstrafprozessordnung [hiernach: BSK StPO], 3. Aufl. 2023, N. 15 zu Art. 221 StPO).
2.3.3. Das Bundesgericht hat angedeutet, dass sich am Vortatenerfordernis bei der einfachen Wiederholungsgefahr grundsätzlich nichts geändert haben soll und dass die Rechtsprechung zu aArt. 221 Abs. 1 lit. c StPO grundsätzlich auf das neue Recht übertragbar sei (BGE 150 IV 149 E. 3.2; Urteile 7B_830/2024 vom 4. September 2024 E. 2.2.1.1; 7B_270/2024 vom 2. April 2024 E. 4.2.2; 1B_22/2023 vom 13. Februar 2023; 1B_368/2022 vom 29. Juli 2022 E. 3.3). Die angesprochene Streitfrage konnte es zuletzt offenlassen (Urteil 7B_843/2024 vom 4. September 2024 E. 3.2 [Erwägung nicht zur Publikation vorgesehen]).
Wie die Vorinstanz erwägt, hat der Beschwerdeführer eine rechtskräftige Vorstrafe. Gleichzeitig wird ihm im hiesigen Verfahren eine Straftat vorgeworfen, die er zumindest im Grundsatz eingestanden hat und von der eine Videoaufnahme im Recht liegt. Vor dem Hintergrund der kürzlich erfolgten Revision des Haftrechts und deren kontroversen Beurteilung in der Lehre bietet der Fall Anlass für eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Vortatenerfordernis von Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO.
2.4. Das Gesetz ist in erster Linie aus sich selbst heraus auszulegen, d.h. nach dem Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zugrunde liegenden Wertungen auf der Basis einer teleologischen Verständnismethode. Das Bundesgericht befolgt einen pragmatischen Methodenpluralismus und lehnt es namentlich ab, die einzelnen Auslegungselemente einer hierarchischen Prioritätsordnung zu unterstellen. Die Gesetzesmaterialien sind zwar nicht unmittelbar entscheidend, dienen aber als Hilfsmittel, um den Sinn der Norm zu erkennen. Bei der Auslegung neuerer Bestimmungen kommt den Materialien eine besondere Stellung zu, weil veränderte Umstände oder ein gewandeltes Rechtsverständnis in dieser Situation eine von den Materialien abweichende Lösung kaum nahelegen (vgl. BGE 148 IV 96 E. 4.4.1, 247 E. 3; 146 II 201 E. 4.1; je mit Hinweisen). Sind mehrere Auslegungen möglich, ist jene zu wählen, die der Verfassung am besten entspricht. Allerdings findet auch eine verfassungskonforme Auslegung ihre Grenzen im klaren Wortlaut und Sinn einer Gesetzesbestimmung (BGE 148 V 385 E. 5.1; 141 V 221 E. 5.2.1; 140 V 449 E. 4.2; je mit Hinweisen).
2.5. Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO spricht davon, dass die beschuldigte Person "bereits früher gleichartige Straftaten verübt" haben muss (
déjà commis des infractions du même genre/già commesso in precedenza reati analoghi). In dieser Hinsicht hat sich am Text der Bestimmung in der jüngsten Revision nichts geändert.
2.5.1. Der Haftgrund der (einfachen) Wiederholungs- bzw. der Fortsetzungsgefahr fand sich - wenngleich in unterschiedlicher Ausgestaltung - bereits in einem grossen Teil der kantonalen Strafprozessordnungen (Bundesamt für Justiz, Begleitbericht zum Vorentwurf für eine Schweizerische[n] Strafprozessordnung, 2001, S. 160; MARTINA CONTE, Die Grenzen der Präventivhaft gemäss Schweizerischer Strafprozessordnung, 2018, S. 38). Schon für die ähnlich lautende Regelung in § 58 Abs. 1 Ziff. 3 der Zürcher Strafprozessordnung vom 4. Mai 1919 (StPO/ZH; LS 321) wurde vertreten, mit deren Wortlaut lasse sich auch die Auslegung vereinbaren, dass die "verübten" Straftaten erst Gegenstand eines hängigen Strafverfahrens bilden könnten (NIKLAUS SCHMID, Strafprozessrecht, 2. Aufl. 1993, Rn. 701b; ANDREAS DONATSCH, in: Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, Stand: März 1996, N. 49 zu § 58 StPO/ZH). Das Bundesgericht schloss sich der Auffassung der zitierten Autoren im Urteil 1P.462/2003 vom 10. September 2003 E. 3.3.1 an und erklärte, dass zu den verübten Straftaten im Sinne von § 58 Abs. 1 Ziff. 3 StPO/ZH sowohl strafbare Handlungen gehörten, aufgrund derer eine Verurteilung erfolgt sei, als auch Delikte, die Gegenstand eines noch pendenten Strafverfahrens bildeten (ebenso Urteil 1B_216/2007 vom 11. Oktober 2007 E. 3.2).
2.5.2. Der von NIKLAUS SCHMID verfasste Vorentwurf zu einer Schweizerischen Strafprozessordnung vom Juni 2001 ging zumindest implizit davon aus, dass sich die "bereits früher wiederholt verübten Straftaten" (vgl. Art. 234 Abs. 1 lit. c des Vorentwurfs von 2001 zu einer Schweizerischen Strafprozessordnung [VE-StPO 2001]) nicht nur aus rechtskräftigen Verurteilungen, sondern auch aus pendenten Strafverfahren ergeben können. Der Begleitbericht nannte als Beispiel einerseits den Täter, der nach Verbüssung einer Freiheitsstrafe wegen zwei Vergewaltigungen erneut eine Vergewaltigung "begeht", andererseits jenen, der zwei Monate nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft wegen Dutzenden von Einbruchdiebstählen nach der "Begehung" von drei weiteren Einbrüchen verhaftet wird (Bundesamt für Justiz, Begleitbericht zum Vorentwurf für eine Schweizerische[n] Strafprozessordnung, 2001, S. 160). Wo ersterer bereits rechtskräftig verurteilt wurde, muss letzterer nicht vorbestraft sein.
Die Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts äusserte sich nicht eindeutig dazu, woraus sich die "verübten" Straftaten zu ergeben hätten. Immerhin findet sich der Hinweis, dass die in Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO normierte Wiederholungsgefahr in dem Sinne zu verstehen sei, dass sie der Gefahrenabwehr diene und es sich damit um eine sichernde polizeiliche Massnahme handle (BBl 2006 1229 Ziff. 2.5.3.4; vgl. BGE 143 IV 9 E. 2.2).
2.5.3. In BGE 137 IV 84 E. 3.2 urteilte das Bundesgericht für die eidgenössische StPO, dass sich die früher begangenen Straftaten auch aus dem hängigen Strafverfahren ergeben können, in dem sich die Frage der Untersuchungs- und Sicherheitshaft stellt. Gestützt auf FORSTER und SCHMID führte es einschränkend aus, dass nicht irgendein Verdacht auf eine Vortat genüge. Es müsse vielmehr mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen, dass die beschuldigte Person die untersuchten Straftaten begangen habe, da das Gesetz von "verübten" Straftaten und nicht nur von einem Verdacht spreche (Praxis bestätigt in BGE 143 IV 9 E. 2.3.1 und BGE 146 IV 326 E. 3.1).
2.6. Diesem Verständnis des Vortatenerfordernisses schloss sich ein Teil der Doktrin an (so insb. SCHMID, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 2. Aufl. 2013, N. 12 zu Art. 221 StPO; FORSTER, BSK StPO, 2. Aufl 2014, N. 15 zu Art. 221 StPO; ULRICH WEDER, Die gefährliche beschuldigte Person und die Wiederholungs- und Ausführungsgefahr, ZStrR 132/2014 S. 377 f.; FRANÇOIS CHAIX, in: Commentaire Romand, Code de procédure pénale suisse, 2. Aufl. 2019, N. 21 zu Art. 221 StPO).
Die Auslegung erfuhr aber auch Kritik. Allen voran bemängelte ALBRECHT, das Gesetz verlange ausdrücklich eine bereits früher "verübte" Straftat, und nicht nur den blossen Verdacht, dass früher Straftaten verübt worden seien (PETER ALBRECHT, Bundesgericht, I. öffentlich-rechtliche Abteilung, Urteil vom 6. April 2011 (...) 1B_126/2011, AJP 7/2011 S. 982). Verschiedene Autoren teilten diese Bedenken: Die bundesgerichtliche Auslegung des Gesetzestexts stehe, so der Tenor, in einem Spannungsverhältnis zur Unschuldsvermutung (ANDREAS EICKER, Zur bundesgerichtlichen Interpretation des Haftrechts
contra legem, in: Festschrift für Martin Killias (...), 2013, S. 981; FABIO MANFRIN, Ersatzmassnahmenrecht nach Schweizerischer Strafprozessordnung, 2014, S. 145 f.; JONAS ACHERMANN, Zum Haftgrund der Wiederholungsgefahr, digitaler Rechtsprechungskommentar 31. Oktober 2014, Rn. 11; DONATSCH/HIESTAND, Wortlaut des Gesetzes oder allgemeine Rechtsprinzipien bei der Auslegung von Normen der StPO, ZStrR 132/2014 S. 11; HUG/SCHEIDEGGER, Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 36 zu Art. 221 StPO; GFELLER/BIGLER/BONIN, Untersuchungshaft, Ein Leitfaden für die Praxis, 2017, S. 171; CONTE, a.a.O., S. 106; kritisch ferner auch NIKLAUS OBERHOLZER, Grundzüge des Strafprozessrechts, 4. Aufl. 2020, Rn. 1221 f.; DANIEL KAISER, Zum Spannungsverhältnis von öffentlicher Sicherheit und Schutz individueller Freiheitsrechte beim Haftgrund der Wiederholungs- und Ausführungsgefahr, 2020, S. 41 ff.). Auch wurde darauf hingewiesen, dass sich die mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung nur schwer von einem dringenden Tatverdacht abgrenzen lasse (MANFRIN, a.a.O., S. 145 f.).
2.7. Die in der Lehre geäusserte Kritik lässt sich nicht von der Hand weisen: Eine beschuldigte Person gilt nach dem Wesensgehalt der in Art. 6 Ziff. 2 EMRK, Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 10 Abs. 1 StPO verankerten Unschuldsvermutung bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig. Sie hat eine Straftat nicht verübt, bis sie dafür schuldig gesprochen wurde. In Nachachtung dieses für den modernen Strafprozess zentralen Prinzips spricht die Strafprozessordnung von einem Verdacht, wenn sie Straftaten meint, die noch untersucht werden und nicht rechtskräftig beurteilt wurden. Zwangsmassnahmen können allgemein nur ergriffen werden, wenn ein "hinreichender" Tatverdacht vorliegt (Art. 197 Abs. 1 lit. b StPO). Gewisse Zwangsmassnahmen, namentlich Untersuchungs- und Sicherheitshaft, setzen einen "dringenden" Tatverdacht voraus (Art. 221 Abs. 1 Ingress StPO), andere Bestimmungen lassen "konkrete Anhaltspunkte" genügen (vgl. z.B. Art. 282 Abs. 1 StPO; zur Abgrenzung zwischen "hinreichendem" und "dringendem" Tatverdacht: BGE 150 IV 239 E. 3.2-3.4 mit Hinweisen).
Im Gegensatz zum erkennenden Sachrichter hat das Zwangsmassnahmengericht bei der Prüfung der Haftvoraussetzungen grundsätzlich keine Abwägung sämtlicher belastender und entlastender Beweisergebnisse vorzunehmen (vgl. BGE 150 IV 239 E. 3.2; 143 IV 316 E. 3.1; 137 IV 122 E. 3.2). In dieser Logik ist die von der Rechtsprechung für eine Vortat bisher geforderte "an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit" einer Verurteilung letztlich nichts anderes als ein besonders konkreter und verdichteter Tatverdacht (vgl. ALBRECHT, a.a.O., S. 982; MANFRIN, a.a.O., S. 146). Mit Blick auf die Unschuldsvermutung scheint es nicht unproblematisch, wenn bereits das Haftgericht darüber zu befinden hat, ob das untersuchungsgegenständliche Verhalten der beschuldigten Person mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erstellt ist (vgl. ACHERMANN, a.a.O., Rn. 11). Das spricht für eine restriktive Auslegung.
2.8.
2.8.1. Der Zweck von Untersuchungshaft wegen Wiederholungs- und Ausführungsgefahr liegt darin, Delikte zu verhüten und die beschuldigte Person an der Begehung weiterer Straftaten zu hindern (vgl. BGE 137 IV 84 E. 3.2). Beim Haftgrund der Wiederholungsgefahr handelt es sich damit um eine sichernde polizeiliche Zwangsmassnahme (BBl 2006 1229 zu Art. 220; BGE 143 IV 9 E. 2.2 S. 12; Urteil 1B_274/2022 vom 20. Juni 2022 E. 5.1) und überwiegend um Präventivhaft (BGE 137 IV 84 E. 3.2). Auch Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK anerkennt ausdrücklich die Notwendigkeit, Beschuldigte an der Begehung strafbarer Handlungen zu hindern, somit Spezialprävention, als Haftgrund (BGE 146 IV 136 E. 2.2; 143 IV 9 E. 2.2).
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts zum früheren kantonalen Strafprozessrecht kann die Anordnung von Haft wegen Wiederholungsgefahr auch dem Ziel der Beschleunigung dienen, indem verhindert wird, dass sich das Verfahren durch immer neue Delikte kompliziert und in die Länge zieht (BGE 143 IV 9 E. 2.2 S. 11; vgl. auch BGE 146 IV 136 E. 2.2). Nach der jüngeren, unpublizierten Praxis steht die Verfahrensbeschleunigung in Übereinstimmung mit der Botschaft (BBl 2006 1229 Ziff. 2.5.3.4) aber zumindest nicht im Vordergrund: Da sich die Wiederholungsgefahr auf schwere, die Sicherheit anderer erheblich und unmittelbar gefährdende Delikte bezieht, genügt bei Fehlen einer solchen Gefährdung der Zweck der Beschleunigung nicht für die Haftanordnung (Urteile 1B_595/2019 vom 10. Januar 2020 E. 2.2; 1B_32/2017 vom 4. Mai 2017 E. 3.1; 1B_442/2015 vom 21. Januar 2016 E. 3.4.3; vgl. bereits ALBRECHT, a.a.O., S. 981; DONATSCH, a.a.O., N. 47 zu § 58 StPO/ZH; SCHMID/JOSITSCH, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 4. Aufl. 2023, Rn. 1024). Die Möglichkeit, ein Verfahren ohne Verzögerung abzuschliessen, kann deshalb lediglich das Resultat von Haft wegen Wiederholungsgefahr sein, nicht aber deren Grund (CONTE, a.a.O., S. 96; DONATSCH/HIESTAND, a.a.O., S. 4).
2.8.2. Die Haft bei Wiederholungsgefahr bezweckt, die Öffentlichkeit vor der Gefahr zu schützen, die von Wiederholungstätern ausgeht. Hier stellt sich letztlich die Frage, mit welchem Grad an Sicherheit die beschuldigte Person bereits früher gleichartige Straftaten begangen haben soll, damit diese als geeignete Indikatoren für die unmittelbare Gefahr weiterer Delikte von einer gewissen Schwere dienen können und dürfen. Eine rechtskräftige Verurteilung bietet dafür den sichersten Anhaltspunkt (vgl. MANFRIN, a.a.O., S. 158). Aus prognostischer Warte können allerdings auch Straftaten, die in jüngerer Vergangenheit (nur) mit sehr grosser Wahrscheinlichkeit begangen wurden, eine ähnlich geeignete Grundlage für die Ermittlung der Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls in naher Zukunft bilden wie eine mehrere Jahre zurückliegende Tat, die rechtskräftig abgeurteilt wurde (vgl. BGE 150 IV 149 E. 3.1.3; 143 IV 9 E. 2.6). Zu denken ist an eine Reihe gleichgelagerter Verbrechen oder schwerer Vergehen, für die glaubhafte Geständnisse, übereinstimmende Zeugenaussagen, ein Tatvideo oder sogar eine erst- oder zweitinstanzliche Verurteilung im Recht liegen. Der Zweck der Haft wegen Wiederholungsgefahr spricht deshalb nicht dagegen, auch höchstwahrscheinlich verübte, sicherheitsrelevante Straftaten als Grundlage für einfache Wiederholungsgefahr heranzuziehen, ohne ein rechtskräftiges Urteil zu verlangen.
Aus dieser rein prognostischen Warte wäre es freilich auch denkbar - analog der Regel in Art. 221 Abs. 1bis StPO -, bereits einen (dringenden) Tatverdacht als "Vortat" genügen zu lassen oder die Schwelle für die Haftanordnung sogar noch tiefer anzusetzen. Es ist jedoch daran zu erinnern, dass Untersuchungs- und Sicherheitshaft in das Recht auf persönliche Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV) eingreifen und per se in einem Spannungsverhältnis zur Unschuldsvermutung (Art. 32 Abs. 1 BV) stehen. Sie dürfen erst als ultima ratio und nur mit grosser Zurückhaltung angeordnet werden (BGE 150 IV 149 E. 3.3.1; 143 IV 9 E. 2.2; je mit Hinweisen). Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO ermöglicht zwar einerseits die Haft wegen Wiederholungsgefahr, stellt aber andererseits gleichzeitig die verfassungsrechtlich notwendigen Schranken auf (vgl. Art. 36 BV), um eine uferlose Anordnung von Präventivhaft zu verhindern. Wie hoch die Anforderungen für die einfache Wiederholungsgefahr sein sollen, beinhaltet deshalb letztlich eine normative Wertung, auf die eine teleologische Auslegung keine befriedigende oder abschliessende Antwort geben kann.
2.9.
2.9.1. Zur Deutung der Materialien der jüngsten StPO-Revision ist von der Kontroverse, wann von "verübten Straftaten" auszugehen ist, vorab die sog. qualifizierte Wiederholungsgefahr zu unterscheiden. Nach der altrechtlichen Praxis des Bundesgerichts (vgl. BGE 137 IV 13 E. 3 und 4) war die Haft im Falle mutmasslich bereits verübter und erneut akut drohender schwerer Gewalt- oder Sexualverbrechen entgegen dem Wortlaut von Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO auch ganz ohne Vortaten zulässig. Der Gesetzgeber hat diesen Haftgrund im neuen, per 1. Januar 2024 in Kraft getretenen Art. 221 Abs. 1bis StPO (AS 2023 468; BBl 2022 1560, 6 f.) ausdrücklich geregelt (eingehend dazu BGE 150 IV 149 E. 3.2 mit Hinweisen).
Von Bedeutung ist, dass der Bundesrat zunächst vorgeschlagen hatte, die qualifizierte Wiederholungsgefahr in den bestehenden Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO zu integrieren. Für die Annahme von Wiederholungsgefahr sollte neu eine einzige Vortat genügen (vgl. Art. 221 Abs. 1 lit. c des Vorentwurfs von 2017 zur Änderung der Strafprozessordnung [hiernach: VE-StPO 2017]: "[...] durch Verbrechen oder schwere Vergehen die Sicherheit anderer erheblich gefährdet, nachdem sie bereits früher eine solche Straftat verübt hat"). Wie die Botschaft ausführt, begrüsste dies eine deutliche Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmenden. Es sei aber vorgebracht worden, dass die Regelung nicht weit genug gehe, und es sei verlangt worden, analog der bundesgerichtlichen Rechtsprechung in gewissen Fällen ganz auf ein Vortatenerfordernis zu verzichten. Der Bundesrat wies darauf hin, dass es sich beim Haftgrund der Wiederholungsgefahr um Präventivhaft handle, die nur schwer mit der Unschuldsvermutung (Art. 32 Abs. 1 BV) vereinbar sei und einen schweren Eingriff in die persönliche Freiheit (vgl. Art. 10 Abs. 1 BV) der betroffenen Person zur Folge habe. Der Haftgrund dürfe deshalb nur mit Zurückhaltung und nur "im Rahmen einer restriktiven Auslegung der spezifischen Voraussetzungen zur Anwendung kommen" (BBl 2019 6742 f. zu Art. 221).
Die Botschaft fährt fort: "Der Entwurf schlägt aufgrund des oben Gesagten eine differenzierte Regelung vor: In
Buchstabe c von
Absatz 1soll der Haftgrund der Wiederholungsgefahr gemäss geltendem Recht grundsätzlich beibehalten werden. Das heisst, es werden insbesondere nach wie vor mindestens
zwei früher verübte gleichartige Straftaten als sogenannte 'Vortaten' vorausgesetzt [unter Hinweis auf die Botschaft von 2005, BBl 2006 1085, 1129]. Der Begriff 'verübt' setzt voraus, dass diese Straftaten
rechtskräftig beurteilt sein müssen [unter Hinweis auf " ALBRECHT, AJP 2011, S. 982"]. Denn diese Vortaten sind der einzige gesicherte Anhaltspunkt im Hinblick auf die zu erstellende Legalprognose [unter Hinweis auf " MANFRIN, Ersatzmassnahmenrecht, S. 152"]."
2.9.2. Bei der Interpretation dieser Passage ist MICHEROLI/TAG (a.a.O., Rn. 91) und FORSTER (BSK StPO, 3. Aufl. 2023, N. 15 zu Art. 221 StPO) teilweise zuzustimmen: Die Botschaft legt nicht ausdrücklich offen, sich mit dem Erfordernis zweier rechtskräftig beurteilter Vortaten in einen teilweisen Widerspruch zur bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu stellen, die bei erdrückender Beweislage keine rechtskräftigen Verurteilungen verlangt (vgl. E. 2.3.1 hiervor). Gleichzeitig machen die Verweise auf ALBRECHT, a.a.O., S. 982, der die dargelegte Rechtsprechung in BGE 137 IV 84 E. 3.2 (vgl. E. 2.6 hiervor) besprochen und kritisiert hat, sowie MANFRIN, a.a.O., S. 152, deutlich, dass dem Bundesrat bewusst gewesen sein muss, teilweise strengere Voraussetzungen zu stipulieren, als sie die Praxis bisher vorsah.
Nun mag man sich zwar fragen, ob sich die primären Adressaten der Botschaft - National- und Ständerat - bewusst waren, dass das Bundesgericht bis anhin auch ausserhalb der "qualifizierten Wiederholungsgefahr" weniger strenge Anforderungen an die Vortaten gestellt hatte. Die Formulierung in der Botschaft ist aber in sich eindeutig und unmissverständlich: Die einfache Wiederholungsgefahr verlangt mindestens zwei
rechtskräftig beurteilte Straftaten (auf Französisch, FF 2019 6394: "[...] que ces infractions ont fait l'objet d'un jugement
passé en force. "; auf Italienisch, FF 2019 5567: "[...] che tali reati devono essere stati giudicati e che la sentenza è
passata in giudicato, [...]"). Der Bundesrat legt mit dieser Formulierung auch kein geltendes Recht aus, sondern begründet seinen Erlassentwurf und kommentiert Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO (vgl. Art. 141 Abs. 2 des Parlamentsgesetzes vom 13. Dezember 2002 [ParlG; SR 171.10]). Nachdem der Vorschlag für eine Regelung der Wiederholungsgefahr in Art. 221 Abs. 1 lit. c VE-StPO 2017 verschiedenen Vernehmlassungsteilnehmenden nicht genügend weit ging, schlug der Bundesrat dem Gesetzgeber eine "differenzierte Regelung" vor, wie die Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr neu zu regeln sei. In Abs. 1bis wird statuiert, unter welchen Umständen (nur) ein dringender Tatverdacht Haft wegen Wiederholungsgefahr rechtfertigt, in Abs. 1 lit. c, unter welchen Umständen Vortaten verlangt sind.
2.9.3. Dieser bundesrätliche Regelungsvorschlag stiess weder in den vorberatenden Kommissionen noch in den Räten auf grossen Widerstand. Im Nationalrat wurde zum einen diskutiert, ob die zur Annahme von Wiederholungsgefahr geforderte erhebliche Sicherheitsgefährdung auch "unmittelbar" sein müsse. Die grosse Kammer hatte als Erstrat noch beschlossen, auf das Wort zu verzichten (AB 2021 N 612), weil befürchtet wurde, dass sonst die Voraussetzungen für die Anordnung von Haft wegen Wiederholungsgefahr verschärft würden (Voten BRin KELLER-SUTTER, AB 2021 N 611; NR ADDOR, AB 2022 N 68). In der Differenzbereinigung folgte der Nationalrat dem Ständerat und stimmte der Version des Bundesrats zu (AB 2022 N 75).
Zum anderen lehnte der Nationalrat einen weiteren Minderheitsantrag ab: Nationalrat ADDOR hatte vorgeschlagen, auf das Vortatenerfordernis ganz zu verzichten und den Teilsatz "nachdem sie [die beschuldigte Person] bereits früher gleichartige Straftaten verübt hat" aus Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO zu streichen. Er führte zur Begründung an, die mit der eidgenössischen StPO eingeführte Voraussetzung einer effektiven Rückfälligkeit (AB 2022 N 68 f.:
"nouvelle exigence d'une récidive effective d'infractions graves du même genre") habe die Möglichkeit der Staatsanwaltschaft und der Gerichte eingeschränkt, die öffentliche Sicherheit vor einem Urteil zu schützen, und dies
"assez considérablement". Der Antrag blieb in der Kommission (vgl. Votum Kommissionssprecher FLACH, AB 2022 N 73; 18:7 Stimmen) und im Rat (AB 2022 N 75; 133:53 Stimmen) ohne Erfolg.
2.9.4. Die Äusserungen der Ratsmitglieder deuten ebenfalls dahin, dass die einfache Wiederholungsgefahr und das Vortatenerfordernis im Sinne der bundesrätlichen Botschaft verstanden wurden. Nationalrätin BELLAÏCHE war der Auffassung, Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO verlange im Gegensatz zum Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT), dass die beschuldigte Person bereits früher für eine gleichartige Straftat verurteilt worden sei. Sie erläuterte, dass die ernsthafte Gefahr, die von dieser Person ausgehe, damit bereits objektiviert worden sei und nicht nur auf einem Verdachtsmoment oder der Zugehörigkeit der Person zu einer Gruppe beruhe. Es sei wichtig, "die Grenze hier scharf zu ziehen" (AB 2021 N 610).
Der ständerätliche Kommissionssprecher JOSITSCH sprach davon, dass Haft wegen Wiederholungsgefahr bisher nur möglich war, "mindestens vom Wortlaut des Gesetzes her", bei Vortat und bei entsprechender vorgängiger Verurteilung (AB 2021 S 1361). Er erklärte - dem Bundesrat folgend -, dass der Entwurf neu auch die qualifizierte Wiederholungsgefahr als Haftgrund vorsehe, also einen "Haftgrund ohne Vortatenerfordernis und ohne Vorverurteilung". Der Ständerat übernahm den Entwurf des Bundesrates unverändert (AB 2021 S 1361). Damit scheinen zunächst die ständerätliche Kommission für Rechtsfragen und ihr folgend der Ständerat davon ausgegangen zu sein, dass bei Abs. 1 lit. c eine rechtskräftige Vorverurteilung verlangt wird.
2.10. Den Materialien kommt bei der Auslegung jüngerer Normen nach der Rechtsprechung eine besondere Bedeutung zu (vgl. E. 2.4 hiervor). In Anbetracht der eindeutigen Formulierung in der Botschaft, wonach Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO
rechtskräftig beurteilte Straftaten verlange, sowie der zitierten Voten muss davon ausgegangen werden, dass sich das Parlament dem "differenzierten Regelungsvorschlag" des Bundesrats und den damit verbundenen Wertungen angeschlossen hat. Dazu gehört, dass mit der qualifizierten Wiederholungsgefahr (Abs. 1bis) ein Haftgrund geschaffen wurde, der die Voraussetzungen regelt, unter denen erst untersuchte Taten Haft wegen der Gefahr eines Rückfalls rechtfertigen können.
Auch wenn Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO hinsichtlich der Vortaten im Vergleich zum alten Recht deshalb formell nicht geändert wurde, folgte das Parlament dem bundesrätlichen Entwurf, ordnete die präventiven Haftgründe neu und stellte deren Inhalt klar. So ist auch in Bezug auf die
Anzahl der Vortaten nicht umstritten, dass Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO in Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung mindestens zwei früher verübte Straftaten verlangt (so die Botschaft: BBl 2019 6743 zu Art. 221), obwohl der Normtext in dieser Hinsicht unverändert blieb. Für eine Regelungsabsicht, die mit dem Wortlaut der Botschaft und den Äusserungen einzelner Ratsmitglieder in direktem Widerspruch stünde, findet sich im Gesetzestext, in den Materialien, in der Systematik der StPO oder im Zweck der Bestimmung dagegen keine genügende Stütze.
2.11. Die Auslegung von Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO ergibt, dass die beschuldigte Person nur wegen einfacher Wiederholungsgefahr inhaftiert werden kann, wenn sie bereits zuvor wegen mindestens zwei gleichartigen Straftaten verurteilt worden ist. Die in BGE 137 IV 84 E. 3.2 etablierte Rechtsprechung lässt sich unter dem neuen Recht nicht weiterführen.
2.12. Der Beschwerdeführer hat nur eine Vortat verübt. Der besondere Haftgrund der einfachen Wiederholungsgefahr ist deshalb nicht erfüllt. Die Beschwerde erweist sich als begründet.
3.
3.1. Das Bundesgericht hat mehrfach darauf hingewiesen, dass die kantonalen Instanzen nach dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen (vgl. Art. 5 Abs. 2 StPO; Art. 31 Abs. 4 BV) sowie aus Gründen der Prozessökonomie grundsätzlich gehalten sind, sämtliche infrage kommenden Haftgründe zu prüfen. Damit soll verhindert werden, dass die Rechtsmittelinstanz die Haftsache bei (teilweiser) Gutheissung der Beschwerde zur Prüfung weiterer Haftgründe zurückweisen muss (Urteile 7B_1022/2023 vom 11. Januar 2024 E. 3.2; 1B_323/2023 vom 4. Juli 2023 E. 4.1; 1B_197/2023 vom 4. Mai 2023 E. 4.5; je mit Hinweisen).
3.2. Die Vorinstanz hat offengelassen, ob die übrigen von der Staatsanwaltschaft geltend gemachten Haftgründe (qualifizierte Wiederholungsgefahr und Fluchtgefahr) vorliegen. Das führt aber nicht automatisch zur beantragten Haftentlassung durch das Bundesgericht. Eine solche käme nur in Betracht, wenn der von den kantonalen Instanzen bejahte Haftgrund nicht gegeben und auch die von ihnen nicht geprüften Haftgründe bei summarischer Prüfung zu verneinen wären (vgl. Urteile 7B_1022/2023 vom 11. Januar 2024 E. 3.2; 1B_323/2023 vom 4. Juli 2023 E. 4.2 f.; 1B_243/2023 vom 26. Mai 2023 E. 3.3). Eine solche Konstellation liegt insbesondere hinsichtlich der Gefahr einer Flucht bzw. eines Untertauchens des eritreischen Beschwerdeführers nicht vor, da der angefochtene Beschluss dazu keine sachdienlichen Feststellungen trifft. Eine Prüfung der übrigen Haftgründe ist dem Bundesgericht im vorliegenden Beschwerdeverfahren deshalb nicht möglich.
4.
4.1. Die Beschwerde ist teilweise gutzuheissen. Der angefochtene Beschluss ist aufzuheben und die Sache zur Beurteilung der übrigen Haftgründe an die Vorinstanz zurückzuweisen. Soweit der Beschwerdeführer die unverzügliche Haftentlassung begehrt, ist die Beschwerde abzuweisen.
4.2. Bei der Rückweisung zu neuer Entscheidung mit offenem Ausgang gilt der Beschwerdeführer hinsichtlich der Kosten- und Entschädigungsfolgen als vollständig obsiegend (BGE 141 V 281 E. 11.1; Urteil 7B_6/2021 vom 5. März 2024 E. 9). Es werden keine Gerichtskosten erhoben (vgl. Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG ). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gegenstandslos. Der Kanton Zürich hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor Bundesgericht eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen ( Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG ). Diese ist praxisgemäss seinem Rechtsvertreter auszurichten.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich vom 16. September 2024 wird aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Der Kanton Zürich hat dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Benedikt Homberger, für das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 2'000.-- zu bezahlen.
4.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gegenstandslos.
5.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich, dem Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, und dem Bezirksgericht Zürich, Zwangsmassnahmengericht, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 19. November 2024
Im Namen der II. strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Abrecht
Der Gerichtsschreiber: Eschle