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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_230/2024  
 
 
Urteil vom 21. Januar 2025  
 
III. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Moser-Szeless, Präsidentin, 
Bundesrichter Parrino, Beusch, 
Gerichtsschreiberin Bögli. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Gabriel Hüni, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Ausgleichskasse des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Alters- und Hinterlassenenversicherung, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 26. Februar 2024 (VBE.2023.384). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
A.A.________, geboren 1967, ist der Vater der 2005 geborenen B.A.________. Die Ehe zwischen ihm und der Mutter des Kindes, C.________, wurde im Jahr 2007 geschieden. Nach dem Tod von C.________ bezog A.A.________ ab 1. November 2014 eine Witwerrente. Mit Verfügung vom 26. April 2023 stellte die Ausgleichskasse des Kantons Aargau die Auszahlung der Witwerrente per 31. März 2023 ein, da die Tochter B.A.________ 18 Jahre alt geworden war. Dies bestätigte sie mit Einspracheentscheid vom 15. August 2023. 
 
B.  
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wies die dagegen erhobene Beschwerde mit Urteil vom 26. Februar 2024 ab. 
 
C.  
Gegen dieses Urteil lässt A.A.________ Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragt die Aufhebung des angefochtenen Urteils. Ihm sei auch über den 31. März 2023 hinaus eine Witwerrente auszurichten. Eventualiter sei die Sache an die Vorinstanz, subeventualiter an die Beschwerdegegnerin zur weiteren Abklärung und Neuentscheidung zurückzuweisen. Zudem sei ihm die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung zu gewähren. 
Die Ausgleichskasse und das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) schliessen auf Abweisung der Beschwerde. A.A.________ lässt eine weitere Eingabe einreichen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG; zum Ganzen BGE 145 V 57 E. 4). 
 
2.  
 
2.1. Anspruch auf eine Witwen- oder Witwerrente haben Witwen oder Witwer, sofern sie im Zeitpunkt der Verwitwung Kinder haben (Art. 23 Abs. 1 AHVG). Witwen haben überdies Anspruch auf eine Witwenrente, wenn sie im Zeitpunkt der Verwitwung keine Kinder oder Pflegekinder im Sinne von Art. 23, jedoch das 45. Altersjahr vollendet haben und mindestens fünf Jahre verheiratet gewesen sind (Art. 24 Abs. 1 Satz 1 AHVG). Der Anspruch erlischt mit der Wiederverheiratung und mit dem Tod der Witwe oder des Witwers (Art. 23 Abs. 4 AHVG). Zusätzlich zu den in Art. 23 Abs. 4 aufgezählten Beendigungsgründen erlischt der Anspruch auf die Witwerrente, wenn das letzte Kind des Witwers das 18. Altersjahr vollendet hat (Art. 24 Abs. 2 AHVG).  
Eine geschiedene Person ist einer verwitweten gleichgestellt, wenn: a. sie eines oder mehrere Kinder hat und die geschiedene Ehe mindestens zehn Jahre gedauert hat; b. die geschiedene Ehe mindestens zehn Jahre gedauert hat und die Scheidung nach Vollendung des 45. Altersjahres erfolgte; c. das jüngste Kind sein 18. Altersjahr vollendet hat, nachdem die geschiedene Person ihr 45. Altersjahr zurückgelegt hat (Art. 24a Abs. 1 AHVG). Ist nicht mindestens eine der Voraussetzungen von Abs. 1 erfüllt, so besteht ein Anspruch auf eine Witwen- oder Witwerrente nur, wenn und solange die geschiedene Person Kinder unter 18 Jahren hat (Art. 24a Abs. 2 AHVG). 
 
2.2. Mit dem Urteil 78630/12 Beeler gegen Schweiz vom 11. Oktober 2022, das einen ("nicht geschiedenen") Witwer betraf, entschied der EGMR, dass durch Art. 24 Abs. 2 AHVG Witwer diskriminiert werden, indem ihre Hinterlassenenrente, anders als jene von Witwen, mit der Volljährigkeit des jüngsten Kindes erlischt. Er stellte in diesem Zusammenhang eine Verletzung von Art. 14 (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) fest. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist somit zwecks Herstellung eines konventionskonformen Zustandes in vergleichbaren Konstellationen fortan darauf zu verzichten, die Witwerrente allein aufgrund der Volljährigkeit des jüngsten Kindes aufzuheben (vgl. BGE 143 I 50 E. 4.1 und 4.2; 143 I 60 E. 3.3; vgl. auch die Urteile 9C_334/2024 vom 16. Dezember 2024 E. 2.2; 9C_644/2023 vom 10. Juni 2024 E. 3.2.2; 9C_281/2022 vom 28. Juni 2023 E. 3).  
 
2.3. Nach Erlass des Urteils Beeler statuierte das BSV in den Mitteilungen Nr. 460 vom 21. Oktober 2022 an die AHV-Ausgleichskassen und EL-Durchführungsstellen (nachfolgend: Mitteilungen Nr. 460) eine "Übergangsregelung für Witwerrenten der AHV in Folge Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) " mit Gültigkeit vom 11. Oktober 2022 bis zum Inkrafttreten einer nächsten Revision des AHVG betreffend die Hinterlassenenrenten. Davon betroffen sind (laut Mitteilungen Nr. 460) insbesondere Witwer mit Kindern, die die Rentenaufhebungsverfügung angefochten haben und deren Fall am 11. Oktober 2022 hängig ist, nicht aber "geschiedene Männer, deren Anspruch auf Witwerrente in jedem Fall mit der Vollendung des 18. Altersjahres des jüngsten Kindes endet". Für die Betroffenen werden die Witwerrenten gemäss Artikel 23 AHVG gewährt und über das 18. Altersjahr des Kindes hinaus ausbezahlt; die Leistungen sind also nicht mehr zeitlich befristet und erlöschen nur bei Tod, Wiederverheiratung oder Entstehung des Anspruchs auf eine höhere AHV-Altersrente bzw. IV-Rente. Analoge Vorgaben finden sich in Rz. 3401 ff. der Wegleitung des BSV über die Renten (RWL) in der Eidgenössischen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (Stand: 1. Januar 2023, Version 18) resp. in Rz. 3138 und 3147 RWL in der aktuellen Fassung (Stand: 1. Januar 2024, Version 19).  
 
3.  
 
3.1. Der Beschwerdeführer war zum Zeitpunkt des 18. Geburtstags seiner Tochter über 45 Jahre alt, womit er die Voraussetzungen von Art. 24a Abs. 1 lit. c AHVG erfüllt. Damit fällt als Grundlage für eine Rentenaufhebung einzig Art. 24 Abs. 2 AHVG in Betracht. Unbestritten ist, dass der Rentenanspruch eines Witwers (wie auch jener einer Witwe und einer geschiedenen Ehefrau) bei im Übrigen unveränderten Gegebenheiten auch über den 18. Geburtstag des jüngsten Kindes hinaus bestehen bleibt. Streitig war und ist, ob die Witwerrente allein aufgrund des Umstandes, dass der Betroffene seinen Anspruch als geschiedener Ehemann begründete, aufgehoben werden darf.  
 
3.2. Das kantonale Gericht führt im angefochtenen Urteil aus, die Rechtsprechung des EGMR komme vorliegend nicht zur Anwendung, da der Beschwerdeführer geschieden und seine Situation damit nicht mit dem Fall Beeler vergleichbar sei. Es möge zwar stossend erscheinen, dass die Rentenaufhebung von verwitweten Ehemännern in mit dem Urteil Beeler vergleichbaren Konstellationen nicht mehr nach Art. 24 Abs. 2 AHVG erfolge, diejenige von geschiedenen Ehemännern jedoch schon, dies stehe aber mit der geltenden Gesetzeslage im Einklang.  
 
3.3. Der Beschwerdeführer hält dagegen, sein Zivilstand stelle weder nach EMRK noch nach Bundesrecht einen massgeblichen Unterschied dar; das Völkerrecht untersage die Aufhebung der Witwerrente einzig gestützt auf das Geschlecht. Zudem verlange Art. 24a Abs. 1 AHVG eine Gleichbehandlung von geschiedenen und nicht geschiedenen Witwern, weshalb das angefochtene Urteil, die Mitteilung Nr. 460 des BSV sowie RWL Rz. 3421 folglich Völkerrecht und Bundesrecht verletzten.  
 
4.  
 
4.1. Verwaltungsweisungen, wie die Übergangsregelung des BSV in den Mitteilungen Nr. 460 und der RWL, richten sich grundsätzlich nur an die Durchführungsstellen und sind für die Gerichte nicht verbindlich. Indes berücksichtigen die Gerichte die Weisungen insbesondere dann und weichen nicht ohne triftigen Grund davon ab, wenn diese eine dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen zulassen und eine überzeugende Konkretisierung der rechtlichen Vorgaben enthalten. Dadurch wird dem Bestreben der Verwaltung Rechnung getragen, durch interne Weisungen eine rechtsgleiche Gesetzesanwendung zu gewährleisten. Auf dem Wege von Verwaltungsweisungen dürfen keine über Gesetz und Verordnung hinausgehenden Einschränkungen eines materiellen Rechtsanspruchs eingeführt werden (BGE 148 V 385 E. 5.2; 147 V 79 E. 7.3.2 mit zahlreichen Hinweisen).  
 
4.2. Das Bundesgericht hat kürzlich in einem zur Publikation vorgesehenen Urteil festgestellt, dass der Wortlaut nicht nur von Art. 24a Abs. 1 AHVG, sondern auch von Art. 23 und 24 AHVG (soweit hier von Interesse), klar ist: Für die Aufhebung der Hinterlassenenrente eines geschiedenen - aber einem verwitweten gleichgestellten - Mannes könnte der Beendigungsgrund von Art. 24 Abs. 2 AHVG nur indirekt, mithin über die Gleichstellung geschiedener Männer mit Witwern, zum Tragen kommen (Urteil 9C_344/2024 vom 16. Dezember 2024 E. 4.3.1, zur Publikation vorgesehen). Auch die teleologischen, historischen und systematischen Aspekte sprechen grundsätzlich dafür, Art. 24 Abs. 2 AHVG auf einen geschiedenen Mann nicht direkt, sondern nur indirekt, im Rahmen von dessen Gleichstellung mit einem Witwer, anzuwenden (a.a.O, E. 4.3.2).  
 
4.3. Es ist unbestritten, dass gestützt auf die seit dem 11. Oktober 2022 geltende Übergangsregelung des BSV (vgl. E. 2.3 hiervor) der besondere Rentenbeendigungsgrund von Art. 24 Abs. 2 AHVG auf Witwer nicht mehr anwendbar ist. Wohl gingen die eidgenössischen Räte bei der Verabschiedung der 10. AHV-Revision davon aus, dass die Witwerrente (anders als die grundsätzlich "unbefristete" Witwenrente) nur bis zum 18. Geburtstag des jüngsten Kindes ausgerichtet werde. Die zeitliche Begrenzung der Witwerrente resp. die damit verbundene Ungleichbehandlung wurde indessen lediglich "einstweilen noch für gerechtfertigt" gehalten (BBl 1990 II 37 Ziff. 314.1). Dass die begrenzte Dauer der Witwerrente für die (für Frauen und Männer gleichermassen) statuierte Gleichstellung von geschiedenen und verwitweten Personen entscheidend gewesen sein soll, ist aus den Materialien nicht ersichtlich.  
Sodann hält die Übergangsregelung ausdrücklich fest, dass sie nur für Witwer, aber nicht für geschiedene Ehemänner gelten soll. Mit dieser Vorgabe wird nicht nur die Gleichstellung von geschiedenen und verwitweten Personen ohne nähere Begründung relativiert, sondern auch die Rechtsungleichheit (vgl. Art. 8 BV) zwischen geschiedenen Männern und Frauen bei der Anspruchsbeendigung perpetuiert (Urteil 9C_344/2024 vom 16. Dezember 2024 E. 4.3.3, zur Publikation vorgesehen). 
 
4.4. Nach dem Gesagten fehlt ein triftiger Grund, um vom klaren Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen abzuweichen und die Gleichstellung (bestimmter) geschiedener Männer mit Witwern nur hinsichtlich der Entstehung und Höhe des Rentenanspruchs, nicht aber bezüglich dessen Beendigung zu berücksichtigen. Das führt ohne Weiteres zu folgendem Schluss: Soweit der Rentenaufhebungsgrund von Art. 24 Abs. 2 AHVG nicht (mehr) auf Witwer anwendbar ist, kann er auch für einen geschiedenen Mann, der (im Sinne von Art. 24a Abs. 1 AHVG) einem Witwer gleichgestellt ist, keine Rolle spielen (so auch BASILE CARDINAUX, Das EGMR-Urteil Beeler und seine Folgen, SZS 2023 S. 128 f.). Entgegenstehende Weisungen des BSV sind gesetzeswidrig und daher nicht zu beachten (vgl. Urteil 9C_334/2024 vom 16. Dezember 2024 E. 4.4).  
 
4.5. Die Vorinstanz hat demnach Bundesrecht verletzt, indem sie einen über die Volljährigkeit der Tochter resp. über den 31. März 2023 hinausgehenden Anspruch des Beschwerdeführers auf eine Witwerrente verneint hat. Weitere Ausführungen zur Frage nach der Vergleichbarkeit des hier zu beurteilenden Sachverhalts mit jenem im Urteil Beeler resp. nach der EMRK-Kompatibilität einer Rentenaufhebung erübrigen sich.  
 
5.  
Dem Prozessausgang entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu entrichten (Art. 68 Abs. 2 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege (Art. 64 Abs. 1 BGG) wird damit gegenstandslos. 
Was das vorangegangene Verfahren anbelangt, so ändert dieses Urteil nichts an dessen Kostenlosigkeit; die Sache ist aber zur Neuverlegung der Parteientschädigung an die Vorinstanz zurückzuweisen (Art. 67 und Art. 68 Abs. 5 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 26. Februar 2024 und der Einspracheentscheid der Ausgleichskasse des Kantons Aargau vom 15. August 2023 werden aufgehoben. Dem Beschwerdeführer steht auch nach dem 31. März 2023 eine Witwerrente zu. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.  
Die Beschwerdegegnerin hat den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 3'000.- zu entschädigen. 
 
4.  
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung für das vorangegangene Verfahren an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückgewiesen. 
 
5.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 21. Januar 2025 
 
Im Namen der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Moser-Szeless 
 
Die Gerichtsschreiberin: Bögli