Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
7B_286/2022
Urteil vom 22. Oktober 2024
II. strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Abrecht, Präsident,
Bundesrichter Hurni, Kölz,
Gerichtsschreiberin Lustenberger.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Nicolas Pfister,
Beschwerdeführer,
gegen
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 20, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Fahrlässige grobe Verletzung der Verkehrsregeln; Anklagegrundsatz,
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, 3. Kammer, vom 8. November 2022 (SST.2022.176).
Sachverhalt:
A.
Am 4. September 2020 um ca. 8.50 Uhr fuhr A.________ als Lenker eines Lieferwagens in Seon auf der Seetalstrasse Richtung Beinwil. Bei der Einmündung Talstrasse, wo sich zu diesem Zeitpunkt eine Baustelle befand, befuhr er trotz mittels Wechselblinker angezeigter bevorstehender Zugdurchfahrt den Bahnübergang. Er sah das Wechselblinklichtsignal nicht und nahm den herannahenden Zug erst wahr, als er aufgrund der Achtungssignale des Zugs nach links schaute. A.________ konnte nicht mehr rechtzeitig rückwärtsfahren, weshalb es trotz Schnellbremsung des Zugführers zu einer Kollision kam. Verletzt wurde dadurch niemand, es entstand jedoch ein Sachschaden beim Lieferwagen und beim Zug.
B.
B.a. Am 22. Januar 2021 erliess die Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau gegen A.________ einen Strafbefehl wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln (Art. 90 Abs. 2 SVG), begangen durch mangelnde Aufmerksamkeit (Art. 31 Abs. 1 SVG und Art. 3 Abs. 1 der Verkehrsregelnverordnung vom 13. November 1962 [VRV; SR 741.11]), Nichtbeachten von Signalen (Wechselblinker) vor einem Bahnübergang (Art. 28 SVG) und Nichtbeherrschen des Fahrzeugs (Art. 31 Abs. 1 SVG). Dabei hielt die Staatsanwaltschaft fest:
"Der Beschuldigte hat vorsätzlich, d.h. mit Wissen und Willen, durch grobe Verletzung der Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorgerufen oder zumindest in Kauf genommen, indem er dem Verkehr nicht genügende Aufmerksamkeit zugewendet hat, trotz Halt gebietenden Signalen vor einem Bahnübergang nicht angehalten hat sowie sein Fahrzeug nicht oder ungenügend beherrscht hat, sodass er seinen Vorsichtspflichten als Fahrzeuglenker nicht mehr nachkommen konnte und eine Kollision mit einem Schienenfahrzeug verursachte."
Nach Umschreibung des Tatvorgehens merkte die Staatsanwaltschaftlich zudem an:
"Durch sein Verhalten rief der Beschuldigte eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer, namentlich die Personen im Zug hervor, was er zumindest in Kauf nahm."
B.b. Auf seine Einsprache hin sprach das Bezirksgericht Lenzburg A.________ am 31. Januar 2022 von Schuld und Strafe frei.
B.c. Mittels Berufung stellte die Staatsanwaltschaft dem Obergericht des Kantons Aargau den Antrag, A.________ sei im Sinne der Anklage schuldig zu sprechen. Eventualiter sei der Staatsanwaltschaft nach Art. 333 Abs. 1 StPO die Möglichkeit zu geben, die Anklage um den Tatbestand der fahrlässigen Tatbegehung zu ergänzen.
Das Obergericht sprach A.________ mit Urteil vom 8. November 2022 der mehrfachen groben Verletzung der Verkehrsregeln gemäss Art. 90 Abs. 2 SVG durch Nichtbeachten eines Signals vor einem Bahnübergang gemäss Art. 28 SVG und durch Verletzung der Vorsichtspflichten beim Befahren eines Bahnübergangs gemäss Art. 31 Abs. 1 SVG schuldig, wobei es von fahrlässiger Tatbegehung ausging. Hierfür verurteilte es ihn zu einer unbedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je Fr. 100.--, ausmachend Fr. 9'000.--.
C.
A.________ erhebt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und er sei von sämtlichen Vorwürfen freizusprechen. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Die Vorinstanz verzichtet unter Verweis auf die Erwägungen im angefochtenen Urteil auf eine Vernehmlassung. Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau stellt Antrag auf kostenfällige Abweisung der Beschwerde.
Die kantonalen Akten wurden antragsgemäss ediert.
Erwägungen:
1.
Angefochten ist ein Endentscheid in Strafsachen einer letzten kantonalen Instanz, die als oberes Gericht auf Berufung hin geurteilt hat (Art. 80 und Art. 90 BGG ). Der Beschwerdeführer ist zur Beschwerde legitimiert (Art. 81 Abs. 1 lit. a und lit. b Ziff. 1 BGG) und hat die Beschwerdefrist eingehalten (Art. 100 Abs. 1 BGG). Die Beschwerde in Strafsachen gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG ist grundsätzlich zulässig.
2.
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Anklagegrundsatzes. Er bemängelt dabei im Wesentlichen eine unzureichende Umschreibung des subjektiven Tatbestands.
2.1.
2.1.1. Nach dem aus Verfassungs- und Konventionsrecht abgeleiteten und in Art. 9 Abs. 1 und Art. 325 StPO festgeschriebenen Anklagegrundsatz bestimmt die Anklageschrift den Gegenstand des Gerichtsverfahrens (Umgrenzungsfunktion). Zugleich bezweckt das Anklageprinzip den Schutz der Verteidigungsrechte der beschuldigten Person und garantiert den Anspruch auf rechtliches Gehör (Informationsfunktion; BGE 149 IV 128 E. 1.2; 147 IV 439 E. 7.2; 144 I 234 E. 5.6.1; je mit Hinweisen). Die beschuldigte Person muss aus der Anklage ersehen können, wessen sie angeklagt ist. Das bedingt eine zureichende Umschreibung der Tat. Sie darf nicht Gefahr laufen, erst an der Gerichtsverhandlung mit neuen Anschuldigungen konfrontiert zu werden (BGE 143 IV 63 E. 2.2 mit Hinweisen; Urteil 6B_77/2024 vom 2. Juli 2024 E. 1.2.4).
Das Gericht ist an den in der Anklage wiedergegebenen Sachverhalt gebunden (Immutabilitätsprinzip), nicht aber an dessen rechtliche Würdigung durch die Anklagebehörde (Art. 350 Abs. 1 StPO). Das Anklageprinzip ist verletzt, wenn die angeklagte Person für Taten verurteilt wird, bezüglich welcher die Anklageschrift den inhaltlichen Anforderungen nicht genügt, oder wenn das Gericht mit seinem Schuldspruch über den angeklagten Sachverhalt hinausgeht (Urteile 6B_77/2024 vom 2. Juli 2024 E. 1.2.4; 7B_6/2021 vom 5. März 2024 E. 8.2.1; je mit Hinweisen).
2.1.2. Nach der Rechtsprechung muss die Anklage wegen grober Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG eine hinreichende Darstellung des Tatbestandsmerkmals der "ernstlichen Gefahr für die Sicherheit anderer" enthalten (Urteil 6B_1235/2021 vom 23. Mai 2022 E. 1.5.1).
Nebst dem muss klar sein, ob der beschuldigten Person Fahrlässigkeit oder Vorsatz vorgeworfen wird. Dies gilt grundsätzlich auch für die Anklage von Verkehrsregelverletzungen, die sowohl bei vorsätzlicher als auch bei fahrlässiger Begehung strafbar sind (vgl. Art. 90 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 100 Ziff. 1 SVG). Hinweise auf eine fehlende Aufmerksamkeit in der Anklage beinhalten in der Regel einen Vorwurf der Fahrlässigkeit, während die Formulierungen "mit Wissen und Willen" bzw. "in Kauf genommen" mit Blick auf Art. 12 Abs. 1 StGB auf Vorsatz bzw. Eventualvorsatz hindeuten. Bei einer Anklage wegen Verletzung der Verkehrsregeln ist daher von einer angeklagten fahrlässigen Tatbegehung auszugehen, es sei denn, die Anklage beinhalte einen darüber hinausgehenden Vorwurf eines vorsätzlichen Handelns. Die Rechtsprechung begründet dies damit, dass die vorsätzliche und fahrlässige Verkehrsregelverletzung gleichermassen strafbar sind. Die für die Annahme von Fahrlässigkeit erforderliche Pflichtverletzung ergibt sich dabei, selbst wenn in der Anklage nicht explizit erwähnt, aus der im Strassenverkehr allgemein geltenden Pflicht zur Aufmerksamkeit (vgl. Art. 31 Abs. 1 SVG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 VRV) und der als bekannt vorausgesetzten Kenntnis der Verkehrsregeln (vgl. Art. 14 Abs. 1 und 3 lit. a SVG ). Schildert die Anklage kein bewusstes Verhalten, ist daher von einer fahrlässigen Verletzung der Verkehrsregeln auszugehen, dies insbesondere bei Verkehrsregelverletzungen, die unter den angeklagten Umständen typischerweise durch fehlende Aufmerksamkeit im Strassenverkehr begangen werden (Urteil 6B_1235/2021 vom 23. Mai 2022 E. 1.5.2 mit Hinweisen).
2.2. Vor diesem Hintergrund erweist sich der Einwand des Beschwerdeführers als begründet. Die Vorinstanz stützt den Schuldspruch ausdrücklich auf den "zur Anklage erhobenen Strafbefehl" (vgl. Art. 356 Abs. 1 StPO). Zwar ist ihr zuzustimmen, wenn sie ausführt, der Strafbefehl enthalte auch gewisse Elemente, die für eine fahrlässige Tatbegehung sprächen. So wird dem Beschwerdeführer bei der Umschreibung des Tatvorgehens vorgeworfen, nicht auf den Wechselblinker und die bevorstehende Zugdurchfahrt geachtet zu haben, was zumindest implizit eine Pflichtwidrigkeit indiziert. Anders als die vorinstanzliche Begründung glauben lassen könnte, wird ihm jedoch nicht ausdrücklich zur Last gelegt, pflichtwidrig gehandelt oder seine Vorsichtspflichten verletzt zu haben. Stattdessen wird in aller Deutlichkeit festgehalten, er habe wissentlich und willentlich und damit vorsätzlich gehandelt. Angesichts dieses eindeutigen Vorwurfs vorsätzlichen Handelns musste der Beschwerdeführer nicht davon ausgehen, sich gegen einen Fahrlässigkeitsvorwurf zur Wehr setzen zu müssen.
2.3. Hinzu kommt Folgendes: Im Rahmen der Vorfragen legte die Beschwerdegegnerin der Vorinstanz anlässlich der Berufungsverhandlung eine ergänzte Anklageschrift vor. Darin wird dem Beschwerdeführer auch eine fahrlässige grobe Verletzung der Verkehrsregeln zur Last gelegt (Akten Vorinstanz pag. 87). Während der gesamten Berufungsverhandlung äusserte sich die Vorinstanz jedoch nicht dazu, ob und wie sie diese Ergänzung zu würdigen gedenkt (vgl. Protokoll der Berufungsverhandlung, Akten Vorinstanz pag. 28 ff., insbesondere pag. 29 und 39). Damit hat die Vorinstanz, wie vom Beschwerdeführer zu Recht vorgebracht, gegen Art. 405 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 339 Abs. 3 StPO verstossen. Diese Bestimmung verlangt, dass über Vorfragen - vorliegend diejenigen der massgebenden Anklage (vgl. Art. 339 Abs. 2 lit. a StPO) - nach Gewährung des rechtlichen Gehörs unverzüglich entschieden wird. Gleichzeitig darf das Gericht eine geänderte oder erweiterte Anklage seinem Urteil nur zu Grunde legen, wenn die Parteirechte der beschuldigten Person und der Privatklägerschaft gewahrt worden sind. Es unterbricht dafür nötigenfalls die Hauptverhandlung (Art. 333 Abs. 4 StPO). Die Vorinstanz blieb den Parteien bis zum Schluss der Berufungsverhandlung einen Entscheid darüber schuldig, ob sie die von der Beschwerdegegnerin ergänzte Anklageschrift akzeptiert. Folglich war für den Beschuldigten in Missachtung seiner Parteirechte unklar, ob er sich gegen den Fahrlässigkeitsvorwurf zu verteidigen hatte oder nicht. Selbst im angefochtenen Entscheid äussert sich die Vorinstanz im Übrigen nicht zur ergänzten Anklageschrift.
2.4. Der Schuldspruch wegen fahrlässig begangener mehrfacher grober Verletzung der Verkehrsregeln verletzt aus den genannten Gründen den Anklagegrundsatz und damit Bundesrecht. Dies führt vorliegend jedoch nicht ohne Weiteres zu einem Freispruch des Beschwerdeführers.
2.4.1. Nach Art. 333 Abs. 1 StPO gibt das Gericht der Staatsanwaltschaft Gelegenheit, die Anklage zu ändern, wenn nach seiner Auffassung der in der Anklageschrift umschriebene Sachverhalt einen anderen Straftatbestand erfüllen könnte, die Anklageschrift aber den gesetzlichen Anforderungen nicht entspricht. Die Bestimmung gelangt zur Anwendung, wenn der in der Anklageschrift umschriebene Sachverhalt einen anderen (Umqualifizierung) - oder, bei echter Konkurrenz, einen zusätzlichen - Straftatbestand erfüllen könnte, die Anklageschrift aber den gesetzlichen Anforderungen nicht entspricht (BGE 148 IV 124 E. 2.6.2; 147 IV 167 E. 1.4 mit Hinweis). Das ist typischerweise dann der Fall, wenn der angeklagte Sachverhalt aus Sicht des Gerichts einen anderen rechtlichen Tatbestand erfüllen könnte, dessen Tatbestandsvoraussetzungen allerdings in der Anklage nicht (vollständig) umschrieben sind (BGE 149 IV 42 E. 3.4.1). Ein Beispiel ist die Konstellation, in der neben der vorsätzlichen Begehung auch die fahrlässige Handlung unter Strafe steht und das Gericht allenfalls eine andere rechtliche Würdigung des subjektiven Tatbestands vornehmen möchte (JONAS ACHERMANN, in: Basler Kommentar Schweizerische Strafprozessordnung, 3. Aufl. 2023, N. 37 zu Art. 333 StPO). Mit Art. 333 Abs. 1 StPO wird verhindert, dass schwere Straftaten mit einem Freispruch enden, nur weil sich bei der Beweisaufnahme vor Gericht eine mögliche neue Tatvariante ergibt (BGE 149 IV 42 E. 3.4.1 mit Hinweisen).
Eine solche Änderung der Anklage ist in Anwendung von Art. 379 StPO im Rahmen der Anträge der Parteien und soweit mit dem Verbot der "reformatio in peius" vereinbar (vgl. Art. 391 Abs. 2 StPO) auch im Berufungsverfahren noch zulässig (BGE 148 IV 124 E. 2.6.3 mit Hinweisen; 147 IV 167 E. 1.4). Unter den gleichen Voraussetzungen kann eine Anklageänderung auch noch nach einer Rückweisung durch das Bundesgericht erfolgen (BGE 148 IV 124 E. 2.6.3 mit Hinweisen).
2.4.2. In diesem Sinne ist die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese den Tatvorwurf gemäss geänderter Anklageschrift erneut prüfen kann. Hierzu wird dem Beschwerdeführer das rechtliche Gehör zu gewähren sein.
3.
Die Beschwerde ist teilweise gutzuheissen. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Sache im Sinne der vorstehenden Erwägungen an die Vorinstanz zurückzuweisen. Soweit im Hauptantrag ein direkter Freispruch beantragt wird, ist die Beschwerde dagegen abzuweisen.
Bei diesem Ergebnis hat der Beschwerdeführer hinsichtlich der Kosten- und Entschädigungsfolgen als vollständig obsiegend zu gelten, auch wenn das Rückweisungsbegehren den Eventualantrag darstellt (BGE 141 V 281 E. 11.1). Demnach werden keine Gerichtskosten erhoben (vgl. Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG ). Gleichzeitig wird der Kanton Aargau verpflichtet, dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor Bundesgericht eine angemessene Parteientschädigung auszurichten ( Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG ).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 8. November 2022 wird aufgehoben und die Sache zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückgewiesen. Soweit weitergehend, wird die Beschwerde abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Der Kanton Aargau hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 3'000.-- auszurichten.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 3. Kammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 22. Oktober 2024
Im Namen der II. strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Abrecht
Die Gerichtsschreiberin: Lustenberger