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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_561/2022  
 
 
Urteil vom 24. April 2023  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin, 
Bundesrichter Muschietti, 
Bundesrichterin Koch, 
Gerichtsschreiberin Erb. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Paul Rechsteiner, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, Spisergasse 15, 9001 St. Gallen, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz etc.; Landesverweisung; rechtliches Gehör, Willkür, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts St. Gallen, Strafkammer, vom 20. Dezember 2021 (ST.2021.34-SK3 / Proz. Nr. ST.2019.43052). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Mit Entscheid vom 23. Dezember 2020 sprach das Kreisgericht Wil A.________ des Verbrechens gegen das Betäubungsmittelgesetz, der versuchten Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte, der Beschimpfung, der Hinderung einer Amtshandlung, des Diebstahls, des Hausfriedensbruchs sowie der mehrfachen Übertretung gegen das Betäubungsmittelgesetz schuldig. Es ordnete den Vollzug der bedingten Freiheitsstrafe von zwei Monaten gemäss Urteil des Kreisgerichts St. Gallen vom 8. Januar 2020 und der Reststrafe von 122 Tagen gemäss Urteil des Kantonsgerichts St. Gallen vom 25. Juni 2019 an. Es verurteilte ihn unter Bildung einer Gesamtstrafe sowie teilweise im Zusatz zum Urteil des Kreisgerichts St. Gallen vom 8. Januar 2020 zu einer Freiheitsstrafe von 25 Monaten, unter Anrechnung der Untersuchungshaft von 89 Tagen sowie des vorzeitigen Strafvollzugs. Weiter verurteilte es ihn zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu Fr. 30.-- und zu einer Busse von Fr. 500.--. Das Kreisgericht Wil ordnete zudem eine vollzugsbegleitende ambulante Behandlung nach Art. 63 StGB an und verwies A.________ für die Dauer von acht Jahren des Landes. 
Die dagegen von A.________ eingelegte Berufung, beschränkt auf die Landesverweisung, wies das Kantonsgericht St. Gallen mit Entscheid vom 20. Dezember 2021 ab. Es bestätigte den Entscheid des Kreisgerichts Wil vom 23. Dezember 2020. 
 
B.  
A.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, der Entscheid des Kantonsgerichts St. Gallen vom 20. Dezember 2021 sei aufzuheben und auf eine Landesverweisung sei zu verzichten. Eventualiter sei die Angelegenheit zum neuen Entscheid an die Vorinstanz zurückzuweisen. A.________ stellt zudem ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1. Der Beschwerdeführer rügt in formeller Hinsicht eine Verletzung seines rechtlichen Gehörs.  
 
1.1. Er macht geltend, mit Eingabe vom 26. Oktober 2021 habe er beantragt, B.________ sei als Zeugin zu befragen. Sie sei seine Mutter und seine einzige tragende Beziehung. Am 28. Oktober 2021 habe die Verfahrensleitung den Beweisantrag abgewiesen mit dem Hinweis darauf, dass er anlässlich der Hauptverhandlung erneut gestellt werden könne. Anlässlich der Hauptverhandlung habe er den Antrag entsprechend erneut gestellt, weil der familiäre Hintergrund im Zusammenhang mit der Landesverweisung relevant sei. Daraufhin habe der Verfahrensleiter mitgeteilt, darüber werde anlässlich der Beratung in der Hauptsache entschieden. Der Beschwerdeführer rügt, dem angefochtenen Entscheid sei nicht zu entnehmen, ob über den Beweisantrag im Rahmen der Beratung in der Hauptsache entschieden worden sei. Dies verletze sowohl die Garantien auf ein faires Verfahren gemäss Art. 6 EMRK als auch den Anspruch auf rechtliches Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV. Dies gelte für den Fall, dass über den Beweisantrag entgegen der Ankündigung des Präsidenten gar nicht entschieden worden sei sowie auch für den Fall der nur fehlenden Begründung. Der Anspruch auf die Stellung von Beweisanträgen sei über die Vorgaben der Verfassung hinaus auch in Art. 107 und Art. 345 StPO niedergelegt, jener auf die Begründung eines Entscheids in Art. 81 StPO (Beschwerde Ziff. 2).  
 
1.2.  
 
1.2.1. Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 3 Abs. 2 lit. c und Art. 107 StPO) räumt dem Betroffenen das persönlichkeitsbezogene Mitwirkungsrecht ein, erhebliche Beweise beizubringen, mit solchen Beweisanträgen gehört zu werden und an der Erhebung wesentlicher Beweise mitzuwirken. Dem Mitwirkungsrecht entspricht die Pflicht der Behörden, die Argumente und Verfahrensanträge der Parteien entgegenzunehmen und zu prüfen sowie die ihr rechtzeitig und formrichtig angebotenen Beweismittel abzunehmen (vgl. BGE 146 IV 218 E. 3.1.1; 142 II 218 E. 2.3; je mit Hinweisen). Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs und des Untersuchungsgrundsatzes im Sinne von Art. 6 StPO liegt nicht vor, wenn eine Behörde auf die Abnahme beantragter Beweismittel verzichtet, weil sie auf Grund der bereits abgenommenen Beweise ihre Überzeugung gebildet hat und ohne Willkür in vorweggenommener (antizipierter) Beweiswürdigung annehmen kann, dass ihre Überzeugung durch weitere Beweiserhebungen nicht geändert würde (BGE 147 IV 534 E. 2.5.1; 143 III 297 E. 9.3.2; 141 I 60 E. 3.3; je mit Hinweisen).  
Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist formeller Natur. Seine Verletzung führt ungeachtet der Erfolgsaussichten der Beschwerde in der Sache selbst zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids (BGE 144 I 11 E. 5.3 mit Hinweis). Vorbehalten bleiben Fälle, in denen die Gehörsverletzung nicht besonders schwer wiegt und dadurch geheilt wird, dass die Partei, deren rechtliches Gehör verletzt wurde, sich vor einer Instanz äussern konnte, welche sowohl die Tat- als auch die Rechtsfragen uneingeschränkt überprüfte (BGE 142 II 218 E. 2.8.1; 137 I 195 E. 2.3.2; 135 I 279 E. 2.6.1; je mit Hinweisen). Unter dieser Voraussetzung ist selbst bei einer schwerwiegenden Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör von einer Heilung des Mangels auszugehen, wenn die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zu einem formalistischen Leerlauf und damit zu unnötigen Verzögerungen führen würde, die mit dem Interesse der betroffenen Partei an einer beförderlichen Beurteilung der Sache nicht zu vereinbaren wären (BGE 142 II 218 E. 2.8.1; 137 I 195 E. 2.3.2; je mit Hinweisen). 
 
1.2.2. Die Rüge der Verletzung von Grundrechten (einschliesslich Willkür bei der Sachverhaltsfeststellung) muss in der Beschwerde anhand des angefochtenen Entscheids präzise vorgebracht und substanziiert begründet werden, anderenfalls darauf nicht eingetreten wird (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 146 IV 114 E. 2.1; 143 IV 500 E. 1.1; 142 III 364 E. 2.4; je mit Hinweisen).  
 
1.3. Aus dem vorinstanzlichen Entscheid geht hervor, dass die Verteidigung am 26. Oktober 2021 die Einvernahme der Mutter des Beschwerdeführers als Zeugin beantragt und die Verfahrensleitung diesen Beweisantrag am 28. Oktober 2021 abgewiesen hat (angefochtener Entscheid S. 4). Wie der Beschwerdeführer korrekt darlegt, führt die Vorinstanz aus, die Lebensumstände und persönlichen Beziehungen des Beschwerdeführers seien in den Akten ausreichend dokumentiert; ausserdem werde er an der Verhandlung eingehend auch zur Person befragt werden, weshalb der Antrag mangels Relevanz abgewiesen werde. Er könne aber an der Berufungsverhandlung erneut gestellt werden (kantonale Akten, act. B/32; Beschwerde Ziff. 2). Dem Protokoll der Berufungsverhandlung vom 20. Dezember 2021 ist zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer - wie in seiner Beschwerde dargetan - an seinem Beweisantrag festgehalten und diesen erneuert hat. Der Präsident im vorinstanzlichen Verfahren führte in der Folge aus, über den Beweisantrag werde in der Beratung in der Hauptsache entschieden. Falls eine Befragung der Mutter des Beschwerdeführers als nötig angesehen werde, müsse allenfalls nochmals eine Verhandlung durchgeführt werden (Protokoll der Berufungsverhandlung vom 20. Dezember 2021, kantonale Akten, act. B/38, S. 3).  
Wie der Beschwerdeführer zu Recht rügt, geht aus dem angefochtenen Entscheid indes nicht hervor, ob über den Beweisantrag im Rahmen der Beratung in der Hauptsache überhaupt entschieden worden ist (vgl. Beschwerde S. 3). Damit verletzt die Vorinstanz das rechtliche Gehör des Beschwerdeführers i.S.v. Art. 29 Abs. 2 BV. Die Beschwerde erweist sich in diesem Punkt als begründet. 
 
2.  
 
2.1. Aufgrund der Verletzung des rechtlichen Gehörs ist der angefochtene Entscheid aufzuheben und wird die Vorinstanz einen neuen Entscheid fällen müssen. Damit erübrigt er sich grundsätzlich, auf die vom Beschwerdeführer erhobenen rechtlichen Rügen betreffend die Landesverweisung einzugehen. Aus prozessökonomischen Gründen erscheint es jedoch unabhängig von der Gehörsverletzung angezeigt, seine Vorbringen teilweise bereits zu prüfen.  
 
2.2. Der Beschwerdeführer macht unter anderem geltend, ohne die frühere diskriminierende Bürgerrechtsgesetzgebung würde er über das Schweizer Bürgerrecht verfügen, da sowohl seine Mutter als auch bereits seine Grossmutter darüber verfügt, dies aber durch Heirat mit jeweils italienischen Staatsbürgern verloren und erst später wieder zurückerlangt hätten. Bereits aus diesem Grund sei auf eine Landesverweisung i.S.v. Art. 66a StGB zu verzichten.  
 
2.3. Art. 66a Abs. 1 lit. o StGB sieht für Ausländer, die wegen qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz im Sinne von Art. 19 Abs. 2 BetmG verurteilt wurden, unabhängig von der Höhe der Strafe, die obligatorische Landesverweisung für 5-15 Jahre aus der Schweiz vor. Gemäss Art. 66a Abs. 2 Satz 1 StGB kann das Gericht ausnahmsweise von einer Landesverweisung absehen, wenn diese für den Ausländer einen schweren persönlichen Härtefall bewirken würde und die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung gegenüber den privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen. Dabei ist der besonderen Situation von Ausländern Rechnung zu tragen, die in der Schweiz geboren oder aufgewachsen sind (Art. 66a Abs. 2 Satz 2 StGB).  
 
2.4. Die Rüge des Beschwerdeführers erweist sich als unbegründet. Es ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Anordnung der Landesverweisung nicht über das Schweizer Bürgerrecht verfügt hat. Dies wird vom Beschwerdeführer auch nicht geltend gemacht. Er stützt seine Argumentation einzig darauf, er wäre ohne die Diskriminierung der Frauen im früheren Schweizer Bürgerrecht bereits bei seiner Geburt Schweizer Bürger gewesen. Die Vorinstanz stellt ebenfalls fest, dass der Beschwerdeführer italienischer Staatsangehöriger und in der Schweiz Inhaber einer Niederlassungsbewilligung C ist.  
Gestützt auf den verbindlich festgestellten Sachverhalt (Art. 105 Abs. 1 BGG) ist der Beschwerdeführer demnach Ausländer i.S.v. Art. 66a Abs. 1 StGB (vgl. ZURBRÜGG/HRUSCHKA, in: Basler Kommentar, Strafrecht I, 4. Aufl. 2019, N. 63 vor Art. 66a-66d StGB). Die Vorinstanz sieht aufgrund der Bürgerrechte der Mutter und der Grossmutter des Beschwerdeführers zu Recht nicht von einer Landesverweisung ab und hält fest, nur ein effektiv bestehendes Schweizer Bürgerrecht schliesse die Landesverweisung aus. Die Beschwerde ist in diesem Punkt abzuweisen, soweit darauf einzugehen ist. Die übrigen Rügen des Beschwerdeführers im Zusammenhang mit der Landesverweisung sind infolge Rückweisung der Sache zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu behandeln. 
 
3.  
Die Beschwerde ist teilweise gutzuheissen. Der angefochtene Entscheid ist aufzuheben und die Sache zur Behandlung des Beweisantrags des Beschwerdeführers und zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Im Übrigen ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird der Beschwerdeführer im Umfang seines Unterliegens kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Das sinngemässe Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist insoweit infolge Aussichtslosigkeit abzuweisen (Art. 64 Abs. 1 BGG). Der finanziellen Lage des Beschwerdeführers ist bei der Bemessung der Kosten Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 BGG). Dem Kanton St. Gallen sind keine Kosten aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 4 BGG). Dieser hat aber dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren im Umfang seines Obsiegens eine angemessene Entschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG), welche praxisgemäss dessen Rechtsvertreter auszurichten ist. Das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung wird insoweit gegenstandslos. 
Da es sich um einen Entscheid handelt, der die Beurteilung in der Sache nicht präjudiziert, und in Nachachtung des Beschleunigungsgebots (Art. 29 Abs. 1 BV), kann auf die Einholung von Vernehmlassungen verzichtet werden (vgl. Urteile 6B_693/2021 vom 10. Mai 2022 E. 5 mit Hinweisen; 6B_151/2019 vom 17. April 2019 E. 5). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Kantonsgerichts St. Gallen vom 20. Dezember 2021 wird aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen, soweit es nicht gegenstandslos geworden ist. 
 
3.  
Die Gerichtskosten werden dem Beschwerdeführer im Umfang von Fr. 500.-- auferlegt. 
 
4.  
Der Kanton St. Gallen hat dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Paul Rechsteiner, für das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 2'000.-- zu bezahlen. 
 
5.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht St. Gallen, Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 24. April 2023 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari 
 
Die Gerichtsschreiberin: Erb