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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_514/2022  
 
 
Urteil vom 25. April 2023  
 
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Viscione, 
Gerichtsschreiber Grünenfelder. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, 
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
handelnd durch seine Mutter A.B.________, 
vertreten durch Inclusion Handicap, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Prozessvoraussetzung), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 21. Juli 2022 (IV 2021/238). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Der 1991 geborene A.________ bezieht aufgrund einer Trisomie 21 und einer Zöliakie eine ganze Invalidenrente sowie eine Hilflosenentschädigung bei einer Hilflosigkeit mittleren Grades. Eine Verfügung vom 2. Juni 2020, womit ihm die IV-Stelle des Kantons St. Gallen die Ausrichtung von Assistenzbeiträgen verweigert hatte, hob das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen am 9. Dezember 2020 auf und wies die Sache zwecks ergänzender Sachverhaltsabklärung an die Verwaltung zurück.  
 
A.b. Die IV-Stelle überprüfte in der Folge die Verhältnisse an Ort und Stelle und holte eine medizinische Stellungnahme vom 9. Juni 2021 ein. Ausserdem erkundigte sie sich bei der Schule B.________, wo A.________ seit Jahren in verschiedenen Tanz- und Theaterprojekten mitwirkte, über dessen Aktivitäten. Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren sprach die Verwaltung A.________ mit Verfügung vom 19. November 2022 unter Anrechnung eines Bedarfs von 13,99 Stunden pro Monat ab 1. September 2019 einen Assistenzbeitrag von maximal Fr. 464.45 monatlich (Fr. 5'573.40 pro Jahr) zu (ab 1. Januar 2021: Fr. 468.65 monatlich bzw. Fr. 5'623.80 pro Jahr).  
 
B.  
Auf die dagegen erhobene Beschwerde des A.________ hin hob das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen die Verfügung vom 19. November 2021 mit Entscheid vom 21. Juli 2022 auf und wies die Sache an die Verwaltung zurück, damit diese das Verwaltungsverfahren im Sinne der Erwägungen fortsetze und nach weiteren Abklärungen neu verfüge. 
 
C.  
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, in Aufhebung des angefochtenen Entscheids sei die Verfügung vom 19. November 2021 zu bestätigen; eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
 
Das kantonale Gericht verlangt, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten; eventualiter sei diese abzuweisen. A.________ lässt ebenfalls auf Beschwerdeabweisung schliessen; darüber hinaus sei festzustellen, dass die verwendeten Standardwerte des FAKT2 zur Festlegung des Assistenzbedarfs von Personen mit kognitiven Beeinträchtigungen nicht geeignet seien, und die Sache demzufolge zur umfassenden Neuverfügung an die IV-Stelle zurückzuweisen sei. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Das Bundesgericht prüft seine Zuständigkeit und die (weiteren) Eintretensvoraussetzungen von Amtes wegen und mit freier Kognition (Art. 29 Abs. 1 BGG; BGE 144 V 280 E. 1 mit Hinweis). 
 
2.  
Bei einem Rückweisungsentscheid handelt es sich um einen selbstständig eröffneten Vor- oder Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93 BGG, da die Rückweisung nicht einzig der Umsetzung des oberinstanzlich Angeordneten dient und das Verfahren dadurch noch nicht abgeschlossen wird (BGE 140 V 282 E. 4.2; 133 V 477 E. 4.2 mit Hinweisen). Die Zulässigkeit der Beschwerde setzt somit - alternativ - voraus, dass der Entscheid einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Abs. 1 lit. a) oder dass die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (Abs. 1 lit. b). 
 
3.  
 
3.1. Vorab stellt sich die Frage, ob - wie die Beschwerdeführerin geltend macht - die Voraussetzung des irreversiblen Nachteils gegeben ist.  
 
3.2. Rein tatsächliche Nachteile wie eine Verfahrensverlängerung oder -verteuerung bewirken in der Regel keinen nicht wieder gutzumachenden Nachteil (BGE 139 V 99 E. 2.4; 133 V 477 E. 5.2.2). Wird der Versicherungsträger durch den Rückweisungsentscheid jedoch gezwungen, eine seines Erachtens rechtswidrige Verfügung zu erlassen, so entsteht bei ihm ein irreversibler Nachteil. Dies liegt im Umstand begründet, dass er seinen eigenen Rechtsakt nicht mehr anfechten kann (BGE 133 V 477 E. 5.2.4). Soweit der Rückweisungsentscheid demnach materiellrechtliche Vorgaben beinhaltet, welche die untere Instanz im Rahmen ihres neuen Entscheids befolgen muss, ist diese befugt, beim Bundesgericht Beschwerde zu führen. Anders verhält es sich, wenn einzig zurückgewiesen wird, weil eine Frage ungenügend abgeklärt und deshalb näher zu überprüfen ist, ohne dass damit Anordnungen materiellrechtlicher Natur verbunden sind. In diesem Fall hat die Behörde, an welche zurückgewiesen wird, keinen nicht wieder gutzumachenden Nachteil (statt vieler: BGE 140 V 282 E. 4.2 mit Hinweisen).  
 
4.  
 
4.1. Das kantonale Gericht hat die Sache in Dispositiv-Ziffer 1 des angefochtenen Entscheids zur Fortsetzung des Verwaltungsverfahrens respektive zur weiteren Sachverhaltsabklärung über den Anspruch auf Assistenzbeiträge im Sinne der Erwägungen an die Beschwerdeführerin zurückgewiesen. Da somit das Dispositiv des Rückweisungsurteils ausdrücklich auf die Erwägungen verweist, werden diese zu dessen Bestandteil und haben, soweit sie - wie hier - zum Streitgegenstand gehören, an der formellen Rechtskraft teil (statt vieler: Urteile 8C_743/2018 vom 27. Mai 2019 E.1.2; 8C_728/2018 vom 12. Februar 2019 E. 1.2; 8C_608/2018 vom 11. Februar 2019 E. 1.2).  
 
4.2. In den Erwägungen hat die Vorinstanz die Rückweisung im Ergebnis damit begründet, dass der berücksichtigte Assistenzbedarf von fünf Minuten pro Tag für die gesellschaftliche Teilhabe und die Freizeitgestaltung augenscheinlich nicht ausreiche. Ebenso wenig nachvollziehbar seien die in der Verfügung vom 19. November 2021 enthaltenen Angaben betreffend den Assistenzbedarf für berufliche Tätigkeiten auf dem regulären Arbeitsmarkt und hinsichtlich gemeinnütziger oder ehrenamtlicher Tätigkeiten (vgl. Art. 39c IVV; ferner Rz. 4031 f., 4037 ff. und 4055 ff. des Kreisschreibens über den Assistenzbeitrag [KSAB]; gültig ab 1. Januar 2015, Stand: 1. Januar 2021).  
Dementsprechend hat das kantonale Gericht erkannt, die Frage, wie hoch der gesamte Assistenzbedarf des Beschwerdegegners für ausserhäusliche Tätigkeiten durchschnittlich pro Tag sei, lasse sich anhand der Akten nicht mit dem erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit beantworten. Diesbezüglich erweise sich der Sachverhalt als unzureichend abgeklärt, was eine Rückweisung rechtfertige. Die Beschwerdeführerin habe demnach in Erfahrung zu bringen, wie hoch der relevante Assistenzbedarf für ausserhäusliche Aktivitäten im massgeblichen Zeitraum gewesen sei. Anschliessend werde sie den Gesamtassistenzbedarf neu zu berechnen und erneut darüber zu verfügen haben. Vor diesem Hintergrund besteht nach wie vor eine offene Ausgangslage. Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin ist insbesondere nicht zu ersehen, inwiefern es ihr aufgrund des angefochtenen Entscheids nicht mehr möglich sein soll, nach erfolgter Sachverhaltsabklärung das vom BSV entwickelte standardisierte Abklärungsinstrument FAKT2 (wiederum) anzuwenden. Jedenfalls trifft die Vorinstanz im angefochtenen Entscheid keine diesbezüglichen Anordnungen. Materiellrechtliche Vorgaben, welche die Beschwerdeführerin dazu zwingen würden, eine ihres Erachtens rechtswidrige Verfügung zu erlassen, welche sie nicht mehr anfechten könnte (vgl. E. 3.2 hievor), enthält das Rückweisungsurteil folglich keine. Mit anderen Worten fehlt es an einem nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG
 
4.3. Ein Eintreten auf die Beschwerde gestützt auf Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG fällt ausser Betracht. Zwar wäre ein sofortiger Endentscheid möglich, indessen bliebe damit klarerweise kein weitläufiges Beweisverfahren im Sinne dieser Bestimmung erspart. Abgesehen davon stellt die selbstständige Anfechtbarkeit eines Zwischenentscheids aus prozessökonomischen Gründen auch diesbezüglich eine Ausnahme dar, welche restriktiv zu handhaben ist (vgl. statt vieler: BGE 139 V 99 E. 2.4; SVR 2011 IV Nr. 57, 8C_958/2010 E. 3.3.2.2.; Urteil 8C_876/2010 vom 19. November 2010 E. 4).  
 
5.  
Insgesamt erweist sich die Beschwerde als unzulässig, weshalb darauf nicht einzutreten ist. Wie es sich mit dem vom Beschwerdegegner gestellten Feststellungsbegehren verhält, kann bei diesem Verfahrensausgang offen bleiben. 
 
6.  
Die Gerichtskosten sind der unterliegenden Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 erster Satz BGG), welche dem Beschwerdegegner überdies eine Parteientschädigung auszurichten hat (Art. 68 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.  
Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, Abteilung II, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 25. April 2023 
 
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Der Gerichtsschreiber: Grünenfelder