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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_388/2022  
 
 
Urteil vom 27. April 2023  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin, 
Bundesrichterin van de Graaf, 
Bundesrichterin Koch, 
Gerichtsschreiber Caprara. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Matthias Wäckerle, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Justizvollzug und Wiedereingliederung, Rechtsdienst der Amtsleitung, 
Hohlstrasse 552, 8048 Zürich, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Vorladung in den Strafvollzug, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich, 3. Abteilung, vom 10. Februar 2022 (VB.2021.00679). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Die Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat bestrafte A.________ mit Strafbefehl vom 18. März 2020 wegen Missachtung der Ein- oder Ausgrenzung gemäss Art. 119 Abs. 1 i.V.m Art. 74 Abs. 1 und 2 AIG mit einer unbedingten Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je Fr. 10.--, unter Anrechnung eines bereits durch Haft erstandenen Tagessatzes. Der Strafbefehl erwuchs unangefochten in Rechtskraft.  
 
A.b. Da A.________ die Geldstrafe in der Folge nicht bezahlte, lud ihn das kantonale Amt für Justizvollzug und Wiedereingliederung des Kantons Zürich (JuWe) mit Verfügung vom 22. März 2021 auf den 7. Juni 2021 zum Antritt der Ersatzfreiheitsstrafe von 59 Tagen im Vollzugszentrum Bachtel vor. Den dagegen erhobenen Rekurs wies die Direktion der Justiz und des Inneren des Kantons Zürich (Justizdirektion) mit Verfügung vom 24. August 2021 ab. A.________ wurde neu auf den 4. Oktober 2021 in den Strafvollzug vorgeladen.  
 
A.c. Das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich hiess eine dagegen erhobene Beschwerde mit Urteil vom 10. Februar 2022 teilweise gut, hob Dispositiv-Ziffer III der Verfügung der Justizdirektion vom 24. August 2021 auf, gewährte A.________ für das Rekursverfahren die unentgeltliche Prozessführung und die unentgeltliche Rechtsverbeiständung und bestellte ihm Rechtsanwalt Matthias Wäckerle als unentgeltlichen Rechtsbeistand. Im Übrigen wies das Verwaltungsgericht die Beschwerde ab. Das Verwaltungsgericht lud A.________ neu auf den 11. April 2022 in den Strafvollzug vor.  
 
B.  
A.________ führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich vom 10. Februar 2022 sei aufzuheben, soweit die Verwaltungsgerichtsbeschwerde abgewiesen worden sei. Die Vorladung in den Strafvollzug sei abzunehmen. Eventualiter sei das Urteil der Vorinstanz aufzuheben und die Sache zur neuen Beurteilung unter Beizug der migrationsrechtlichen Verfahrensakten zurückzuweisen. Es sei der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu gewähren und die Vorladung in den Strafvollzug für die Dauer des Beschwerdeverfahrens abzunehmen. Er ersucht um unentgeltliche Recht spflege. Alles unter Kosten- und Entschädigungsfolgen (zzgl. MWST) zulasten der Staatskasse bzw. des JuWe. 
 
C.  
Mit Verfügung vom 28. März 2022 hat die Präsidentin der Strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuerkannt. 
 
D.  
Das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich verzichtet auf eine Vernehmlassung. Das JuWe verweist auf das angefochtene Urteil und verzichtet auf weitere Ausführungen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Anfechtungsobjekt bildet das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich vom 10. Februar 2022 (Art. 80 Abs. 1 und Art. 90 BGG). In der Sache geht es um eine Vorladung in den Strafvollzug und damit materiell um Strafvollstreckung. Es handelt sich um eine Strafsache, gegen welche die Beschwerde in Strafsachen nach Art. 78 Abs. 2 lit. b BGG zulässig ist. 
 
2.  
 
2.1. Der Beschwerdeführer rügt in prozessualer Hinsicht eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes gemäss § 7 und § 60 des Verwaltungsrechtspflegegesetzes des Kantons Zürich vom 24. Mai 1959 (VRG ZH; LS 175.2) und eine Gehörsverletzung (Art. 29 Abs. 2 BV). Die Vorinstanz ziehe die Akten des kantonalen Migrationsamtes, aus denen sich ergebe, dass im laufenden Rückführungsverfahren die gegen den Beschwerdeführer ergriffenen Zwangsmassnahmen und Vollzugsbemühungen nicht ausgeschöpft worden seien, zu Unrecht nicht bei (Beschwerde S. 7). Das angefochtene Urteil widerspreche zudem der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zur EU-Rückführungsrichtlinie (Beschwerde S. 4 ff.).  
 
2.2. Zum Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) gehört, dass die Behörde alle erheblichen und rechtzeitigen Vorbringen der Parteien würdigt und die ihr angebotenen Beweise abnimmt, wenn diese zur Abklärung des Sachverhalts tauglich erscheinen. Umgekehrt folgt daraus, dass keine Verletzung des rechtlichen Gehörs vorliegt, wenn eine Behörde auf die Abnahme beantragter Beweismittel verzichtet, weil sie aufgrund der bereits abgenommenen Beweise ihre Überzeugung gebildet hat und ohne Willkür in vorweggenommener (antizipierter) Beweiswürdigung annehmen kann, dass ihre Überzeugung durch weitere Beweiserhebungen nicht geändert würde (BGE 141 I 60 E. 3.3 S. 64; 136 I 229 E. 5.2 und E. 5.3 S. 236 f.).  
Der Untersuchungsgrundsatz nach § 7 Abs. 1 VRG/ZH verpflichtet die Verwaltungsbehörde dazu, den Sachverhalt von Amtes wegen zu untersuchen und damit für die richtige und vollständige Abklärung des rechtserheblichen Sachverhalts zu sorgen (KASPAR PLÜSS, in: Kommentar zum Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich [VRG], 3. Aufl. 2014, § 7 Rz. 10). Nach § 60 VRG/ZH werden die zur Abklärung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise im verwaltungsrechtlichen Beschwerdeverfahren von Amtes wegen erhoben. 
 
2.3. Die Schweiz ist über das Schengen-Übereinkommen (SR 0.362.31) verpflichtet, die EU-Rückführungsrichtlinie vom 16. Dezember 2008 (RL 2008/115/EU [vormals: EG]) anzuwenden (BGE 145 IV 197 E. 1.4.3 S. 204; 143 IV 249 E. 1.2 S. 251 f. mit Hinweis). Diese Richtlinie bezweckt eine minimale Harmonisierung der Verfahren zur Wegweisung und Rückführung von sich illegal aufhaltenden Drittstaatsangehörigen und räumt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts und des EuGH dem verwaltungsrechtlichen Rückführungsverfahren den Vorrang vor strafrechtlichen Sanktionen ein. Sie steht der Bestrafung wegen illegalen Aufenthalts nicht entgegen, jedoch darf die Sanktion die effektive Rückführung nicht gefährden (BGE 147 IV 232 E. 1.2 S. 236; 143 IV 249 E. 1.4.3 S. 254 f., E. 1.5 S. 256 und E. 1.9 S. 260 f.; Urteile 6B_908/2021 vom 29. November 2022 E. 5.2; 6B_701/2019 vom 17. Dezember 2020 E. 1.4.1; je mit Hinweisen).  
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts ist die Verhängung einer Geldstrafe mit der EU-Rückführungsrichtlinie vereinbar, vorausgesetzt sie erschwert das Verfahren der Entfernung nicht. Eine solche Sanktion kann unabhängig von den für die Umsetzung der Wegweisung erforderlichen Massnahmen ausgesprochen werden (BGE 145 IV 197 E. 1.4.3 S. 205; 143 IV 249 E. 1.9 S. 261; Urteile 6B_908/2021 vom 29. November 2022 E. 5.3; 6B_1464/2020 vom 3. November 2021 E. 1.2.1; 6B_438/2020 vom 9. Februar 2021 E. 1.4; je mit Hinweisen). Hingegen ist auf die Verhängung und den Vollzug einer Freiheitsstrafe zu verzichten, wenn gegen den Betroffenen mit illegalem Aufenthalt ein Wegweisungsentscheid erging und die erforderlichen Entfernungsmassnahmen, zu denen auch Zwangsmassnahmen im Sinne von Art. 8 der EU-Rückführungsrichtlinie gehören, noch nicht ergriffen wurden (BGE 145 IV 197 E. 1.4.3 S. 204 f.; 143 IV 249 E. 1.9 S. 260; Urteile 6B_908/2021 vom 29. November 2022 E. 5.3; 6B_1464/2020 vom 3. November 2021 E. 1.2.1; je mit Hinweisen). 
Das Bundesgericht hielt im Urteil 6B_1464/2020 vom 3. November 2021 fest, dass sich aus dem Urteil C-430/11 des EuGH in Sachen Sagor vom 6. Dezember 2012 nicht ableiten lasse, eine Geldstrafe, die in eine Ersatzfreiheitsstrafe umgewandelt werden könne, sei unzulässig (a.a.O. E. 1.2.2). Für eine Vereinbarkeit von Geldstrafen im Sinne von Art. 35 f. StGB mit der EU-Rückführungsrichtlinie spreche, dass die Umwandlung der Geldstrafe in eine Ersatzfreiheitsstrafe nicht zwingend sei, da im Falle einer Nichtbezahlung auch die Möglichkeit bestehe, die Geldstrafe auf dem Betreibungsweg erhältlich zu machen (vgl. Art. 35 Abs. 3 und Art. 36 Abs. 1 StGB). Zwar erfolge die Umwandlung der von einem Gericht ausgesprochenen uneinbringlichen Geldstrafe gemäss Art. 36 Abs. 1 StGB von Gesetzes wegen, d.h. ein gerichtlicher Entscheid sei unter geltendem Recht nicht mehr notwendig (ANNETTE DOLGE, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 4. Aufl. 2019, N. 8 zu Art. 36 StGB). Erforderlich sei jedoch ein entsprechender Strafvollzugsbefehl (vgl. Art. 439 Abs. 2 StPO). Gegen eine allfällige Umwandlung der Geldstrafe in eine Ersatzfreiheitsstrafe könne sich der Beschwerdeführer daher gegebenenfalls mit Beschwerde gegen den entsprechenden Vollzugsbefehl zur Wehr setzen (Urteil 6B_1464/2020 vom 3. November 2021 E. 1.2.3).  
 
2.4. Vorliegend wurde der Beschwerdeführer zu einer unbedingten Geldstrafe verurteilt (Sachverhalt A.a). Da er diese in der Folge nicht bezahlte, wurde sie in eine Ersatzfreiheitsstrafe umgewandelt (Sachverhalt A.b). Im vorliegenden Beschwerdeverfahren wehrt sich der Beschwerdeführer gegen den Vollzugsbefehl und beanstandet die Konformität der Ersatzfreiheitsstrafe mit der EU-Rückführungsrichtlinie (Beschwerde S. 4 ff.). Das Recht, diese Frage gerichtlich überprüfen zu lassen, steht ihm gestützt auf die erwähnte bundesgerichtliche Rechtsprechung (vgl. oben E. 2.3) zu.  
 
2.5. Entgegen der Vorinstanz (angefochtenes Urteil S. 12) führt eine Überprüfung der Konformität der Ersatzfreiheitsstrafe mit der EU-Rückführungsrichtlinie im Rahmen der Anfechtung des Vollzugsbefehls nicht dazu, dass das Strafgericht im Strafentscheid (bzw. die Staatsanwaltschaft im Strafbefehl) von einer Beschränkung auf eine angemessene, für die betroffene Person tragbare Geldstrafe entbunden wäre. Die Kriterien zur Festlegung einer Geldstrafe sind vielmehr gesetzlich vorgeschrieben: Die Anzahl der Tagessätze richtet sich nach dem Verschulden des Täters (Art. 34 Abs. 1 Satz 1 StGB), während die Höhe der einzelnen Tagessätze gestützt auf die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Verurteilten im Zeitpunkt des Urteils bestimmt wird (Art. 34 Abs. 2 Satz 3 StGB). Dass sich eine "beliebig hohe Geldstrafe" aussprechen liesse (angefochtenes Urteil S. 12), trifft damit nicht zu.  
 
2.6. Der Beschwerdeführer beantragte im vorinstanzlichen Verfahren den Beizug der Akten des kantonalen Migrationsamtes (vgl. Beschwerde S. 7; angefochtenes Urteil S. 3). Diese Akten wurden von der Vorinstanz nicht beigezogen. Die Vorinstanz äusserte sich im angefochtenen Urteil nicht zum entsprechenden Beweisantrag und verzichtete damit stillschweigend auf den beantragten Aktenbeizug. Mangels Kenntnis des aktuellen Standes des Rückweisungsverfahrens ist es dem Bundesgericht im vorliegenden Beschwerdeverfahren nicht möglich, sich zur Frage zu äussern, ob gegen den Beschwerdeführer ein Wegweisungsentscheid ergangen ist (vgl. Beschwerde S. 3), ob die erforderlichen Entfernungsmassnahmen (bereits) ergriffen wurden und ob die erfolgte Umwandlung der ausgesprochenen rechtskräftigen Geldstrafe in eine Ersatzfreiheitsstrafe von 59 Tagen das Rückweisungsverfahren des Beschwerdeführers erschweren würde. Die Vorinstanz hätte die Akten des kantonalen Migrationsamtes beiziehen und die Frage der Kompatibilität des Vollzugsbefehls mit der EU-Rückführungsrichtlinie beantworten müssen (vgl. oben E. 2.3, 2.4). Indem sie das nicht tat, verletzt sie Bundesrecht.  
 
3.  
Die Beschwerde ist gutzuheissen. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Sache zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Dem Kanton Zürich sind keine Gerichtskosten aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton Zürich hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Die Entschädigung ist praxisgemäss seinem Rechtsvertreter auszurichten und wird entsprechend der von diesem eingereichten Honorarnote auf Fr. 2'206.06 (inkl. Spesen und MWST) festgesetzt (Art. 107 Abs. 1 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gegenstandslos. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich vom 10. Februar 2022 wird aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird als gegenstandslos geworden abgeschrieben. 
 
3.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
4.  
Der Kanton Zürich hat dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Matthias Wäckerle, eine Entschädigung von Fr. 2'206.06 zu bezahlen. 
 
5.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Verwaltungsgericht des Kantons Zürich, 3. Abteilung, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 27. April 2023 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari 
 
Der Gerichtsschreiber: Caprara