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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_373/2022  
 
 
Urteil vom 19. Dezember 2022  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Stadelmann, 
Bundesrichterin Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiber Nabold. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Mirjam Stanek Brändle, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Sozialversicherungsanstalt des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, 
Beschwerdegegnerin, 
 
1. B.________, 
2. C.________, 
beide vertreten durch Rechtsanwalt Manuel Bader. 
 
Gegenstand 
Alters- und Hinterlassenenversicherung, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts Appenzell Ausserrhoden vom 5. Juli 2022 (O2V 19 11 - O2V 20 11 - O2V 20 13). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Mit Entscheid vom 4. Juli 2016 verfügte der Einzelrichter des Kantonsgerichts Appenzell Ausserrhoden die Auflösung der D.________ GmbH (vormals E.________ gmbh) wegen Mängeln in deren Organisation und die Liquidation der Gesellschaft nach den Vorschriften über den Konkurs. Das Konkursverfahren wurde mit Entscheid des Einzelrichters des Kantonsgerichts Appenzell Ausserrhoden vom 6. September 2016 mangels Aktiven eingestellt und die Gesellschaft am 20. Dezember 2016 aus dem Handelsregister gelöscht. 
Mit Verfügung vom 3. September 2018 verpflichtete die Ausgleichskasse des Kantons Zürich A.________, B.________ und C.________ als ehemalige Organe der D.________ GmbH zur Zahlung von Fr. 337'742.45 als Schadenersatz für Sozialversicherungsbeiträge, die in Folge der Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft nicht mehr erhoben werden konnten. Die von B.________ und C.________ hiegegen erhobenen Einsprachen wies die Ausgleichskasse mit Entscheiden vom 10. Januar 2020 ab, während sie die Einsprache des A.________ am 6. Februar 2019 in dem Sinne teilweise guthiess, als sie den Schadenersatzbetrag ihm gegenüber auf Fr. 336'236.85 herabsetzte. 
 
B.  
Die von A.________, B.________ und C.________ gegen diese Einspracheentscheide erhobenen Beschwerden wies das Obergericht Appenzell Ausserrhoden mit Urteil vom 5. Juli 2022 ab. Betreffend A.________ setzte das kantonale Gericht den Schadenersatzbetrag nach Androhung einer reformatio in peius wiederum auf Fr. 337'742.45 fest. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________, es sei unter Aufhebung des kantonalen Urteils festzustellen, dass er kein Schadenersatz zu leisten habe, eventuell sei die Sache zur Neubeurteilung an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen. 
Gegen das Urteil des Obergerichts Appenzell Ausserrhoden vom 5. Juli 2022 haben auch B.________ und C.________ Beschwerde erhoben (Verfahren 9C_437/2022). Auch ihnen gegenüber ergeht das Urteil am heutigen Tag. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Die Voraussetzungen der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten sind gegeben (Art. 82 lit. a, Art. 83 e contrario, Art. 86 Abs. 1 lit. d und Abs. 2, Art. 89 Abs. 1, Art. 90 und Art. 100 Abs. 1 BGG), insbesondere übersteigt der Streitwert die massgebliche Grenze von Fr. 30'000.- (Art. 85 Abs. 1 lit. a BGG; vgl. BGE 137 V 51 E. 4.3). Auf die Beschwerde ist somit einzutreten.  
 
1.2. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).  
 
2.  
Streitig ist der von der Ausgleichskasse im Zusammenhang mit dem Konkurs der D.________ GmbH (vormals E.________ gmbh) geltend gemachte Schadenersatzanspruch gegen den Beschwerdeführer, einem ehemaligen formellen Organ dieses Unternehmens. 
 
3.  
Fügt ein Arbeitgeber durch absichtliche oder grobfahrlässige Missachtung von Vorschriften der Versicherung einen Schaden zu, so hat er diesen nach Art. 52 Abs. 1 AHVG zu ersetzen. Handelt es sich beim Arbeitgeber um eine juristische Person, so haften gemäss Art. 52 Abs. 2 AHVG subsidiär die Mitglieder der Verwaltung und alle mit der Geschäftsführung oder Liquidation befassten Personen. Sind mehrere Personen für den gleichen Schaden verantwortlich, so haften sie für den ganzen Schaden solidarisch. 
 
4.  
 
4.1. Es stellt sich vorab die Frage, ob die Ausgleichskasse die Schadenersatzforderung rechtzeitig innert der Verjährungsfrist von zwei Jahren nach Kenntnis des Schadens (Art. 52 Abs. 3 Satz 1 AHVG in der hier anwendbaren, bis 31. Dezember 2019 in Kraft gewesenen Fassung) geltend gemacht hat.  
 
4.2. Die Schadenskenntnis, welche die relative Zweijahresfrist auslöst, ist in der Regel von dem Zeitpunkt an gegeben, in welchem die Ausgleichskasse bei der ihr zumutbaren Aufmerksamkeit erkennen muss, dass die tatsächlichen Gegebenheiten es nicht mehr erlauben, die Beiträge einzufordern, wohl aber eine Schadenersatzpflicht begründen können (BGE 134 V 353 E. 1.2; 131 V 425 E. 3.1; 128 V 15 E. 2a).  
 
4.2.1. Voraussetzung für die ausreichende Schadenskenntnis ist, dass die Ausgleichskasse alle tatsächlichen Umstände über die Existenz, die Beschaffenheit und die wesentlichen Merkmale des Schadens kennt bzw. kennen muss (Urteil 9C_166/2017 vom 8. August 2017 E. 4.2 [mit Hinweis auf BGE 116 V 72 E. 3b], in: SVR 2017 AHV Nr. 21 S. 71). In diesem Sinne zumutbare Kenntnis eines Teilschadens genügt (Urteil 9C_325/2010 vom 10. Dezember 2010 E. 2.1.1, in: SVR 2011 AHV Nr. 13 S. 42). Da die ausstehende Beitragsforderung Grundlage für die Höhe des Schadens bildet, kann die Schadenskenntnis erst angenommen werden, sobald die Ausgleichskasse in der Lage ist, die voraussichtliche Höhe des infolge der unbezahlt gebliebenen Beiträge zu erwartenden Verlusts abzuschätzen (Urteile 9C_166/2017 vom 8. August 2017 E. 4.2 mit Hinweisen, in: SVR 2017 AHV Nr. 21 S. 71; 9C_325/2010 vom 10. Dezember 2010 E. 2.1.1, in: SVR 2011 AHV Nr. 13 S. 42).  
 
4.2.2. Für die einzelnen Konstellationen, in denen der Ausgleichskasse ein Schaden entsteht, haben sich in der Praxis Regelzeitpunkte entwickelt, in welchen die Schadenskenntnis üblicherweise angenommen wird. Es sind dies namentlich die Zustellung des definitiven Pfändungsverlustscheins, die Auflage des Kollokationsplans sowie die Einstellung des Konkursverfahrens mangels Aktiven (Urteile 9C_260/2021 vom 6. Dezember 2021 E. 4.1; 9C_166/2017 vom 8. August 2017 E. 4.2.1, in: SVR 2017 AHV Nr. 21 S. 71; 9C_599/2017 vom 26. Juni 2018 E. 4.5.2; BGE 126 V 443 E. 3).  
 
4.2.2.1. Die fristauslösende Schadenskenntnis kann ausnahmsweise schon vor dem jeweiligen Regelzeitpunkt gegeben sein. Rechtsprechungsgemäss wird diesbezüglich ein strenger Massstab angelegt und nicht nur eine Vermutung, sondern die gesicherte Kenntnis des entstandenen Schadens verlangt (Urteile 9C_166/2017 vom 8. August 2017 E. 4.2.1, in: SVR 2017 AHV Nr. 21 S. 71; 9C_599/2017 vom 26. Juni 2018 E. 4.5.2; BGE 118 V 193 E. 3b; 116 V 72 E. 3c). Eine Vorverlegung auf die Zeit vor Auflegung des Kollokationsplanes rechtfertigt sich etwa, wenn eine Ausgleichskasse anlässlich der Gläubigerversammlung vernimmt, dass ihre Forderung auf jeden Fall ungedeckt bleiben wird (BGE 118 V 193 E. 3b).  
 
4.2.2.2. Unter besonderen Umständen ist ebenso möglich, dass die Ausgleichskasse erst nach dem Regelzeitpunkt Kenntnis vom Schaden erlangt. Dies ist beispielsweise zu bejahen, wenn der Kollokationsplan und das Inventar eine vollständige Deckung der Beitragsforderung erwarten lassen (ZAK 1992 S. 252 E. 5c; Urteile [des Eidg. Versicherungsgerichts] H 242/00 vom 10. August 2001 E. 3a; H 143/90 vom 14. November 1991 E. 4c) oder wenn die Aktiven bei der Auflage des Kollokationsplanes völlig unklar sind und auch die Konkursverwaltung keine Angaben über eine mögliche Dividende machen kann (BGE 118 V 193 E. 3b mit Hinweis auf ZAK 1992 S. 266 E. 5c). Auf eine spätere Schadenskenntnis wurde auch geschlossen, als es einer Ausgleichskasse vor der Publikation der Einstellung des Konkursverfahrens mangels Aktiven ausnahmsweise nicht möglich war, die geschuldeten Beiträge und den Schaden zu ermitteln (Urteil [des Eidg. Versicherungsgerichts] H 224/98 vom 7. Januar 2000 E. 3c).  
 
4.3. Das kantonale Gericht erwog, das Konkursverfahren der D.________ GmbH (vormals E.________ gmbh) sei am 6. September 2016 mangels Aktiven eingestellt worden, weshalb dieser Tag als Regelzeitpunkt der Kenntnis des Schadens im Sinne der dargelegten Rechtsprechung zu gelten habe. Sie verkennt damit, dass der Regelzeitpunkt nicht auf den Tag der Einstellung des Konkursverfahrens, sondern auf den Tag der Publikation der Einstellung des Konkursverfahrens mangels Aktiven im Schweizerischen Handelsamtsblatt festzulegen ist (vgl. Urteil 9C_260/2021 vom 6. Dezember 2021 E. 4.2). Da aber bereits bei einem Abstellen auf den 6. September 2016 die Verfügung vom 3. September 2018 noch innert der zweijährigen Frist erfolgte, kann auf Weiterungen zur Frage des Publikationsdatums der Konkurseinstellung verzichtet werden. Nicht gefolgt werden kann dem Beschwerdeführer, soweit er den Zeitpunkt der Schadenkenntnis auf die Publikation der Konkurseröffnung vorverlegt haben möchte. In diesem Zeitpunkt war für die Ausgleichskasse noch nicht absehbar, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang ihre Forderungen gegenüber der konkursiten Gesellschaft im Konkursverfahren noch gedeckt sein würden. Dies gilt vorliegend umso mehr, als der Konkurs nicht wegen Zahlungsschwierigkeiten eröffnet wurde, sondern die Liquidation nach den Vorschriften über den Konkurs aufgrund von Organisationsmängeln angeordnet wurde.  
 
4.4. Demnach verstösst die vorinstanzliche Erwägung, wonach die Schadenersatzverfügung rechtzeitig erging und die Forderung nicht verjährt ist, nicht gegen Bundesrecht.  
 
5.  
Das kantonale Gericht bejahte die Voraussetzungen für eine Haftung des Beschwerdeführers nach Art. 52 AHVG. Der Beschwerdeführer bringt dagegen im Wesentlichen vor, es treffe zwar zu, dass er bei einer rein formellen Sicht als Organ der konkursiten Gesellschaft geamtet habe, in der Realität sei er jedoch zu keinem Zeitpunkt mit geschäftsführenden Aufgaben betraut gewesen. Wie es sich damit verhält, kann vorliegend jedoch offenbleiben, erweist sich doch der Einwand als im Vornherein unbehelflich: Wer - etwa weil er als Strohmann eingesetzt wurde - als formelles Organ seinen gesetzlichen Verpflichtungen nicht nachkommt, begeht praxisgemäss eben durch das Nicht-Wahrnehmen seiner Überwachungspflichten eine grobe Fahrlässigkeit (Urteil 9C_722/2015 vom 31. Mai 2016 E. 3.3 mit weiteren Hinweisen). Diese Pflichten bestehen unabhängig von der Frage, wie die Vertretung der Gesellschaft gegen aussen (und das Führen der rechtsverbindlichen Unterschrift für diese) geregelt ist. Die diesbezüglichen Vorbringen des Beschwerdeführers sind somit zu seiner Entlastung nicht geeignet, weshalb die Vorinstanz von Weiterungen zur Frage, welche Tätigkeiten er für die Gesellschaft tatsächlich ausführte, absehen durfte. Entsprechend ist seine Beschwerde abzuweisen. 
 
6.  
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten dem unterliegenden Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 8000.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, B.________, C.________, dem Obergericht Appenzell Ausserrhoden und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 19. Dezember 2022 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Der Gerichtsschreiber: Nabold