Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
9C_425/2022
Urteil vom 26. Juni 2023
III. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Parrino, Präsident,
Bundesrichter Stadelmann,
Bundesrichterin Scherrer Reber,
Gerichtsschreiberin Stanger.
Verfahrensbeteiligte
1. A.________,
2. B.________,
beide vertreten durch Rechtsanwältin Eva Maria Spoerri,
Beschwerdeführer,
gegen
Ausgleichskasse des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Alters- und Hinterlassenenversicherung,
Beschwerde gegen das Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 22. Juni 2022 (AK.2021.00011 damit vereinigt AK.2021.00013).
Sachverhalt:
A.
A.a. Mit Urteil vom 9. Mai 2017 eröffnete der Konkursrichter des Bezirksgerichts U.________ über die C.________ AG mit Sitz in U.________ den Konkurs. Das Konkursverfahren wurde mit Urteil des Konkursrichters vom (...) mangels Aktiven eingestellt. Die Konkurseinstellung wurde am (...) im Schweizerischen Handelsamtsblatt (SHAB) veröffentlicht.
A.b. Mit Verfügungen vom 16. August 2019 und Einspracheentscheiden vom 30. Juni 2021 verpflichtete die Ausgleichskasse des Kantons Zürich A.________ - als Präsident der C.________ AG - und B.________ - als deren Verwaltungsratsmitglied - unter solidarischer Haftung zur Zahlung von Schadenersatz in der Höhe von Fr. 79'629.50 für Sozialversicherungsbeiträge, die in Folge der Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft nicht mehr erhoben werden konnten.
B.
Die von A.________ und B.________ hiegegen erhobenen Beschwerden hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 22. Juni 2022 in dem Sinne teilweise gut, als es den Schadenersatzbetrag auf Fr. 79'179.50 herabsetzte.
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragen A.________ und B.________, das Urteil vom 22. Juni 2022 sei aufzuheben und es sei festzustellen, dass sie keinen Schadenersatz zu leisten hätten; eventualiter sei die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Erwägungen:
1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG ).
2.
Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, als sie eine Pflicht der Beschwerdeführer zur Leistung von Schadenersatz in der Höhe von Fr. 79'179.50 bejahte. Unbestritten ist, dass die beiden Beschwerdeführer - A.________ als Verwaltungsratspräsident und B.________ als Verwaltungsratsmitglied - in der C.________ AG formelle Organstellung (vgl. dazu Urteil 9C_27/2017 vom 8. August 2017 E. 4.1 f.) hatten.
3.
Fügt ein Arbeitgeber durch absichtliche oder grobfahrlässige Missachtung von Vorschriften der Versicherung einen Schaden zu, so hat er diesen nach Art. 52 Abs. 1 AHVG zu ersetzen. Handelt es sich beim Arbeitgeber um eine juristische Person, so haften gemäss Art. 52 Abs. 2 AHVG subsidiär die Mitglieder der Verwaltung und alle mit der Geschäftsführung oder Liquidation befassten Personen. Sind mehrere Personen für den gleichen Schaden verantwortlich, so haften sie für den ganzen Schaden solidarisch.
4.
Es stellt sich zunächst die Frage, ob die Ausgleichskasse die Schadenersatzforderung rechtzeitig innert der Verjährungsfrist von zwei Jahren nach Kenntnis des Schadens geltend gemacht hat (vgl. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 AHVG in der hier anwendbaren, bis 31. Dezember 2019 in Kraft gewesenen Fassung).
4.1. Die Schadenskenntnis, welche die relative Zweijahresfrist auslöst, ist in der Regel von dem Zeitpunkt an gegeben, in welchem die Ausgleichskasse bei der ihr zumutbaren Aufmerksamkeit erkennen muss, dass die tatsächlichen Gegebenheiten es nicht mehr erlauben, die Beiträge einzufordern, wohl aber eine Schadenersatzpflicht begründen können (BGE 134 V 353 E. 1.2; 131 V 425 E. 3.1; 128 V 15 E. 2a).
4.1.1. Voraussetzung für die ausreichende Schadenskenntnis ist, dass die Ausgleichskasse alle tatsächlichen Umstände über die Existenz, die Beschaffenheit und die wesentlichen Merkmale des Schadens kennt bzw. kennen muss (Urteil 9C_166/2017 vom 8. August 2017 E. 4.2 [mit Hinweis auf BGE 116 V 72 E. 3b], in: SVR 2017 AHV Nr. 21 S. 71). In diesem Sinne zumutbare Kenntnis eines Teilschadens genügt (Urteil 9C_325/2010 vom 10. Dezember 2010 E. 2.1.1, in: SVR 2011 AHV Nr. 13 S. 42). Da die ausstehende Beitragsforderung Grundlage für die Höhe des Schadens bildet, kann die Schadenskenntnis erst angenommen werden, sobald die Ausgleichskasse in der Lage ist, die voraussichtliche Höhe des infolge der unbezahlt gebliebenen Beiträge zu erwartenden Verlusts abzuschätzen (Urteile 9C_166/2017 vom 8. August 2017 E. 4.2 mit Hinweisen, in: SVR 2017 AHV Nr. 21 S. 71; 9C_325/2010 vom 10. Dezember 2010 E. 2.1.1, in: SVR 2011 AHV Nr. 13 S. 42).
4.1.2. Für die einzelnen Konstellationen, in denen der Ausgleichskasse ein Schaden entsteht, haben sich in der Praxis Regelzeitpunkte entwickelt, in welchen die Schadenskenntnis üblicherweise angenommen wird. Es sind dies namentlich die Zustellung des definitiven Pfändungsverlustscheins, die Auflage des Kollokationsplans sowie die Einstellung des Konkursverfahrens mangels Aktiven, wobei der Publikationszeitpunkt der Konkurseinstellung im SHAB massgeblich ist (BGE 126 V 443 E. 3; Urteile 9C_260/2021 vom 6. Dezember 2021 E. 4.1; 9C_166/2017 vom 8. August 2017 E. 4.2.1, in: SVR 2017 AHV Nr. 21 S. 71; 9C_599/2017 vom 26. Juni 2018 E. 4.5.2).
4.1.3. Die fristauslösende Schadenskenntnis kann unter Umständen schon vor dem jeweiligen Regelzeitpunkt vorliegen. Indes fällt eine Verlegung des Zeitpunkts der zumutbaren Schadenskenntnis vor den massgebenden Regelzeitpunkt nur ausnahmsweise und unter qualifizierten Umständen in Betracht. Rechtsprechungsgemäss wird diesbezüglich ein strenger Massstab angelegt und nicht nur eine Vermutung, sondern die gesicherte Kenntnis des entstandenen Schadens verlangt (BGE 118 V 193 E. 3b; 116 V 72 E. 3c; Urteile 9C_166/2017 vom 8. August 2017 E. 4.2.1, in: SVR 2017 AHV Nr. 21 S. 71; 9C_599/2017 vom 26. Juni 2018 E. 4.5.2). Eine Vorverlegung auf die Zeit vor Auflegung des Kollokationsplanes rechtfertigt sich etwa, wenn eine Ausgleichskasse anlässlich der Gläubigerversammlung vernimmt, dass ihre Forderung auf jeden Fall ungedeckt bleiben wird (BGE 118 V 193 E. 3b). Die Ausgleichskasse ist daher grundsätzlich zur Teilnahme verpflichtet oder hat zumindest Einsicht ins Protokoll zu nehmen und gegebenenfalls die für den Erlass einer Schadenersatzverfügung notwendigen Abklärungen zu treffen. Dabei können jedoch grundsätzlich nur Äusserungen der Konkursverwaltung oder des Sachwalters nicht jedoch Angaben Dritter über den Verlust fristauslösende Wirkung zukommen (Urteil 9C_407/2011 vom 26. Juli 2011 E. 2.2 mit Hinweis auf BGE 116 II 158 E. 4b und SVR 2011 AHV Nr. 13 S. 42, 9C_325/2010 E. 2.1.2). Unter besonderen Umständen ist ebenso möglich, dass die Ausgleichskasse erst nach dem Regelzeitpunkt Kenntnis vom Schaden erlangt (vgl. dazu Urteil 9C_373/2022 vom 19. Dezember 2022 E. 4.2.2.2 mit weiteren Hinweisen).
4.2.
4.2.1. Die Vorinstanz hat erwogen, die Einstellung des Konkurses über die C.________ AG sei am (...) im SHAB publiziert worden, weshalb dieser Tag als Regelzeitpunkt der Kenntnis des Schadens im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu gelten habe. Eine von der Beschwerdeführerin verlangte Vorverlegung des Zeitpunktes der Kenntnis des Schadens auf jenen Zeitpunkt, in welchem die Ausgleichskasse in das Einvernahmeprotokoll des Konkursamtes vom 22. Juni 2017 Einblick erhalten habe, rechtfertige sich nicht, da es sich hiebei nicht um die Verlautbarung des Konkursamtes, sondern lediglich um die "ungefilterte" Protokollierung der Aussagen des Verwaltungsratspräsidenten gehandelt habe.
4.2.2. Diese Erwägungen des kantonalen Gerichts stehen im Einklang mit der Rechtsprechung, wonach grundsätzlich nur Äusserungen der Konkursverwaltung oder des Sachwalters nicht jedoch Angaben Dritter über den Verlust fristauslösende Wirkung zukommen können (vgl. E. 4.1.3 in fine). Daran vermag entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer auch der Umstand nichts zu ändern, dass die Einvernahme des Beschwerdeführers 1 als Verwaltungsratspräsident unter Strafandrohung erfolgte. Insgesamt vermögen die Beschwerdeführer mit ihren Vorbringen keine qualifizierten Umstände aufzuzeigen, welche ausnahmsweise ein Abweichen vom Regelzeitpunkt - hier der Publikation der Konkurseinstellung im SHAB - rechtfertigen würde. Damit verletzte das kantonale Gericht kein Bundesrecht, als es zum Ergebnis gelangte, die Ausgleichskasse habe die zweijährige Verjährungsfrist gewahrt.
5.
5.1. Im Weiteren bestreiten die Beschwerdeführer, dass der Ausgleichskasse durch den Konkurs Schaden entstanden sei.
5.1.1. Gemäss Vorinstanz beruhte der Ausstand der C.________ AG im Wesentlichen auf anlässlich von Arbeitgeberkontrollen festgestellten und nicht abgerechneten Lohnzahlungen an polnische Arbeitnehmer sowie nicht abgerechneten Privatanteilen zweier Fahrzeuge.
5.1.2. Der Schaden gemäss Art. 52 AHVG ist eingetreten, sobald anzunehmen ist, dass die geschuldeten Beiträge aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht mehr erhoben werden können (BGE 121 III 382 E. 3bb mit Hinweisen). Dies trifft dann zu, wenn die Beiträge im Sinne von Art. 16 Abs. 1 AHVG verwirkt sind oder wenn ihre Entrichtung wegen Zahlungsunfähigkeit des beitragspflichtigen Arbeitgebers nicht mehr möglich ist (BGE 123 V 12 E. 5b mit Hinweisen).
5.1.3. Mit Blick auf diese Rechtsprechung weist das kantonale Gericht zu Recht darauf hin, dass dieser Schaden vorliegend in den Beitragsforderungen besteht, die wegen des Konkurses nicht mehr einbringlich sind. Der Schaden entstand mit der Uneinbringlichkeit dieser Forderungen und somit unabhängig von der Frage, ob die betroffenen Beiträge nachträglich noch den individuellen Konten der Arbeitnehmer (vgl. Art. 30ter AHVG; Art. 137 ff. AHVV) gutgeschrieben werden können und wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass aufgrund dieser Beiträge eines Tages von der AHV Leistungen beansprucht werden, weshalb die diesbezüglichen Vorbringen der Beschwerdeführer ins Leere zielen. Die Vorinstanz hat somit kein Bundesrecht verletzt, als sie von Weiterungen zu diesen Punkten abgesehen hat.
5.2. Die Beschwerdeführer machen sodann geltend, aufgrund eines Mitverschuldens der Ausgleichskasse sei der Schadenersatzbetrag herabzusetzen.
5.2.1. Rechtsprechungsgemäss ist das Verhalten der Ausgleichskasse grundsätzlich ohne Einfluss auf die sich unmittelbar aus dem Gesetz ergebenden Abrechnungs- und Zahlungspflichten des Arbeitgebers, welchen dieser in der Funktion eines Organs der Sozialversicherung unterliegt. Eine Verschuldenskompensation fällt deshalb nicht in Betracht, und auch den Kausalzusammenhang zwischen dem pflichtwidrigen Verhalten des Arbeitgebers oder dessen Organes und dem eingetretenen Schaden vermag ein Mit- oder Selbstverschulden der Ausgleichskasse nicht zu unterbrechen. Ist jedoch eine grobe Pflichtverletzung der Ausgleichskasse wie die Missachtung elementarer Vorschriften der Beitragsveranlagung und des Beitragsbezuges für die Entstehung oder Verschlimmerung des Schadens adäquat kausal, kann der Schadenersatz ermessensweise herabgesetzt werden (zum Ganzen vgl. Urteil 9C_228/2008 vom 5. Februar 2009 E. 4.2.2 und 4.2.3 mit weiteren Hinweisen).
5.2.2. Die Beschwerdeführer werfen der Ausgleichskasse vor, nach der Meldung der Löhne für die polnischen Arbeitnehmer im April 2014 das Beitragsverfahren nicht schnell genug vorangetrieben und damit den Schaden mitverursacht zu haben. Mit diesem Vorbringen ist indes noch keine grobe Pflichtverletzung der Ausgleichskasse im Sinne der oben dargelegten Rechtsprechung dargetan. Darüber hinaus wird weder geltend gemacht noch ist ersichtlich, dass das Unternehmen bei der Ausgleichskasse auf eine schnelle Veranlagung gedrängt hätte. Zudem ergibt sich aus den Ausführungen der Beschwerdeführer, dass sich das konkursite Unternehmen bewusst war, auch für die den polnischen Arbeitnehmern ausbezahlten Löhne Sozialversicherungsbeiträge zu schulden; somit wäre dieses - wie im Übrigen auch das kantonale Gericht zutreffend erwogen hat - ohne Weiteres in der Lage gewesen, zumindest entsprechende Rückstellungen zu tätigen und so den Eintritt des Schadens abzuwenden.
5.2.3. Nach dem Gesagten verletzte die Vorinstanz kein Bundesrecht, als sie von einer Reduzierung des Schadenersatzbetrages wegen Mitverschuldens der Ausgleichskasse abgesehen hat.
5.3. Die übrigen Haftungsvoraussetzungen nach Art. 52 AHVG sind letztinstanzlich unbestritten geblieben; sie geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Die Beschwerde ist unbegründet.
6.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend haben die Beschwerdeführer die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 6'000.- werden den Beschwerdeführern auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 26. Juni 2023
Im Namen der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Parrino
Die Gerichtsschreiberin: Stanger