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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
1B_410/2017  
 
 
Urteil vom 20. Februar 2018  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Merkli, Präsident, 
Bundesrichter Chaix, Kneubühler, 
Gerichtsschreiber Schoch. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A. und B. C.________, 
Beschwerdeführerinnen, 
vertreten durch Rechtsanwältin Esther Küng, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau, 
Seetalplatz, Bahnhofstrasse 4, 5600 Lenzburg 1. 
 
Gegenstand 
Strafverfahren; Widerruf der unentgeltlichen Rechtspflege für das Berufungsverfahren, 
 
Beschwerde gegen die Verfügung des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, vom 28. August 2017 (SST.2017.250). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Am 17. Dezember 2014 gewährte die Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau den Schwestern A. und B. C.________ (geboren 2002 bzw. 2003) in einer Strafuntersuchung gegen ihren früheren Stiefvater, D.________, die unentgeltliche Rechtspflege. Mit Urteil vom 30. März 2017 verurteilte das Bezirksgericht Lenzburg D.________ wegen verschiedener Sexualdelikte zum Nachteil der Stieftöchter und verpflichtete ihn, Genugtuungen von Fr. 20'000.-- an A. C.________ und von Fr. 3'000.-- an B. C.________ zu bezahlen. 
 
B.   
D.________ reichte am 23. August 2017 beim Obergericht des Kantons Aargau Berufungserklärung ein und verlangte einen teilweisen Freispruch sowie die Abweisung der oben erwähnten Genugtuungsforderungen. Mit Verfügung vom 28. August 2017 widerrief der Verfahrensleiter des Obergerichts A. und B. C.________ die unentgeltliche Rechtspflege für das Berufungsverfahren. 
 
C.   
Mit Eingabe vom 22. September 2017 führen A. und B. C.________ Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht mit den Anträgen, die Verfügung des Obergerichts vom 28. August 2017 betreffend Widerruf der unentgeltlichen Rechtspflege sei aufzuheben und es sei ihnen für das Verfahren vor dem Bundesgericht die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren. Mit Urteil vom 3. November 2017 hat das Obergericht D.________ für einen Teil der Vorwürfe schuldig gesprochen und die Verpflichtung zur Zahlung der Genugtuungen von Fr. 20'000.-- an A. C.________ sowie von Fr. 3'000.-- an B. C.________ bestätigt. Im Weiteren hat es diesen für das Berufungsverfahren eine Parteientschädigung von Fr. 1'200.-- zu Lasten von D.________ zugesprochen. 
Mit Verfügung vom 14. Dezember 2017 hat der Präsident der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung den Verfahrensbeteiligten Gelegenheit gegeben, sich zur allfälligen Gegenstandslosigkeit des Beschwerdeverfahrens zu äussern. Die Beschwerdeführerinnen haben mit Eingabe vom 3. Januar 2018 geltend gemacht, das Verfahren sei nicht gegenstandslos geworden. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Der angefochtene Entscheid betrifft eine Strafsache im Sinne von Art. 78 BGG und wurde von einer letzten kantonalen Instanz gefällt (Art. 80 Abs. 1 und 2 BGG). Es handelt sich um einen das Strafverfahren nicht abschliessenden Zwischenentscheid. Der Widerruf der unentgeltlichen Rechtspflege ist wie deren Verweigerung geeignet, einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG zu bewirken (vgl. BGE 133 IV 335 E. 4 S. 338 mit Hinweisen). Ob die Beschwerdeführerinnen noch ein aktuelles, rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung des Widerrufs der unentgeltlichen Rechtspflege für das Berufungsverfahren haben, nachdem das Obergericht ihnen eine Parteientschädigung für diesen Verfahrensabschnitt zugesprochen hat, ist nachfolgend zu prüfen.  
 
1.2. Die Beschwerdeführerinnen machen geltend, die Beschwerde sei nicht gegenstandslos geworden, weil der Beschuldigte aufgrund seines fehlenden Vermögens und seines andauernden Gefängnisaufenthalts nicht in der Lage sei, die Parteientschädigung zu leisten. Faktisch bedeute dies, dass sie ihre Anwaltskosten selber zu bezahlen hätten. Bei einer Fortdauer der unentgeltlichen Rechtspflege könne dieser Betrag beim Staat eingefordert werden.  
 
1.3. Die Kosten für die unentgeltliche Verbeiständung der Privatklägerschaft trägt in der Regel der Bund oder der Kanton (Art. 423 i.V.m. Art. 422 Abs. 2 lit. a StPO). Der beschuldigten Person können diese nur auferlegt werden, wenn sie sich in günstigen wirtschaftlichen Verhältnissen befindet (vgl. Art. 426 Abs. 1 und 4 i.V.m. Art. 135 Abs. 4 StPO). Diese Bestimmungen sind so zu verstehen, dass die bedürftige beschuldigte Person im Falle der Verurteilung zwar grundsätzlich zur Kostentragung verpflichtet wird, doch wird im Urteil zugleich festgehalten, dass die Kosten für die unentgeltliche Verbeiständung der Privatklägerschaft unter Vorbehalt der Rückzahlungspflicht gemäss Art. 135 Abs. 4 StPO einstweilen auf die Gerichtskasse genommen werden (vgl. zum Ganzen Urteil 6B_150/2012 vom 14. Mai 2012, E. 2.1).  
 
1.4. Die Entschädigung des unentgeltlichen Rechtsbeistands der Privatklägerschaft ist somit auch bei Verurteilung des Beschuldigten Sache des Bundes oder Kantons; ihm fällt gemäss Art. 138 Abs. 2 StPO eine der Privatklägerschaft zulasten der beschuldigten Partei zugesprochene Prozessentschädigung im Umfang der Aufwendungen für die unentgeltliche Rechtspflege zu.  
Da die Beschwerdeführerinnen glaubhaft vorbringen, die dem verurteilten Stiefvater auferlegte Parteientschädigung für das Verfahren vor dem Obergericht sei uneinbringlich, haben sie immer noch ein aktuelles und praktisches Interesse an der Behandlung der Beschwerde. Auf diese ist daher einzutreten. 
 
2.  
 
2.1. Die Vorinstanz hat in der angefochtenen Verfügung erwogen, es sei nicht ersichtlich, inwiefern die Privatklägerinnen für die Durchsetzung ihrer Zivilforderungen auf einen Rechtsbeistand angewiesen sein sollten. Der Umstand, dass diese noch minderjährig seien, führe zu keiner anderen Beurteilung. Soweit sie im Berufungsverfahren überhaupt noch als Partei teilnehmen wollten, könnten sie sich ausreichend durch die Inhaberin der elterlichen Sorge vertreten lassen. Der Fall sei nicht komplex und leicht überschaubar.  
 
2.2. Die Beschwerdeführerinnen lassen vorbringen, der Beizug eines Rechtsbeistandes sei weiterhin erforderlich, da sie aufgrund ihres Alters handlungsunfähig seien und ihre Rechte nicht selber wahrnehmen könnten. Zudem seien sie - insbesondere die Beschwerdeführerin 1 - durch die massiven und jahrelangen sexuellen Übergriffe des Beschuldigten stark betroffen. Ihre Mutter sei auch nicht in der Lage, sie angemessen zu vertreten, da sie wegen dem Vorgefallenen emotional stark belastet sei und sich selber in psychologischer Behandlung befinde.  
 
2.3. Gestützt auf Art. 29 Abs. 3 BV hat jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand. Art. 29 Abs. 3 BV soll jedem Betroffenen ohne Rücksicht auf seine finanzielle Situation tatsächlichen Zugang zum Gerichtsverfahren vermitteln und die effektive Wahrung seiner Rechte ermöglichen (BGE 131 I 350 E. 3.1 S. 355). Bei Art. 29 Abs. 3 BV handelt es sich um eine verfassungsmässige Minimalgarantie, welche für das Strafverfahren von der StPO umgesetzt und konkretisiert wird. Die StPO kann über die Garantie von Art. 29 Abs. 3 BV hinausgehen, diese aber nicht einschränken (vgl. Urteil 1B_355/2012 vom 12. Oktober 2012 E. 3, in: Pra 2013 Nr. 1 S. 1).  
Art. 136 StPO konkretisiert die Voraussetzungen für die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege für die Privatklägerschaft im Strafverfahren. Dieser ist nach Absatz 1 die unentgeltliche Rechtspflege für die Durchsetzung ihrer Zivilansprüche ganz oder teilweise zu gewähren, wenn sie nicht über die erforderlichen Mittel verfügt (lit. a) und die Zivilklage nicht aussichtslos erscheint (lit. b). Die Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistands für die Privatklägerschaft setzt überdies voraus, dass dies zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist (Art. 136 Abs. 2 lit. c StPO). 
Fällt der Grund für die unentgeltliche Rechtspflege dahin, so widerruft die Verfahrensleitung das Mandat (Art. 137 i.V.m. Art. 134 Abs. 1 StPO). 
 
2.4. Ein unentgeltlicher Rechtsbeistand zur Wahrung der Rechte einer Partei im Prozess ist im Sinne von Art. 29 Abs. 3 BV notwendig, sofern sie ihre Sache, auf sich allein gestellt, nicht sachgerecht und hinreichend wirksam vertreten kann, sodass ihr nicht zuzumuten ist, das Verfahren selbstständig zu führen. Die Notwendigkeit der Verbeiständung beurteilt sich aufgrund der Gesamtheit der konkreten Umstände. Dazu zählen insbesondere die Schwere der Betroffenheit in grundlegenden Interessen, die tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten, die anwendbaren Verfahrensvorschriften sowie die Fähigkeit, sich im Verfahren zurechtzufinden (vgl. Urteil 1B_355/2012 vom 12. Oktober 2012 E. 5.5; BGE 128 I 225 E. 2.5.2 mit weiteren Hinweisen).  
 
2.5. Die Beschwerdeführerinnen sind mittellos; sie sind minderjährig und noch in Ausbildung. Das Obergericht hat die ihnen erstinstanzlich zugesprochenen Zivilforderungen bestätigt. Daraus geht hervor, dass ihre Klage nicht aussichtslos war. In seinem Urteil führt das Obergericht weiter aus, für die Beschwerdeführerinnen stünden erhebliche Genugtuungssummen auf dem Spiel. Da es sich bei ihnen um kindliche Opfer in einem Verfahren betreffend die sexuelle Integrität handle, habe eine persönliche Teilnahme an der Berufungsverhandlung nicht erwartet werden können. Zudem sei der Beschuldigte amtlich verteidigt gewesen. In Anbetracht dieser Umstände sei der Beizug eines Rechtsbeistandes auch im Berufungsverfahren angemessen. Mit diesen zutreffenden Ausführungen zeigt das Obergericht in der Rückschau selber auf, dass die Beschwerdeführerinnen ihre Interessen, auf sich allein gestellt, nicht wirksam hätten einbringen können. Überdies begründet es, weshalb ihre Mutter und Inhaberin der elterlichen Sorge sie nicht ausreichend vertreten konnte. Demzufolge war auch im Berufungsverfahren ein unentgeltlicher Rechtsbeistand notwendig, um ihre Rechte zu wahren. Somit waren die Voraussetzungen für die unentgeltliche Verbeiständung der Beschwerdeführerinnen im Berufungsverfahren weiterhin erfüllt.  
 
2.6. Demnach ist der Widerruf der unentgeltlichen Rechtspflege zu Unrecht erfolgt. Die Beschwerdeführerinnen haben für das Berufungsverfahren gestützt auf Art. 29 Abs. 3 BV und Art. 136 StPO einen Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege.  
 
3.  
Die Beschwerde ist gutzuheissen und die angefochtene Verfügung aufzuheben. Damit ist die vormals gewährte unentgeltliche Rechtspflege der Beschwerdeführerinnen für das obergerichtliche Verfahren wiederhergestellt. Die Sache ist zur Festlegung des Honorars für die Rechtsvertreterin an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
Bei diesem Verfahrensausgang sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton Aargau hat die Beschwerdeführerinnen für das bundesgerichtliche Verfahren angemessen zu entschädigen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Der Antrag der Beschwerdeführerinnen auf unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren wird damit gegenstandslos (Art. 64 Abs. 2 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Die Verfügung des Obergerichts des Kantons Aargau vom 28. August 2017 wird aufgehoben und die Sache wird zur Festlegung des Honorars für die unentgeltliche Rechtspflege der Beschwerdeführerinnen für das obergerichtliche Verfahren an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
2.   
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.   
Der Kanton Aargau hat den Beschwerdeführerinnen für das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 2'000.-- zu bezahlen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Beschwerdeführerinnen, der Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau, dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, und dem Beschuldigten schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 20. Februar 2018 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Merkli 
 
Der Gerichtsschreiber: Schoch