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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1P.115/2002 /sta 
 
Urteil vom 22. Juli 2002 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung 
 
Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger, Präsident, 
Bundesrichter Aeschlimann, Fonjallaz, 
Gerichtsschreiber Steiner. 
 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt lic.iur. Thomas Fingerhuth, Langstrasse 4, 8004 Zürich, 
 
gegen 
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich, vertreten durch Staatsanwalt Dr. M. Hohl, Postfach, 8023 Zürich, 
Obergericht des Kantons Zürich, II. Strafkammer, Postfach, 8023 Zürich, 
Kassationsgericht des Kantons Zürich, Postfach 4875, 8022 Zürich. 
 
Strafverfahren (Praxisänderung in Verfahrensfragen), 
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Beschluss des Kassationsgerichts des Kantons Zürich vom 24. Dezember 2001. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Mit Urteil des Bezirksgerichts Bülach vom 14. Juli 1999 wurde X.________ unter anderem wegen mehrfacher Zuwiderhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, wovon 780 Tage durch Untersuchungs- und Sicherheitshaft bereits erstanden waren. Hiergegen erhob der Verurteilte, amtlich verteidigt durch Rechtsanwalt Dr. A.________, Berufung an das Obergericht des Kantons Zürich, wobei er die Vorwürfe der Anklage grösstenteils bestritt. Mit Beschluss und Urteil vom 11. April 2000 trat das Obergericht auf die Anklageziffer I/7c (Veräusserung von harten Drogen an weitere Abnehmer) nicht ein und erkannte bezüglich der Anklageziffer I/7b (Lieferung von Heroin/Kokain an Y.________ und dessen Komplizen Z.________) auf Freispruch. Im Übrigen wurde das Urteil des Bezirksgerichts Bülach und namentlich das Strafmass von zehn Jahren Zuchthaus bestätigt. 
B. 
Gegen das Urteil des Obergerichts vom 11. April 2000 erhob der Beschwerdeführer persönlich mit Eingabe vom 28. April 2000 sinngemäss kantonale Nichtigkeitsbeschwerde an das Kassationsgericht des Kantons Zürich, nachdem der amtliche Verteidiger untätig geblieben war. Am 21. Juni 2000 ersuchte Rechtsanwalt Thomas Fingerhuth als Vertreter des Beschwerdeführers erfolgreich um Wiederherstellung der vom amtlichen Verteidiger versäumten Frist zur Anmeldung der kantonalen Nichtigkeitsbeschwerde. Mit der Gutheissung des Gesuches wurde zugleich der amtliche Verteidiger entlassen. 
Mit Beschwerde vom 20. November 2000 machte X.________ geltend, das Obergericht sei trotz offenkundiger Pflichtverletzung des amtlichen Verteidigers der ihm obliegenden Fürsorgepflicht nicht nachgekommen. Damit sei ein Nichtigkeitsgrund im Sinne von § 430 Abs. 1 Ziff. 4 StPO gegeben. Mit Beschluss vom 24. Dezember 2001 wurde die Beschwerde abgewiesen. Es sei festzuhalten, dass in der Nichtigkeitsbeschwerde keine Umstände hätten nachgewiesen werden können, die den Beschwerdeführer im vorinstanzlichen Verfahren zu entlasten vermocht hätten und dort vom Verteidiger nicht geltend gemacht worden wären. Es könne somit der Vorinstanz nicht Untätigkeit gegenüber dem Verteidiger im Sinne der Verletzung der staatlichen Fürsorgepflicht vorgeworfen werden. 
C. 
X.________ erhebt mit Eingabe vom 21. Februar 2002 staatsrechtliche Beschwerde. Er beantragt, den Beschluss vom 24. Dezember 2001 aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an das Kassationsgericht zurückzuweisen. Ausserdem ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung. Zur Begründung führt er aus, die Rechtsauffassung, wonach mit der Beschwerde konkrete Umstände aufgezeigt werden müssen, welche den Angeklagten bei sorgfältiger Verteidigung allenfalls zu entlasten vermöchten, stelle eine Praxisänderung dar. Diese sei erst nach Erhebung der Beschwerde erfolgt, weshalb es gegen Treu und Glauben und damit gegen Art. 9 BV, aber auch gegen Art. 6 Ziff. 1 EMRK verstosse, ihm diese erst im angefochtenen Entscheid entgegenzuhalten und die Beschwerde gestützt darauf abzuweisen. 
 
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich, das Obergericht sowie auch das Kassationsgericht haben ausdrücklich auf eine Stellungnahme verzichtet. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
1.1 Gemäss Art. 90 Abs. 1 lit. b OG muss die Beschwerdeschrift die wesentlichen Tatsachen und eine kurz gefasste Darlegung darüber enthalten, welche verfassungsmässigen Rechte bzw. welche Rechtssätze und inwiefern sie durch den angefochtenen Erlass oder Entscheid verletzt worden sind. Das Bundesgericht prüft deshalb im staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren nur klar und detailliert erhobene und, soweit möglich, belegte Rügen. Auf ungenügend begründete Rügen und rein appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid tritt es nicht ein (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; BGE 125 I 492 E. 1b S. 495 mit Hinweisen). 
1.2 Der Beschwerdeführer macht hinreichend detailliert geltend, das Kassationsgericht habe Treu und Glauben und somit Art. 9 BV verletzt, indem es nach Erhebung der Beschwerde eine Praxisänderung vorgenommen, ihm diese erst mit Ergehen des angefochtenen Beschlusses entgegengehalten und die Beschwerde gestützt darauf abgewiesen habe. Soweit er indessen in äusserster Kürze vorbringt, das Kassationsgericht habe "aber auch" gegen Art. 6 Ziff. 1 EMRK verstossen, vermag dieser nicht weiter substanziierte Vorwurf den genannten Anforderungen nicht zu genügen, zumal die angerufene Norm mehrere Teilgehalte aufweist. Will der Beschwerdeführer geltend machen, die Garantie der Fairness im Verfahren (fair trial) umfasse auch den Anspruch darauf, dass ein Gericht, wenn es beabsichtigt, von ständiger Rechtsprechung abzuweichen, die Beteiligten darauf hinweise und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme gebe, bedarf es entsprechender Ausführungen. In diesem Punkt ist daher auf die Beschwerde nicht einzutreten. 
2. 
2.1 Nach Art. 430 Abs. 1 Ziff. 4 der Strafprozessordnung des Kantons Zürich vom 4. Mai 1919 (StPO; LS 321) wird ein Nichtigkeitsgrund gesetzt, wenn der amtliche Verteidiger in seinem Plädoyer auf die konkreten Umstände, die den Angeklagten allenfalls zu entlasten vermöchten, nicht oder nur in eindeutig unangemessener Kürze eingeht, und der Angeklagte deswegen effektiv unverteidigt bleibt, ohne dass der Mangel vom Gericht behoben wird (Blätter für Zürcherische Rechtsprechung [ZR] 100 Nr. 43 E. 3c S. 35; 86 Nr. 96 E. 1b S. 234 f.; 77 Nr. 60 Regeste; vgl. zum Ganzen BGE 124 I 185 E. 3b S. 189 f. mit Hinweisen). Im vorliegenden Fall hat der Beschwerdeführer dem Obergericht vor Kassationsgericht gestützt auf diese Bestimmung vorgeworfen, den Pflichtverteidiger trotz offensichtlich ungenügender Verteidigungsleistung weder ermahnt noch entlassen zu haben. Der Beschwerdeführer macht vor Bundesgericht geltend, das Kassationsgericht habe gegen Art. 9 BV verstossen, indem es ihm nach Eingang seiner Beschwerde in Änderung der bisherigen Praxis ein bisher nicht geltendes Substanziierungserfordernis entgegengehalten und die Beschwerde gestützt darauf abgewiesen habe. 
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts ist eine Praxisänderung, die sich in verfahrensmässiger Hinsicht, namentlich bezüglich der Eintretensvoraussetzungen, zu Ungunsten einer Partei auswirkt und die einen Rechtsverlust nach sich zieht, ohne vorgängige Ankündigung unzulässig (BGE 109 II 174 E. 3 S. 176; 106 Ia 88 E. 2 S. 92; 104 Ia E. 4 S. 3 f.; 103 Ib 197 E. 4 S. 201 f.). Ein derartiges Vorgehen würde gegen Treu und Glauben verstossen. Zu prüfen ist daher in erster Linie, ob das Kassationsgericht tatsächlich - wie behauptet - eine Praxisänderung vorgenommen hat. Das Kassationsgericht geht weder im angeführten Beschluss vom 28. Februar 2001 noch im angefochtenen Entscheid von einer Praxisänderung aus. 
2.2 Gemäss § 430 Abs. 2 StPO ist im Nichtigkeitsverfahren vor Kassationsgericht in der Beschwerdeschrift jeder Nichtigkeitsgrund genau zu bezeichnen. Mit dieser Vorschrift wird das Rügeprinzip statuiert. Namentlich darf die Beschwerdeinstanz - wenn auch die Strafprozessordnung dies im Gegensatz zur Zivilprozessordnung nicht ausdrücklich erwähnt - die Tatsachenbehauptungen des Beschwerdeführers nicht von sich aus ergänzen (Niklaus Schmid, in: Andreas Donatsch / Niklaus Schmid, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, Zürich 1996 ff., § 430 N 32 f.; Diether von Rechenberg, Die Nichtigkeitsbeschwerde in Zivil- und Strafsachen nach zürcherischem Recht, 2. Auflage, Zürich 1986, S. 18). 
2.2.1 In seiner älteren Rechtsprechung zum Nichtigkeitsgrund von § 430 Abs. 1 Ziff. 4 StPO hat das Kassationsgericht Zürich zwei Umstände als ausschlaggebend betrachtet. Einerseits ist geprüft worden, ob der Verurteilte effektiv unverteidigt geblieben war, da der amtliche Verteidiger im Ergebnis nicht dargetan hatte, welche konkreten Umstände den Angeklagten allenfalls zu entlasten vermocht hätten. Andererseits hat das Kassationsgericht verlangt, dass nicht ausgeschlossen werden könne, dass das Urteil bei ordnungsgemässer Verteidigung des Beschwerdeführers milder ausgefallen wäre. Seien beide Voraussetzungen gegeben, sei die angefochtene Entscheidung mit einem Nichtigkeitsgrund behaftet (Beschluss vom 28. August 1978, in: ZR 77 Nr. 60 E. 4 S. 163). In der neueren Rechtsprechung zur Rüge, wegen Untätigkeit des Gerichts trotz offensichtlich ungenügender Verteidigung liege eine Verletzung der richterlichen Fürsorgepflicht vor, hat das Kassationsgericht demgegenüber lediglich geprüft, ob der Verteidiger seinen Pflichten offensichtlich nicht nachgekommen ist. Damit ist gemäss heutiger Praxis nicht (mehr) massgebend, ob sich die festgestellte ungenügende Verteidigung zu Ungunsten des Beschuldigten auf das Sachurteil ausgewirkt hat (Titus Graf, Effiziente Verteidigung im Rechtsmittelverfahren, Diss. Zürich 2000, S. 66). 
2.2.2 Der Beschwerdeführer behauptet, mit dem in ZR 100 Nr. 43 publizierten Entscheid des Kassationsgerichts vom 28. Februar 2001 bzw. mit dem angefochtenen Entscheid sei die Praxis erneut (im Sinne der früheren Rechtsprechung) geändert worden. Bevor er seine Beschwerde eingereicht habe, sei es nicht notwendig gewesen, noch speziell zu begründen, welche konkreten Umstände der frühere Verteidiger zugunsten des Angeschuldigten geltend zu machen versäumt habe. 
2.2.3 Im angefochtenen Entscheid wird zum Erfordernis hinreichender Substanziierung zunächst allgemein festgehalten, ein Beschwerdeführer, der ungenügende Verteidigung und damit die Notwendigkeit des gerichtlichen Einschreitens behaupte, müsse "im Lichte des Rügeprinzips" zumindest ansatzweise aufzeigen, dass und in welcher Hinsicht eine effektivere Verteidigung möglich gewesen wäre. Voraussetzung für die Geltendmachung des Nichtigkeitsgrundes ist nach dem angefochtenen Entscheid, dass derartige konkrete Umstände tatsächlich aktenkundig sind bzw. dass sie aufgezeigt werden. Pauschale und nicht konkrete Vorwürfe über eine ungenügende Auseinandersetzung mit dem Verteidigungsstoff seien nicht geeignet, der Vorinstanz Untätigkeit gegenüber dem Verteidiger vorzuwerfen und einen Nichtigkeitsgrund nachzuweisen. Im konkreten Fall enthalte die Nichtigkeitsbeschwerde keinerlei Hinweise, inwiefern der vom Beschwerdeführer verlangte Antrag auf einen Freispruch auch nur einigermassen überzeugend hätte begründet werden können. Zu einem weiteren Punkt hält das Kassationsgericht dem Beschwerdeführer vor, er habe nicht einmal ansatzweise aufgezeigt, dass und wo möglicherweise Umstände vorhanden gewesen wären, die den Beschwerdeführer hätten entlasten können. Damit fehle es der Nichtigkeitsbeschwerde ihrerseits an einer genügenden Auseinandersetzung mit der Leistung des amtlichen Verteidigers. 
2.2.4 Das Kassationsgericht verlangt lediglich, dass dem im Verfahren der Nichtigkeitsbeschwerde geltenden Rügeprinzip Genüge getan wird. Die vorliegende staatsrechtliche Beschwerde enthält dazu keine Ausführungen. Es wird insbesondere nicht geltend gemacht, das Rügeprinzip sei im vorliegenden Fall in willkürlicher oder überspitzt formalistischer Weise angewendet worden (vgl. dazu den Bundesgerichtsentscheid 1P.66/1991 vom 23. September 1991, publiziert in: ZR 91/92 Nr. 6). Insoweit ist daher den Erwägungen des Kassationsgerichts nichts hinzuzufügen. 
2.2.5 Wird der Vorwurf offensichtlich ungenügender Verteidigungsleistung erhoben, ist im Verfahren vor Kassationsgericht zu prüfen, ob eine andere Verteidigungsstrategie angesichts der Umstände des zu beurteilenden Falles allenfalls geeignet gewesen wäre, ein für den Angeklagten günstigeres Ergebnis zu erzielen. So lässt sich feststellen, ob der mit der Sache befasste Richter gehalten gewesen wäre, zwecks Gewährleistung der genügenden Verteidigung einzugreifen. Davon ist aber die Frage zu unterscheiden, ob mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ein Kausalzusammenhang zwischen der schlechten Verteidigungsleistung und dem für den Angeklagten ungünstigen Sachurteil besteht. Mit anderen Worten muss nach der geltenden Praxis - und auch nach dem angefochtenen Entscheid - nicht dargetan werden, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass bei sachgerechter Verteidigung das Sachurteil günstiger ausgefallen wäre. Hingegen kann eine Verteidigungsleistung nur insoweit ungenügend sein, als überhaupt eine zweckmässigere Verteidigung denkbar gewesen wäre. Nur zu diesem Nachweis hat der Beschwerdeführer aufgrund des vor Kassationsgericht geltenden Rügeprinzips seinen Beitrag zu leisten. Von einer Praxisänderung kann somit keine Rede sein. Der einzig erhobene Vorwurf, die Anwendung des Rügeprinzips im vorliegenden Fall komme einer Praxisänderung zur Frage des Kausalzusammenhangs zwischen Verteidigungsleistung und Sachurteil gleich, erweist sich als unbegründet. Demzufolge ist die Beschwerde abzuweisen. 
3. 
Unterliegt der Beschwerdeführer, sind ihm grundsätzlich die Verfahrenskosten aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 OG) und es besteht kein Anspruch auf Ersatz der Parteikosten (Art. 159 Abs. 2 OG). Da indessen die Voraussetzungen der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung gegeben sind, ist auf die Erhebung von Gerichtskosten zu verzichten und der Vertreter des Beschwerdeführers aus der Bundesgerichtskasse zu entschädigen. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden kann. 
2. 
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gewährt: 
2.1 Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
2.2 Rechtsanwalt Thomas Fingerhuth wird als unentgeltlicher Rechtsvertreter bestellt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 1'000.-- entschädigt. 
3. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der Staatsanwaltschaft, dem Obergericht, II. Strafkammer, und dem Kassationsgericht des Kantons Zürich schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 22. Juli 2002 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: