[AZA 7]
M 10/01 Gb
I. Kammer
Präsident Schön, Bundesrichter Borella, Lustenberger,
Ferrari und Ursprung; Gerichtsschreiber Jancar
Urteil vom 12. April 2002
in Sachen
S.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Dr. Michael Weissberg, Zentralstrasse 47, 2502 Biel,
gegen
Bundesamt für Militärversicherung, Schermenwaldstrasse 10, 3001 Bern, Beschwerdegegner,
und
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern
A.- Der 1973 geborene S.________ stürzte am 13. Juli 1994 während eines militärischen Postenlaufs über eine 10-15 m hohe Felswand ab und zog sich dabei eine LWK1-Fraktur zu. Mit in Rechtskraft erwachsener Verfügung vom 13. September 1996 sprach ihm das Bundesamt für Militärversicherung (BAMV) für den erlittenen Dauerschaden eine Integritätsschadenrente von 30 % zu, welche per 1. Oktober 1996 ausgekauft wurde. Als Folge des Unfalls verblieben unter anderem neurogene Blasen-, Darm- und Sexualfunktionsstörungen.
Die letzteren wurden mit dem Medikament Viagra und mit Caverject-Injektionen behandelt. Mit Verfügung vom 16. Oktober 2000 teilte das BAMV dem Versicherten mit, die Kosten des Medikaments Viagra würden noch bis 15. Juli 1999 und diejenigen der Caverject-Injektionen noch bis 7. Mai 2000 übernommen; weitergehende Kostenansprüche betreffend Erektionshilfen müssten abgelehnt werden. Die dagegen erhobene Einsprache wies das BAMV mit Entscheid vom 27. Dezember 2000 ab.
B.- Hiegegen erhob der Versicherte beim Verwaltungsgericht des Kantons Bern Beschwerde mit dem Antrag auf Bezahlung der Kosten für das Medikament Viagra und für die Caverject-Injektionen rückwirkend ab 15. Juli 1999 respektive
7. Mai 2000. Das kantonale Gericht wies die Beschwerde mit Entscheid vom 2. November 2001 ab.
C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt der Versicherte die Aufhebung des kantonalen Entscheides und des Einspracheentscheides des BAMV.
Das BAMV schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.- Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen über den Anspruch auf Heilbehandlung (Art. 16 Abs. 1 MVG) und auf eine Integritätsschadenrente (Art. 48, Art. 49 Abs. 3 und Art. 50 MVG ) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
2.- Streitig und zu prüfen ist der Anspruch des Versicherten auf Übernahme der Kosten für das Medikament Viagra und für Caverject-Injektionen.
a) Das BAMV hat in seinem Einspracheentscheid vom 27. Dezember 2000 im Wesentlichen ausgeführt, die offene Frage werde durch seine Richtlinien vom 21. Juni 1999 betreffend Kostenübernahme von Therapiemassnahmen gegen Potenzstörungen geregelt. Unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit einer Behandlung sei festzustellen, dass die therapeutischen Möglichkeiten zur Beeinflussung der männlichen Sexualität, insbesondere nach der Zulassung des Medikamentes Viagra, die Grenzen des sozialversicherungsrechtlich Vertretbaren überschritten. Aus diesem Grund übernehme die Militärversicherung die Kosten für therapeutische Möglichkeiten, welche das männliche Sexualleben beeinflussten, grundsätzlich nicht. Die Situation von an Potenzstörungen leidenden Versicherten werde durch die Zusprechung einer Integritätsschadenrente gemildert. Durch eine derartige Rente, welcher auch Genugtuungscharakter zukomme, würden sowohl die durch die Störung erlittene immaterielle Unbill abgegolten als auch Leistungen abgedeckt, welche von der Militärversicherung sonst nicht übernommen werden könnten. Darunter fielen insbesondere sämtliche Erektionshilfen. Beim Beschwerdeführer seien die Auswirkungen der Potenzstörung auf die allgemeine Lebensgestaltung bei der Bemessung des Integritätsschadens voll berücksichtigt worden.
b) Die Vorinstanz hat in ihrem Entscheid im Wesentlichen erwogen, mit der Integritätsschadenrente seien sämtliche Folgen der versicherten Gesundheitsschädigung abgegolten worden. Nach der Praxis des Eidgenössischen Versicherungsgerichts (BGE 117 V 82) sei es für die Bemessung des Integritätsschadens unerheblich, ob dieser mit einem Hilfsmittel ganz oder teilweise ausgeglichen werden könne.
Mithin sei der Integritätsschaden, welchen der Versicherte infolge der Sexualfunktionsstörung erlitten habe, unabhängig davon zu bewerten, ob und welche Medikamente die Folgen der Verletzung vorübergehend zu beseitigen vermöchten.
Unter diesen Umständen könne die Frage, ob insbesondere Viagra als Heilbehandlung im Sinne von Art. 16 MVG generell oder aufgrund der besonderen Verhältnisse im Einzelfall qualifiziert werden könne, offen gelassen werden. Ebenfalls nicht entschieden werden müsse über die Frage der Rechtmässigkeit der vom BAMV seit Erlass der Richtlinien vom 21. Juni 1999 verfolgten Praxis.
3.- a) Gemäss BGE 115 V 149 Erw. 3a setzt der Anspruch auf eine Integritätsentschädigung im Bereiche der Unfallversicherung voraus, dass der Versicherte durch den Unfall eine dauernde erhebliche Schädigung der körperlichen oder geistigen Integrität erleidet. Eine solche Schädigung besteht meistens in einem anatomischen, funktionellen, geistigen oder psychischen Defizit. Entscheidend ist somit, ob der Versicherte eine derartige Schädigung erlitten hat. Ob diese dank einem Hilfsmittel mehr oder weniger vollständig ausgeglichen werden kann mit der Folge, dass sie sich im täglichen Leben nicht mehr oder nur noch in geringem Masse nachteilig auswirkt, ist hingegen unerheblich.
b) Diese Rechtsprechung ist in der Folge auch für den Bereich der Militärversicherung übernommen worden (BGE 117 V 84 Erw. 3c/cc). Danach ist es für die Schwere der Auswirkungen des Gesundheitsschadens auf die Vornahme der primären Lebensfunktionen unmassgeblich, ob die Einschränkung in der primären Lebensfunktion durch Hilfsmittel ganz oder teilweise ausgeglichen werden kann. Die Abgabe von geeigneten Hilfsmitteln ändert am Integritätsschaden nichts, dies im Gegensatz zu den Krankenpflegemassnahmen, welche direkt die Verbesserung des beeinträchtigten Gesundheitszustandes zum Ziele haben. Bezüglich des Anspruches auf eine Integritätsrente gilt der Grundsatz "Eingliederung vor Rente" nicht.
c) Aus diesem Grundsatzentscheid kann entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht geschlossen werden, der Versicherte habe keinen Anspruch auf die Vergütung von Arzneimittelkosten, da dieser durch Auszahlung der Integritätsschadenrente bereits abgegolten worden sei. Vielmehr ist daraus zu folgern, dass sich der Anspruch auf Hilfsmittel und derjenige auf eine Integritätsschadenrente komplementär gegenüberstehen. Das selbe gilt für das Verhältnis dieser Rente zur medizinischen Behandlung im Sinne von Art. 16 MVG. Eine Behandlung ist auch nach Ausrichtung einer Integritätsschadenrente möglich. Die Ausrichtung einer Rente setzt zwar die Dauerhaftigkeit der Beeinträchtigung voraus (Art. 48 MVG). Voraussichtlich dauernd bzw. bleibend ist die Beeinträchtigung, wenn eine wesentliche Änderung nicht mehr zu erwarten ist. Die Rente ist von dem Zeitpunkt an geschuldet, in dem die ärztliche Behandlung abgeschlossen ist oder von ihrer Fortsetzung keine namhafte Besserung des Gesundheitszustandes mehr erwartet werden kann (Art. 48 Abs. 2 MVG). Massgebend für die Beurteilung der vorausgesetzten Stabilität ist nicht der Gesundheitszustand als solcher, sondern dessen Auswirkungen auf die Lebensfunktionen.
Die für die Festsetzung der Integritätsschadenrente erforderliche Stabilität kann auch dann gegeben sein, wenn der Gesundheitsschaden insgesamt noch labil ist und weiterer Behandlung bedarf, mit Bezug auf den zu beurteilenden Integritätsschaden aber stabile Verhältnisse bestehen, die sich durch weitere therapeutische Massnahmen nicht mehr wesentlich beeinflussen lassen (Maeschi, Kommentar zum Bundesgesetz über die Militärversicherung [MVG] vom 19. Juni 1992, Bern 2000, N 24 zu Art. 48).
Ein solcher Fall liegt hier vor. Die erektile Dysfunktion des Versicherten steht fest und kann mittels der benötigten Erektionshilfen nicht behoben werden. Dies schliesst indessen die Anwendung medizinischer Massnahmen im Sinne von Art. 16 MVG nicht aus.
4.- Die Vorinstanz hat die Frage, ob dem Versicherten die beiden Arzneimittel Viagra und Caverject als Heilbehandlung im Sinne von Art. 16 MVG generell oder aufgrund besonderer Verhältnisse im Einzelfall (z.B. Hinzutritt psychischer Probleme) zu vergüten seien, offen gelassen.
Sie wird darüber noch zu befinden haben. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass die Militärversicherung gemäss Art. 14 Abs. 2 MVV Arzneimittel, pharmazeutische Spezialitäten und Laboranalysen nach den Listen, die aufgrund von Art. 52 Abs. 1 KVG aufgestellt worden sind, zu vergüten hat. Die Vorinstanz wird daher zu prüfen haben, ob die Richtlinien des BAMV vom 21. Juni 1999, welche die Vergütung von Erektionshilfen jeglicher Art ausschliessen, gesetzmässig sind.
5.- Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Dem Verfahrensausgang entsprechend hat das BAMV dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 159 in Verbindung mit Art. 135 OG).
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
I. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne
gutgeheissen, dass der Entscheid des Verwaltungsgerichts
des Kantons Bern vom 2. November 2001 aufgehoben
und die Sache an dieses zurückgewiesen wird, damit
es im Sinne der Erwägungen verfahre und über die Beschwerde
gegen den Einspracheentscheid des Bundesamtes
für Militärversicherung vom 27. Dezember 2000 neu entscheide.
II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
III. Das Bundesamt für Militärversicherung hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung
von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu
bezahlen.
IV. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, zugestellt.
Luzern, 12. April 2002
Im Namen des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der I. Kammer:
Der Gerichtsschreiber: