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Eidgenössisches Versicherungsgericht 
Tribunale federale delle assicurazioni 
Tribunal federal d'assicuranzas 
 
Sozialversicherungsabteilung 
des Bundesgerichts 
 
Prozess 
{T 7} 
H 294/02 
 
Urteil vom 27. Mai 2003 
II. Kammer 
 
Besetzung 
Präsident Schön, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Frésard; Gerichtsschreiber Nussbaumer 
 
Parteien 
Ausgleichskasse des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau, Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
1. B.________, 
2. V.________, 
Beschwerdegegner, beide vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Michael Iten, Untermüli 6, 6300 Zug 
 
Vorinstanz 
Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau 
 
(Entscheid vom 17. September 2002) 
 
Sachverhalt: 
A. 
B.________ und V.________ waren Gesellschafter und Geschäftsführer mit Einzelunterschrift der am 27. Juni 2000 in Konkurs gefallenen Firma X.________ GmbH mit Sitz in Y.________. Die Ausgleichskasse des Kantons Aargau gab im Konkurs eine Forderung für ausstehende paritätische Beiträge in Höhe von Fr. 51'407.70 ein. Mit Zirkular Nr. 1 vom 29. August 2000 teilte das Konkursamt des Bezirks Z.________ den Gläubigern mit, aufgrund einer vorsichtigen Schätzung bestünden für die Forderungen der 1. Klasse eine Dividendenaussicht von ca. 20 % und für die Forderungen der 3. Klasse keine. Vom 20. November bis 10. Dezember 2000 lag der Kollokationsplan auf. Am 2. Juli 2001 stellte das Konkursamt der Ausgleichskasse einen Verlustschein über die gesamte eingegebene Forderung aus. Mit Verfügungen vom 20. November 2001 verpflichtete die Ausgleichskasse B.________ und V.________, ihr unter solidarischer Haftbarkeit Schadenersatz im Betrage von Fr. 48'525.- zu bezahlen. 
B. 
Die von der Ausgleichskasse auf Einspruch hin eingereichten Schadenersatzklagen wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 17. September 2002 ab, da die Schadenersatzansprüche verwirkt seien. 
C. 
Die Ausgleichskasse des Kantons Aargau führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, in Aufhebung des angefochtenen Entscheides sei die Sache an das kantonale Versicherungsgericht zurückzuweisen, damit dieses nach Prüfung der weiteren materiellen Haftungsvoraussetzungen über ihre Schadenersatzklagen neu entscheide. 
 
B.________ und V.________ lassen in einer gemeinsamen Eingabe auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen. Kantonales Gericht und Bundesamt für Sozialversicherung verzichten auf eine Vernehmlassung. 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Da es sich bei der angefochtenen Verfügung nicht um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, hat das Eidgenössische Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG). 
2. 
Zu prüfen ist, ob die Beschwerdeführerin ihre Schadenersatzforderungen rechtzeitig innert der einjährigen Verwirkungsfrist des Art. 82 Abs. 1 AHVV (hier anwendbare, bis zum 31. Dezember 2002 [In-Kraft-Treten des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts, ATSG, am 1. Januar 2003] gültig gewesene Bestimmung; BGE 127 V 467 Erw. 1, 121 V 366 Erw. 1b) geltend gemacht hat. 
2.1 Kenntnis des Schadens, welche die einjährige Verwirkungsfrist nach Art. 82 Abs. 1 AHVV auslöst, erhält die Ausgleichskasse in dem Zeitpunkt, in welchem sie unter Beachtung der ihr zumutbaren Aufmerksamkeit erkennen muss, dass die tatsächlichen Gegebenheiten es nicht mehr erlauben, die ihr geschuldeten Beiträge einzufordern, wohl aber eine Schadenersatzpflicht begründen können. Im Falle des Konkurses ist dies nicht erst der Zeitpunkt, in welchem die Verteilungsliste erstellt und ein Verlustschein ausgestellt wird; vielmehr erhält die Ausgleichskasse in der Regel schon Kenntnis vom Schaden, wenn das Inventar und der Kollokationsplan aufliegen, welche Auskunft über die Aktiven, den Rang der von der Ausgleichskasse angemeldeten Forderung und die voraussichtliche Höhe der Dividende geben (BGE 128 V 17 Erw. 2a, 126 V 444 Erw. 3a, 452 Erw. 2a, 121 III 388 Erw. 3b, 119 V 92 Erw. 3, 118 V 195 Erw. 3a, je mit Hinweisen). 
 
Besondere Umstände können zur Vorverlegung des Zeitpunktes der zumutbaren Schadenskenntnis führen (BGE 118 V 195 ff. Erw. 3; ZAK 1992 S. 477 ff. Erw. 2b und 3). Dabei ergibt sich aus den der Ausgleichskasse als Gläubigerin im Konkursverfahren erwachsenden Obliegenheiten, was ihr an Aufmerksamkeit zumutbar ist. So wird es gemäss Rechtsprechung als zumutbar erachtet, dass die Ausgleichskasse im ordentlichen Konkursverfahren an der ersten Gläubigerversammlung teilnimmt (BGE 121 V 240), wenn der Bericht des Konkursamtes über die Aufnahme des Inventars und den Bestand der Masse vorliegt (Art. 237 Abs. 1 SchKG). Ist ab diesem Zeitpunkt ersichtlich, dass die Ausgleichskasse einen Schaden erleiden wird, beginnt die Verwirkungsfrist ausnahmsweise in diesem Zeitpunkt zu laufen. Dies wurde in BGE 126 V 452 Erw. 2c insofern relativiert, als die Ausgleichskasse unter dem Aspekt der ihr zumutbaren Aufmerksamkeit zwar nicht zwingend an der Gläubigerversammlung teilzunehmen hat, sie mit Blick auf die ihr gemäss Art. 8a Abs. 1 SchKG zustehenden Einsichtsrechte aber zumindest innert nützlicher Frist ein Protokoll dieser Versammlung oder den Bericht des Konkursbeamten einzuverlangen hat. 
 
Nach der Rechtsprechung genügt bereits die Kenntnis eines Teilschadens zur Fristauslösung (BGE 126 V 451 Erw. 2a). Voraussetzung für eine ausreichende Kenntnis des (Teil-) Schadens ist aber, dass die Ausgleichskasse zu diesem Zeitpunkt bereits alle tatsächlichen Umstände über die Existenz, die Beschaffenheit und die wesentlichen Merkmale des Schadens (BGE 116 II 160 Erw. 4a mit Hinweis, 116 V 76 Erw. 3b; ZAK 1992 S. 251 unten) sowie die Person des Ersatzpflichtigen kennt (Nussbaumer, Die Ausgleichskasse als Partei im Schadenersatzprozess nach Art. 52 AHVG, in: ZAK 1991, S. 390). Da die ausstehende Beitragsforderung Grundlage für die Höhe des Schadens bildet, kann daher eine Kenntnis nur dann angenommen werden, wenn die Ausgleichskasse in der Lage ist, die Höhe der Beitragsforderung zu beziffern (BGE 126 V 445 Erw. 3c mit Hinweisen). 
2.2 Das kantonale Gericht ging in Anlehnung an die Rechtsprechung, wonach es einer Ausgleichskasse zugemutet werden kann, dass sie einen Vertreter an die erste Gläubigerversammlung entsendet oder dass sie das Protokoll dieser Versammlung einfordert (AHI 2002 S. 141 mit Hinweis auf BGE 126 V 452 Erw. 2 und 121 V 243 Erw. 3c/bb und 111 V 172) davon aus, die Ausgleichskasse sei mit Erhalt des Zirkulars Nr. 1 vom 29. August 2000 darüber informiert gewesen, dass ihre Forderung durch die Konkursdividende gar nicht, mit Sicherheit aber nicht voll gedeckt sein werde (Hinweis auf BGE 121 V 242 und Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom 4. Juli 2000, H 24/98). In diesem Zirkular Nr. 1 sei darauf hingewiesen worden, dass aufgrund einer vorsichtigen Schätzung in der ersten Klasse Dividendenaussichten von 20 % und in der 3. Klasse "keine" bestehen würden. Gestützt auf diese Angaben habe die Ausgleichskasse Kenntnis davon gehabt, dass sie im Konkurs höchstwahrscheinlich leer ausgehen werde. Zumindest ein namhafter Teilschaden sei objektiv und mit Sicherheit festgestanden, was genüge, um die Verwirkungsfrist nach Art. 82 AHVV auszulösen. Die Schadenersatzverfügung vom 20. November 2001 sei demnach zu spät erfolgt. 
2.3 Die Beschwerdeführerin vertritt mit der Minderheit des kantonalen Gerichts die Auffassung, nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung dürfe angesichts der kurzen Frist von einem Jahr zur Geltendmachung der Schadenersatzforderung im Interesse des Gläubigers nicht leichthin ein früherer Zeitpunkt der Schadenskenntnis angenommen werden. Das Zirkular vom 29. August 2000 beinhalte noch zu unbestimmte Angaben, zumal darin festgehalten sei, die Forderungen seien noch zu bereinigen. Auch beruhten die genannten Prozentzahlen nur auf einer vorsichtigen Schätzung. Angesichts des vagen Inhalts des Zirkulars vom 29. August 2000 würde der von der Rechtsprechung aufgestellte Grundsatz, nicht leichthin einen früheren Zeitpunkt der Schadenskenntnis anzunehmen, verletzt. 
2.4 Auszugehen ist davon, dass die Beschwerdeführerin mit ihrer Beitragsforderung mit allen übrigen Gläubigern in der 3. Klasse eingereiht war. Laut dem Zirkular Nr. 1 vom 29. August 2000 wurden in der 1. Klasse Forderungen im Umfang von Fr. 258'188.59 und in der 3. Klasse solche in Höhe von Fr. 877'811.23 angemeldet. Das bewegliche Inventar bewertete das Konkursamt mit Fr. 133'500.-. Aufgrund einer vorsichtigen Schätzung bestünden für die 1. Klasse Aussicht auf eine Dividende von ca. 20 %. Zwar trifft es zu, dass die im Konkurs eingegebenen Forderungen im Rahmen des Kollokationsverfahrens noch bereinigt werden mussten. Noch unbekannt waren zudem die pfandgesicherten Forderungen aufgrund des Retentionsrechts des Vermieters. Dennoch musste die Ausgleichskasse bei dieser Sachlage im Zeitpunkt des Erhalts des Zirkulars Nr. 1 vom 29. August 2000 damit rechnen, dass sie mit ihrer nicht privilegierten 3. Klass-Forderung vollständig zu Verlust kommen würde. Wie das kantonale Gericht zu Recht ausgeführt hat, verhält sich die Situation ähnlich, wie wenn die im Zirkular Nr. 1 enthaltenen Mitteilungen anlässlich der ersten Gläubigerversammlung gemacht worden wären. Selbst wenn man im vorliegenden Fall den Unwägbarkeiten der Forderungsbereinigung und der Verwertung der beweglichen Aktiven Rechnung trägt, hätte die Ausgleichskasse zumindest mit einem erheblichen Teilverlust ihrer Forderung rechnen müssen. Der kantonale Gerichtsentscheid erweist sich daher als rechtmässig. 
3. 
Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens wird die Beschwerdeführerin kosten- und entschädigungspflichtig (Art. 134 OG e contrario; Art. 156 und Art. 159 in Verbindung mit Art. 135 OG). 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
1. 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen. 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 3500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt und mit dem geleisteten Kostenvorschuss verrechnet. 
3. 
Die Ausgleichskasse des Kantons Aargau hat den Beschwerdegegnern für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen. 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt. 
Luzern, 27. Mai 2003 
 
 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
 
Der Präsident der II. Kammer: Der Gerichtsschreiber: