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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_360/2021  
 
 
Urteil vom 31. Oktober 2022  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin, 
Bundesrichterin van de Graaf, 
Bundesrichter Hurni, 
Gerichtsschreiberin Dormann. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Peter-René Wyder, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, Nordring 8, Postfach, 3001 Bern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Schwere Körperverletzung; Landesverweisung (Ausschreibung im Schengener-Informationssystem); Beweiswürdigung, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern, 1. Strafkammer, vom 10. November 2020 (SK 19 325). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die äthiopische Staatsangehörige A.________ und ihre Tochter B.________ (geboren 2010) reisten am 14. November 2017 in die Schweiz ein, wo sie bei ihrem Lebenspartner respektive Vater C.________ lebten. Am 15. Februar 2018 brachten die Eltern ihr Kind in die Klinik Permanence. B.________ starb am frühen Morgen des Folgetages im Spital D.________. Todesursache war laut Institut für Rechtsmedizin ein sauerstoffmangelbedingter Hirnschaden nach Herzkreislaufstillstand, der am ehesten durch eine Aspiration von Mageninhalt nach Erbrechen ausgelöst worden sein dürfte. 
Mit Urteil vom 26. April 2019 sprach das Regionalgericht Bern-Mittelland C.________ der schweren Körperverletzung und der Nötigung, (mehrfach) begangen (gemeinsam mit A.________) in der Zeit von Ende November 2017 bis zum 15. Februar 2018 in U.________ zum Nachteil von (") B.________, schuldig. Zugleich sprach es A.________ der schweren Körperverletzung und der Nötigung, (mehrfach) begangen durch pflichtwidriges Unterlassen (gemeinsam mit dem aktiv handelnden C.________) in der Zeit von Ende November 2017 bis zum 15. Februar 2018 in U.________ zum Nachteil von (") B.________, schuldig. 
 
B.  
Auf Berufung von A.________ hin sprach das Obergericht des Kantons Bern sie mit Urteil vom 10. November 2020 der schweren Körperverletzung und der Nötigung, (mehrfach) begangen durch pflichtwidriges Unterlassen (gemeinsam mit dem aktiv handelnden C.________) in der Zeit von Ende November 2017 bis zum 15. Februar 2018 in U.________ zum Nachteil von ( ") B.________, schuldig. Es verurteilte A.________ zu einer Freiheitsstrafe von 26 Monaten und zu einer Landesverweisung von acht Jahren unter Ausschreibung der Landesverweisung (Einreise- und Aufenthaltsverweigerung) im Schengener Informationssystem (SIS). 
 
C.  
A.________ lässt mit Beschwerde in Strafsachen beantragen, der Schuldspruch wegen schwerer Körperverletzung sei aufzuheben, hingegen sei sie der einfachen Körperverletzung schuldig zu sprechen; die Anordnung der Landesverweisung unter Ausschreibung im Schengener Informationssystem sei aufzuheben; das Verfahren sei zur Festlegung der Strafe an die Vorinstanz zurückzuweisen. Ferner ersucht sie um unentgeltliche Rechtspflege. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Die Beschwerdeführerin rügt, die ihr vorgeworfenen Unterlassungen hätten nicht den Tatbestand der schweren Körperverletzung (Art. 122 Abs. 3 StGB), sondern jenen der einfachen Körperverletzung (Art. 123 Ziff. 2 Abs. 3 StGB) erfüllt. Es dürfe nicht von einer schweren Schädigung der psychischen Gesundheit des Opfers ausgegangen werden, weil dazu kein psychologisches Gutachten erstellt worden sei. Die einzelnen Taten respektive Verletzungen seien überwiegend als einfache Körperverletzungen an der Grenze zu Tätlichkeiten zu qualifizieren. Die Schmerzen des Opfers seien nicht geeignet, die in Art. 122 StGB geforderte Verletzungsschwere zu erreichen. Zudem sei sie nicht bei allen Taten des Lebenspartners respektive Kindsvaters zugegen gewesen.  
 
1.2. Die Vorinstanz hält insbesondere fest, dass die Tochter kurz nach der Einreise in die Schweiz erste Probleme mit der Nahrungsaufnahme gezeigt und häufig erbrochen habe. Der Vater habe nicht akzeptiert, dass sie wenig und langsam gegessen habe, weil er befürchtet habe, dass sie sonst nicht schön, gross und stark werde. Um sie zu zwingen, mehr und schneller zu essen und zu trinken, habe er Ende November 2017 begonnen, der Tochter mit Schlägen zu drohen und sie auch geschlagen. Teilweise habe er ihr den Mund durch Druck auf die Wangen geöffnet und ihr Nahrung mit einem Löffel zugeführt. Wenn sie hierauf habe erbrechen müssen, habe er sie mit Händen und Fäusten sowie mit Gürtel und Elektrokabel geschlagen und in Arme und Beine gekniffen. Solche Übergriffe seien regelmässig, mindestens mehrmals wöchentlich erfolgt. Einmal habe er sie mit Füssen gegen den Kopf getreten. Ausserdem habe er seine Tochter regelmässig mit militärischem Drill aufgefordert, Turnübungen zu machen, und dies auch mit Androhung und unter Anwendung von Gewalt erzwungen. Die Tochter habe zahlreiche über den ganzen Körper verteilte Hauteinblutungen, -unterblutungen und -verletzungen, Quetschungen und Schwellungen im Gesicht erlitten. Am 7. Januar 2018 habe er sie mit einem Wallholz ins Gesicht geschlagen und ihr das Nasenbein gebrochen. Die Eltern hätten keinen Arzt konsultiert und vorgeschlagene Arzttermine nicht eingehalten, obschon die Tochter ab einem gewissen Zeitpunkt fast täglich oder sogar mehrmals täglich erbrochen habe. Die Tochter habe jeweils voller Angst auf den Vater gewartet. Die Beschwerdeführerin sei ihre einzige Bezugsperson gewesen und habe von den zahlreichen Misshandlungen durch den Vater gewusst und sich während dessen Übergriffen - ausser während eines Spitalaufenthaltes vom 6. bis zum 10. Januar 2018 - in der Wohnung befunden, ohne irgend etwas dagegen unternommen zu haben.  
Weiter erwägt die Vorinstanz, neben den als Folter zu bezeichnenden Misshandlungen der Tochter müssten auch deren körperliche Veränderungen aufgrund des wiederholten Erbrechens berücksichtigt werden. Dieses sei klar fremdverschuldet und habe zu Veränderungen respektive Verletzungen der Speiseröhre geführt. Die durch körperliche Züchtigungen erfolgten Verletzungen und die damit einhergehenden psychischen Folgen seien in ihrer Gesamtheit als schwere Körperverletzung zu würdigen. Schon weniger massive Misshandlungen könnten zu schweren psychischen Langzeitfolgen führen. Es müsse angenommen werden, dass die intensiven Misshandlungen bei einem siebenjährigen Kind zu Persönlichkeitsveränderungen und schweren Langzeitfolgen führen. Die Beschwerdeführerin habe denn auch bereits verhaltensverändernde Ängste der Tochter geschildert. Diese habe weder mit ihrer Mutter noch mit sonst jemandem darüber sprechen können und gegenüber Dritten über die Verletzungen gar lügen müssen, was künftige schwere psychische Folgen begünstigt haben dürfte. Das Kind habe in einem grossen inneren Konflikt gestanden, als es trotz der grausamen Behandlung nach aussen das Bild einer liebenswerten Familie habe abgeben müssen, den Vater und Peiniger angelächelt und umarmt habe und sich wohl in manchen Momenten bei den Eltern als einzige enge Bezugspersonen wohlgefühlt habe. 
 
1.3.  
 
1.3.1. Nach Art. 122 StGB wird wegen schwerer Körperverletzung bestraft, wer vorsätzlich einen Menschen lebensgefährlich verletzt (Abs. 1); wer vorsätzlich den Körper, ein wichtiges Organ oder Glied eines Menschen verstümmelt oder ein wichtiges Organ oder Glied unbrauchbar macht, einen Menschen bleibend arbeitsunfähig, gebrechlich oder geisteskrank macht, das Gesicht eines Menschen arg und bleibend entstellt (Abs. 2); wer vorsätzlich eine andere schwere Schädigung des Körpers oder der körperlichen oder geistigen Gesundheit eines Menschen verursacht (Abs. 3).  
Die in Art. 122 Abs. 1 und 2 StGB genannten Beeinträchtigungen haben beispielhaften Charakter (Urteil 6B_992/2015 vom 1. Juni 2016 E. 2.4.2). Als "andere schwere Schädigung des Körpers oder der körperlichen oder geistigen Gesundheit" im Sinne der Generalklausel von Art. 122 Abs. 3 StGB kommt nur eine Beeinträchtigung in Frage, die mit den genannten Sachlagen in ihrer Schwere vergleichbar ist. Dies ist etwa der Fall, wenn sie mit einer langen Bewusstlosigkeit, einem schweren und lang dauernden Krankenlager ("plusieurs mois d'hospitalisation"), einem ausserordentlich langen Heilungsprozess oder einer Arbeitsunfähigkeit während eines grossen Zeitraumes ("de nombreux mois d'incapacité de travail") verbunden ist (BGE 124 IV 53 E. 2; Urteile 6B_514/2019 vom 8. August 2019 E. 2; 6B_992/2015 vom 1. Juni 2016 E. 2.4.2). Im Übrigen kann eine Kombination verschiedener Beeinträchtigungen, die für sich allein noch nicht als schwere Körperverletzung gelten, diese Qualifikation in der gesamtheitlichen Würdigung im Rahmen der Generalklausel nach Art. 122 Abs. 3 StGB rechtfertigen (Urteile 6B_20/2021 vom 17. März 2021 E. 2.2; 6B_26/2011 vom 20. Juni 2011 E. 2.4.2). 
 
 
1.3.2. Der Begriff der schweren Körperverletzung ist mit Blick auf den Einzelfall auszulegen. In Grenzfällen weicht das Bundesgericht nur mit einer gewissen Zurückhaltung von der Beurteilung der Vorinstanz ab (BGE 129 IV 1 E. 3.2; Urteil 6B_20/2021 vom 17. März 2021 E. 2.2 mit weiteren Hinweisen).  
 
1.4.  
 
1.4.1. Dass die vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen offensichtlich unrichtig (unhaltbar, willkürlich; vgl. BGE 147 IV 73 E. 4.1.2; 146 IV 114 E. 2.1; 146 IV 88 E. 1.3.1; je mit Hinweisen) sein sollen, ist nicht ersichtlich. Dies wird auch von der Beschwerdeführerin nicht substanziiert geltend gemacht; der blosse Verweis auf die Aussagen der Lehrerin und ihre eigenen Darstellungen genügt dafür nicht.  
Soweit die Vorinstanz im Zusammenhang mit den Misshandlungen von schweren psychischen Langzeitfolgen ausgeht, kann sie sich zwar - aufgrund des Todes der Tochter - nicht auf ein psychologisches Gutachten oder einen "Fachbericht" stützen. Indessen verweist sie dazu auf verschiedene (unter www.kinderschutz-schweiz.ch; www.bsv.admin.ch und www.ebg.admin.ch publizierte) Studien und den Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats Fehr (07.3725) vom 5. Oktober 2007 "Gewalt und Vernachlässigung in der Familie: notwendige Massnahmen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe und der staatlichen Sanktionierung" respektive auf die allgemeine Lebenserfahrung (vgl. Urteil 6B_381/2021 vom 17. Juni 2021 E. 4.3.4). Das stellt keine Rechtsverletzung dar. 
Nach dem Gesagten bleiben die vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen für das Bundesgericht verbindlich (vgl. Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
1.4.2. Ob die einzelnen Taten respektive Verletzungen überwiegend als einfache Körperverletzungen an der Grenze zu Tätlichkeiten zu qualifizieren sind, wie die Beschwerdeführerin vorbringt, kann offenbleiben. Auch wenn dies zutrifft, bleibt bei gesamtheitlicher Betrachtung eine Qualifikation als schwere Körperverletzung ohne Weiteres möglich (vgl. vorangehende E. 1.3.1). Sodann darf die Vorinstanz im Rahmen der Gesamtbetrachtung die durch die Schläge verursachten Schmerzen - ebenso wie etwa die unbehandelt gebliebenen Veränderungen an der Speiseröhre, das Alter und die mit der Immigration verbundene besondere Abhängigkeit des Kindes von den Eltern - miteinbeziehen. Weiter berücksichtigt die Vorinstanz, dass die Beschwerdeführerin vom 6. bis zum 10. Januar 2018 und damit während des Angriffs mit dem Wallholz hospitalisiert war. Das ändert indessen nichts daran, dass sie um die systematischen Misshandlungen durch ihren Lebenspartner wusste und weder vor noch nach ihrer Hospitalisation etwas dagegen unternahm.  
Dass andere Kindesmisshandlungen länger dauerten und gravierender waren als im hier zu beurteilenden Fall, spricht nicht gegen die vorinstanzliche Qualifikation. Dazu hält die Vorinstanz (verbindlich) fest, dass die Dauer der Übergriffe nur mit dem Tod der Tochter zu erklären sei, ansonsten wäre ihre Leidenszeit noch viel länger geworden. Schliesslich ergibt sich auch aus den von der Beschwerdeführerin angerufenen bundesgerichtlichen Urteilen 6S.151/2004 vom 15. Juni 2004 und 6B_149/2017 vom 16. Februar 2018nichts zu ihren Gunsten. Darin ging es nicht um die Abgrenzung zwischen einfacher und schwerer Körperverletzung. Im ersten Urteil (6S.151/2004 vom 15. Juni 2004 E. 2.4) spielte der vorinstanzliche Schuldspruch wegen einfacher Körperverletzung lediglich mit Blick auf die Strafzumessung eine Rolle. Im zweiten Urteil (6B_149/2017 vom 16. Februar 2018 E. 9) stand der Körperverletzungstatbestand nicht im Zusammenhang mit den Kindern, sondern mit der Ehefrau des Täters; dabei musste das Bundesgericht die einfache Körperverletzung von der geforderten Qualifikation als Tätlichkeit abgrenzen. 
 
1.4.3. Die Vorinstanz hat kein Recht verletzt, indem sie bei den konkreten Gegebenheiten nicht auf einfache, sondern auf schwere Körperverletzung geschlossen hat. Bei diesem Ergebnis erübrigen sich Ausführungen zur Landesverweisung und zur Strafzumessung, zumal die entsprechenden Anträge einzig mit der erfolglos geltend gemachten Einordnung als einfache Körperverletzung begründet werden. Die Beschwerde ist unbegründet.  
 
2.  
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege (Prozessführung und Verbeiständung) ist infolge Aussichtslosigkeit der Beschwerde abzuweisen (Art. 64 Abs. 1 BGG). Den finanziellen Verhältnissen der Beschwerdeführerin ist mit einer reduzierten Gerichtsgebühr bei der Kostenfestsetzung Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 BGG; Urteil 6B_342/2021 vom 27. Januar 2022 E. 2).  
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen. 
 
3.  
Die Gerichtskosten von Fr. 1'200.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern, 1. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 31. Oktober 2022 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari 
 
Die Gerichtsschreiberin: Dormann