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Eidgenössisches Versicherungsgericht 
Tribunale federale delle assicurazioni 
Tribunal federal d'assicuranzas 
 
Sozialversicherungsabteilung 
des Bundesgerichts 
 
Prozess 
{T 7} 
I 369/05 
 
Urteil vom 29. September 2005 
III. Kammer 
 
Besetzung 
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Lustenberger und Seiler; Gerichtsschreiber Hochuli 
 
Parteien 
G.________, 1974, Beschwerdeführerin, vertreten durch Fürsprecher Andreas Gafner, Nidaugasse 24, 2502 Biel 
 
gegen 
 
IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin 
 
Vorinstanz 
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern 
 
(Entscheid vom 26. April 2005) 
 
Sachverhalt: 
A. 
Die 1974 geborene, als Kind jahrelang durch ihren Vater sexuell missbrauchte G.________ ist allein erziehende Mutter einer 1997 geborenen Tochter. Nach dem Lehrabschluss als Verkäuferin war sie während rund zweieinhalb Jahren bis zum 13. März 1996 (letzter effektiver Arbeitstag) als Fabrikarbeiterin in der X.________ SA erwerbstätig. Am 1. Dezember 1998 meldete sie sich wegen seit 1991 bestehender chronischer Rücken- und Kniebeschwerden bei der Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Gestützt auf die medizinischen und erwerblichen Abklärungen sowie die Ergebnisse eines polydisziplinären Gutachtens in der Medizinischen Abklärungsstelle B.________ vom 17. April 2000 (nachfolgend: MEDAS-Gutachten 1) verneinte die IV-Stelle Bern zunächst einen Rentenanspruch mit Verfügung vom 30. Juli 2001 ab, hob diese jedoch auf Beschwerde der Versicherten hin am 17. September 2001 wiedererwägungsweise auf. Nach dem Beizug weiterer Arztberichte stellte die IV-Stelle G.________ mit Vorbescheid vom 16. September 2002 die Ausrichtung einer halben Invalidenrente ab 1. Februar 1998 in Aussicht. Auf ein Schreiben der behandelnden Hausärztin Dr. med. U.________ vom 29. September 2002 hin veranlasste die Verwaltung erneut eine polydisziplinäre Begutachtung in der MEDAS (das MEDAS-Gutachten 2 datiert vom 3. Dezember 2003) sowie eine Haushaltabklärung (Bericht vom 27. Januar / 26. Februar 2004). Daraufhin sprach die IV-Stelle der Versicherten mit Wirkung ab 1. Februar 1998 für die befristete Dauer bis zum 31. Juli 2003 eine halbe Invalidenrente zu (Verfügung vom 3. Juni 2004). Am 17. Juni 2004 beauftragte und bevollmächtigte G.________ einen Rechtsanwalt mit der Wahrung ihrer Interessen in Sachen Invalidenversicherung, worauf dieser namens und im Auftrag der Versicherten am 25. Juni 2004 nach Akteneinsichtnahme Einsprache erhob und diese in einer zehnseitigen Eingabe vom 31. August 2004 begründete. In Verbindung damit legte er zwei neue, von ihm selber bei den behandelnden Ärzten eingeholte ausführliche Berichte auf. Weiter liess die Versicherte die Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung beantragen. Mit Einspracheentscheid vom 20. Oktober 2004 hielt die IV-Stelle an ihrer Verfügung vom 3. Juni 2004 fest und verneinte den Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung mit der Begründung, eine anwaltliche Rechtsverbeiständung sei nicht erforderlich. 
B. 
Die hiegegen erhobene Beschwerde der G.________ hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 26. April 2005 teilweise gut, sandte die Sache zur weiteren Abklärung im Sinne der Erwägungen an die IV-Stelle zurück und sprach der Beschwerdeführerin zu Lasten der Beschwerdegegnerin für das kantonale Gerichtsverfahren eine ungekürzte Parteientschädigung zu. Soweit die Versicherte geltend gemacht hatte, die IV-Stelle habe ihr für das Einspracheverfahren zu Unrecht die Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung verweigert, wies das kantonale Gericht die Beschwerde ab. 
C. 
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt G.________ insoweit die Aufhebung des kantonalen Gerichts- und des Einspracheentscheides beantragen, als damit das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung für das Einspracheverfahren abgewiesen wurde. 
 
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) verzichten auf eine Vernehmlassung. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Strittig geblieben ist einzig, ob die Versicherte für das Einspracheverfahren einen Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung hat. Liegt somit nicht die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen im Streite, hat das Eidgenössische Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG). 
2. 
2.1 Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen über die unentgeltliche Verbeiständung im sozialversicherungsrechtlichen Verwaltungsverfahren einerseits (Art. 37 Abs. 1 und 4 ATSG; vgl. auch Art. 29 Abs. 3 BV) und im anschliessenden kantonalen Gerichtsverfahren andererseits (Art. 61 lit. f ATSG) zutreffend dargelegt. Gleiches gilt hinsichtlich der im Rahmen von alt Art. 4 BV zu den Voraussetzungen der unentgeltlichen Verbeiständung im Einspracheverfahren ergangenen Rechtsprechung (Bedürftigkeit der Partei, fehlende Aussichtslosigkeit der Rechtsbegehren, sachliche Gebotenheit im konkreten Fall; BGE 125 V 32, 117 V 408; AHI 2000 S. 162), die nach dem Willen des Gesetzgebers weiterhin anwendbar ist (BBl 1999 V 4595; Ueli Kieser, ATSG-Kommentar: Kommentar zum Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000, Zürich 2003, N 15 ff. zu Art. 37; Petra Fleischanderl, Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts zu ATSG und ATSV, in: ZBJV 2004 S. 749 f. mit Hinweisen). Darauf wird verwiesen. 
2.2 Im Urteil M. vom 29. November 2004 (I 557/04, Erw. 2.2, publiziert in: Anwaltsrevue 3/2005 S. 123) hielt das Eidgenössische Versicherungsgericht ergänzend fest, 
dass hinsichtlich der sachlichen Gebotenheit der unentgeltlichen anwaltlichen Verbeiständung im Einspracheverfahren die Umstände des Einzelfalls, die Eigenheiten der anwendbaren Verfahrensvorschriften sowie die Besonderheiten des jeweiligen Verfahrens zu berücksichtigen sind. Dabei fallen neben der Komplexität der Rechtsfragen und der Unübersichtlichkeit des Sachverhalts auch in der Person des Betroffenen liegende Gründe in Betracht, wie etwa seine Fähigkeit, sich im Verfahren zurechtzufinden (Schwander, Anmerkung zu BGE 122 I 8, in: AJP 1996 S. 495). Falls ein besonders starker Eingriff in die Rechtsstellung des Bedürftigen droht, ist die Verbeiständung grundsätzlich geboten, andernfalls bloss, wenn zur relativen Schwere des Falls besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukommen, denen der Gesuchsteller auf sich alleine gestellt nicht gewachsen ist (BGE 130 I 182 Erw. 2.2 mit Hinweisen), und wenn auch eine Verbeiständung durch Verbandsvertreter, Fürsorger oder andere Fach- und Vertrauensleute sozialer Institutionen nicht in Betracht fällt (BGE 125 V 34 Erw. 2, 114 V 236 Erw. 5b; AHI 2000 S. 163 f. Erw. 2a und b). Die sachliche Notwendigkeit wird nicht allein dadurch ausgeschlossen, dass das in Frage stehende Verfahren von der Offizialmaxime oder dem Untersuchungsgrundsatz beherrscht wird, die Behörde also gehalten ist, an der Ermittlung des rechtserheblichen Sachverhaltes mitzuwirken (BGE 130 I 183 f. Erw. 3.2 und 3.3 mit Hinweisen). Die Offizialmaxime rechtfertigt es jedoch, an die Voraussetzungen, unter denen eine anwaltliche Verbeiständung sachlich geboten ist, einen strengen Massstab anzulegen (BGE 125 V 35 f. Erw. 4b; AHI 2000 S. 164 Erw. 2b; Urteil H. vom 6. Juli 2004 Erw. 2.2, I 186/04). 
3. 
Unbestritten ist, dass die praxisgemäss für die Bewilligung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes vorausgesetzte Bedürftigkeit der Partei und die fehlende Aussichtslosigkeit der Rechtsbegehren im hier zu beurteilenden Fall mit Blick auf die im Einspracheverfahren anwaltlich vertretene Beschwerdeführerin erfüllt waren. Streitig und zu prüfen ist somit einzig, ob auch die Voraussetzung der Erforderlichkeit eines Rechtsbeistandes im Einspracheverfahren zu bejahen ist. 
4. 
4.1 Die IV-Stelle führte im Einspracheentscheid aus, das Gesuch um Bewilligung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes sei deshalb abzuweisen, weil hier eine andere als eine anwaltliche Verbeiständung nicht ausser Betracht falle. Im Ergebnis schützte das kantonale Gericht die Auffassung der Verwaltung mit der Begründung, es hätten sich in medizinischer Hinsicht zwar nicht einfache Fragen gestellt. Wie den Akten zu entnehmen sei, werde die Beschwerdeführerin jedoch von ihren Ärzten unterstützt und vom Sozialdienst betreut, welcher sie auch auf die Anmeldung bei der Invalidenversicherung verwiesen habe. Unter diesen Umständen könne nicht gesagt werden, dass die Versicherte nicht in der Lage gewesen wäre, ohne anwaltliche Verbeiständung ihre Rechte selber wahrzunehmen. 
4.2 Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde legte die Beschwerdeführerin ein Schreiben der Abteilung für Soziales der Stadt Y.________ vom 12. Mai 2005 auf, womit diese Amtsstelle bestätigte, dass sie der Sozialhilfe beziehenden Versicherten nach Empfang der strittigen Verfügung der IV-Stelle vom 3. Juni 2004 wegen der Komplexität der Situation empfohlen habe, bei einer Rechtsberatung entsprechende Hilfe zu beantragen. Mit sechzehn Jahren zeigte die jahrelang durch ihren alkoholabhängigen Vater sexuell missbrauchte Beschwerdeführerin den Täter an, welcher in der Folge zu viereinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Gemäss psychiatrischem Teilgutachten zum MEDAS-Gutachten 1 hat diese schwerwiegende Traumatisierung mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Entwicklung der dysthymen Persönlichkeit beigetragen. Demnach war bei der Untersuchung eine ausgesprochene Diskrepanz zwischen der äusserlich erkennbaren massiven Gespanntheit und dysphorischen Grundstimmung einerseits und der Verneinung derartiger subjektiver Beschwerden durch die Versicherte selber andererseits aufgefallen. Diese sei ihren Gefühlen gegenüber kaum zugänglich, spalte affektiv negativ besetzte Reaktionen ab und zeichne sich durch eine auffällige Gleichgültigkeit gegenüber ihrer weiteren Lebensplanung aus. Schon aus diesen Umständen ist ersichtlich, dass die Beschwerdeführerin subjektiv auf eine umfassende Interessenvertretung angewiesen war. 
 
Unter anderem gestützt auf die Erkenntnisse aus dem MEDAS-Gutachten 1 verneinte die IV-Stelle zunächst mit Verfügung vom 17. September 2001 einen Rentenanspruch vollständig. Zwar setzte sich auch die behandelnde Hausärztin Dr. med. U.________ mehrfach gegenüber der Invalidenversicherung für die Interessen der Beschwerdeführerin ein. So erläuterte die Hausärztin zuhanden der IV-Stelle im Schreiben vom 9. Dezember 2001 ausführlich die persönlichen Verhältnisse der Versicherten, wonach diese 1996 von einem Türken, in welchen sie verliebt gewesen war, schwanger geworden sei. Daraufhin habe sie sich zwingen lassen, dessen besten Freund zu heiraten. Dieser gelte nun als Vater ihrer Tochter, obwohl er es in Tat und Wahrheit nicht sei. Von ihm sei sie geschlagen und eingesperrt worden. Wegen solcher unentschuldigter Absenzen habe sie schliesslich ihre Arbeitsstelle in der X.________ SA verloren. Infolge dieser Traumatisierungen vermochte sie während Jahren nicht eigenverantwortlich für ihre Gesundheit zu sorgen, sondern entwickelte eine krankhafte Essstörung. Das fehlende soziale Netz wurde mit Essen kompensiert, bis sie einen Body-Mass-Index von 46 erreichte. Es dürfte gerade der fehlenden anwaltlichen Verbeiständung zuzuschreiben sein, dass die IV-Stelle zum Zweck einer erneuten polydisziplinären Abklärung den Auftrag wiederum der MEDAS erteilte, obwohl Dr. med. Z.________, Chefarzt des Psychiatriezentrums Y.________, in seinem Bericht vom 22. September 2003 die neben der Essstörung gemäss MEDAS-Gutachten 1 in den Vordergrund gerückte psychiatrische Diagnose einer Dysthymia (F34.1 nach ICD-10) aus fachärztlicher Sicht kritisierte. 
 
Nach dem Gesagten steht fest, dass während den fast sechs Jahren zwischen der Anmeldung zum Leistungsbezug bei der Invalidenversicherung und dem Erlass des hier strittigen Einspracheentscheides weder der Sozialdienst noch die behandelnden Ärzte eine umfassende rechtskundige Interessenvertretung zu Gunsten der Versicherten wahrzunehmen vermochten, sondern praxisgemäss (Erw. 2 hievor) gestützt auf die gegebenen Verhältnisse in subjektiver und objektiver Hinsicht eine anwaltliche Rechtsverbeiständung vielmehr auch für das Einspracheverfahren seit 17. Juni 2004 im Sinne von Art. 37 Abs. 4 ATSG erforderlich war. Denn bereits im Verwaltungsverfahren waren nicht nur die Bedingungen der Bedürftigkeit und fehlenden Aussichtslosigkeit der Rechtsbegehren gegeben, sondern war auch die Voraussetzung der Erforderlichkeit erfüllt. Folglich hatte die Beschwerdeführerin schon im Administrativverfahren Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung. Indem die Vorinstanz mit angefochtenem Entscheid und die IV-Stelle mit Einspracheentscheid den Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung für das Einspracheverfahren verneinten, haben sie Bundesrecht verletzt, weshalb diese Entscheide insoweit aufzuheben sind. Die Sache ist demnach zur masslichen Bestimmung der Entschädigung des unentgeltlichen Rechtsbeistandes für das Einspracheverfahren und anschliessenden Neuverfügung an die Verwaltung zurückzuweisen. 
5. 
Streitigkeiten im Zusammenhang mit der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung unterliegen grundsätzlich nicht der Kostenpflicht, weshalb keine Gerichtskosten zu erheben sind (SVR 2002 ALV Nr. 3 S. 7 Erw. 5). Da die Beschwerdeführerin obsiegt, ist ihr zu Lasten der IV-Stelle eine Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 135 in Verbindung mit Art. 159 OG). Das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung für das letztinstanzliche Verfahren erweist sich damit als gegenstandslos. 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
1. 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 26. April 2005 und der Einspracheentscheid der IV-Stelle Bern vom 20. Oktober 2004 aufgehoben werden, soweit damit der Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung für das Einspracheverfahren verneint wurde, und es wird die Sache zur masslichen Festsetzung der Entschädigung des unentgeltlichen Rechtsbeistandes für das Einspracheverfahren und zur Neuverfügung an die IV-Stelle zurückgewiesen. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
3. 
Die IV-Stelle Bern hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen. 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt. 
Luzern, 29. September 2005 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Die Präsidentin der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber: 
i.V.