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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1C_37/2010 
 
Urteil vom 11. Juni 2010 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Féraud, Präsident, 
Bundesrichter Raselli, Eusebio, 
Gerichtsschreiber Störi. 
 
Verfahrensbeteiligte 
X.________, Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
Gemeinde Samnaun, Kirchweg 25, 
7562 Samnaun-Compatsch, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Otmar Bänziger. 
 
Gegenstand 
Gemeindeabstimmung, 
 
Beschwerde gegen das Urteil vom 27. Oktober 2009 
des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden, 
1. Kammer als Verfassungsgericht. 
Sachverhalt: 
 
A. 
Am Freitag, dem 17. Juli 2009, publizierte der Gemeindevorstand von Samnaun an den Schwarzen Brettern in Samnaun-Compatsch und in Samnaun-Dorf sowie auf der Homepage der Gemeinde die Einladung für die Gemeindeversammlung vom 29. Juli 2009. Traktandiert waren das "Gesetz über die Katastrophenorganisation in der Gemeinde Samnaun", die "Kreditfreigabe öffentliche WC-Anlage Chasa Riva Samnaun Dorf", das "Gesuch Bergbahnen Samnaun AG um Landabtausch für Neubau Einstellhalle Pistenmaschinen und Personalzimmer" sowie "Verschiedenes". Auf der Einladung wurde weiter mitgeteilt, dass die Unterlagen auf der Gemeindekanzlei auflägen und der Gemeindevorstand am 22. Juli 2009, von 9.00-12.00 Uhr, für Fragen und Auskünfte zur Verfügung stehe. Am 22. Juli 2009 erhielten die Stimmberechtigten, darunter X.________, die Einladung zur Gemeindeversammlung zudem postalisch zugestellt. 
Am 29. Juli 2009 folgte die Gemeindeversammlung, an der X.________ nicht teilnahm, in allen drei Vorlagen den Anträgen von Gemeindevorstand und Gemeinderat (Parlament) und nahm sie an. 
Am 31. Juli 2009 erhob X.________ Beschwerde beim Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden mit dem Antrag, die Beschlüsse der Gemeindeversammlung vom 29. Juli 2009 für nichtig zu erklären. 
Das Verwaltungsgericht wies die Beschwerde am 27. Oktober 2009 ab. 
 
B. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt X.________, dieses verwaltungsgerichtliche Urteil aufzuheben und die Beschlüsse der Gemeindeversammlung vom 29. Juli 2009 für nichtig und ungültig zu erklären bzw. aufzuheben. Ausserdem ersucht sie, ihrer Beschwerde aufschiebende Wirkung zuzuerkennen. 
 
C. 
Das präsidierende Mitglied der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung wies das Gesuch um aufschiebende Wirkung am 18. Februar 2010 ab. 
 
D. 
Die Gemeinde Samnaun beantragt in ihrer Vernehmlassung, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. Das Verwaltungsgericht verweist auf seinen Entscheid und beantragt, sie abzuweisen. 
X.________ und die Gemeinde Samnaun halten in der Replik bzw. Duplik an ihren Standpunkten fest. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten nach Art. 82 lit. c BGG kann die Verletzung politischer Rechte geltend gemacht werden. Die Rügen, der Gemeinderat habe die von Art. 34 BV geschützte freie Willensbildung verletzt, indem er die drei Vorlagen in der Gemeindeversammlung, nicht an der Urne, zur Abstimmung gebracht und die Versammlung zu spät einberufen habe, sind zulässig. Als stimmberechtigte Einwohnerin von Samnaun ist die Beschwerdeführerin ohne Weiteres beschwerdebefugt (Art. 89 Abs. 3 BGG). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, weshalb auf die Beschwerde einzutreten ist. 
 
2. 
2.1 Nach der in Art. 34 BV verankerten Garantie der politischen Rechte hat der Stimmbürger Anspruch darauf, die ihm nach Verfassung und Gesetz zustehenden demokratischen Mitwirkungsrechte ungehindert und in vollem Umfang wahrzunehmen. Deren Ausübung in kantonalen und kommunalen Angelegenheiten wird von den Kantonen geregelt (Art. 39 Abs. 1 BV). Bei Stimmrechtsbeschwerden prüft das Bundesgericht nicht nur die Auslegung von Bundesrecht und kantonalem Verfassungsrecht frei, sondern auch diejenige anderer kantonaler Vorschriften, welche den Inhalt des Stimm- und Wahlrechts normieren oder mit diesem in engem Zusammenhang stehen (BGE 119 Ia 154 E. 2c; 118 Ia 184 E. 3; je mit Hinweisen). 
 
2.2 Die Gemeinden des Kantons Graubünden sind im Rahmen ihrer Autonomie befugt, ihre Organisation selber zu regeln (Art. 2 des Gemeindegesetzes des Kantons Graubünden vom 28. April 1974, GG). Nach Art. 15 der Gemeindeverfassung von Samnaun vom 16. April 2000 bilden die Gemeindeversammlung bzw. die Urnengemeinde, der Gemeinderat, die Gemeindevorsteherschaft und die Geschäftsprüfungskommission die ordentlichen Organe der Gemeinde. Die Stimmberechtigten in ihrer Gesamtheit bilden das oberste Organ der Gemeinde. Sie üben ihre Rechte in der Gemeindeversammlung oder an der Urnengemeinde aus (Art. 16 Abs. 1). Der Gemeinderat entscheidet bei der Beratung einer Sachvorlage, ob sie der Urnengemeinde oder der Gemeindeversammlung unterbreitet wird (Art. 16 Abs. 2). Die Gemeindeversammlung wird vom Vorstand einberufen (Art. 19 Abs. 1) und darf nur über Gegenstände beschliessen, welche auf der mindestens 10 Tage vor der Gemeindeversammlung bekanntgegebenen Traktandenliste aufgeführt sind; gleichzeitig mit der Einberufung sind die Unterlagen der traktandierten Geschäfte auf der Gemeindekanzlei zur Einsicht aufzulegen (Art. 19 Abs. 2 und 3). Bei Dringlichkeit kann die Gemeindeversammlung ohne Einhaltung der 10-tägigen Frist einberufen werden. Als Publikationsorgane der Gemeinde gelten das Schwarze Brett sowie gedruckte und elektronische Medien (Art. 14). 
 
2.3 Diese Regelung der Gemeinde Samnaun entspricht den Vorgaben der Art. 6 ff. GG. Den Gemeinden steht es danach insbesondere frei, ob sie die Stimmberechtigten ihre Rechte an der Gemeindeversammlung oder an der Urne ausüben lassen wollen (Art. 6 Abs. 1 GG). Beide Systeme haben ihre Vor- und Nachteile. Bei Gemeindeversammlungen ist die Stimmbeteiligung erfahrungsgemäss meist erheblich tiefer als bei Urnenabstimmungen, hingegen sind die demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten des Stimmberechtigten besser ausgebildet, da er die Willensbildung der Gemeindeversammlung mit Voten direkt beeinflussen und Abänderungs- oder Rückweisungsanträge stellen kann. Unter dem Gesichtspunkt der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Stimmrechts sind beide Systeme nicht zu beanstanden; Art. 16 Abs. 2 der Gemeindeverfassung, der es ins Ermessen des Gemeinderats stellt, einzelfallweise zu entscheiden, über eine Vorlage an der Gemeindeversammlung oder an der Urne abstimmen zu lassen, ist damit verfassungsrechtlich unbedenklich. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin ist es unter dem Gesichtspunkt der freien Willensbildung daher keineswegs von vornherein problematisch, anstelle einer Urnenabstimmung eine Gemeindeversammlung durchzuführen. Dass sich der Gemeinderat entschied, die vorliegenden, teilweise eher komplexen Geschäfte an die Gemeindeversammlung zu bringen, um dem Gemeindevorstand die Gelegenheit zu geben, sie zu erläutern, und den Stimmberechtigten, sie zu hinterfragen, ist sachlich vertretbar. Aus dem Versammlungsprotokoll ergibt sich denn auch, dass insbesondere über das gewichtige Traktandum 3 "Gesuch Bergbahnen Samnaun AG um Landabtausch für Neubau Einstellhalle Pistenmaschinen und Personalzimmer" eingehend debattiert wurde. Die Beschwerdeführerin vermag ihren Vorwurf, der Gemeinderat habe diese drei Geschäfte aus rechtsmissbräuchlichen Gründen der Gemeindeversammlung unterbreitet, nicht nachvollziehbar zu begründen. Insbesondere waren die Stimmberechtigten, die von der Bergbahnen Samnaun AG direkt oder indirekt wirtschaftlich abhängig sind, in beiden Fällen nicht ausstandspflichtig. Es ist daher schlechterdings nicht ersichtlich, dass deren Angestellte die Gemeindeversammlung vom 27. Juli 2009 in irgendeiner Weise unrechtmässig beeinflusst haben könnten, und es ist reine Spekulation, dass sich bei einer Urnenabstimmung ein anderes Kräfteverhältnis zwischen den Befürwortern und Gegnern der Vorlage ergeben hätte. Die Entscheidung des Gemeinderats, die drei Vorlagen an der Gemeindeversammlung und nicht an der Urne zur Abstimmung zu bringen, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. 
 
3. 
3.1 Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Gemeinde habe durch die zu kurzfristige Ansetzung der Gemeindeversammlung eine angemessene politische Auseinandersetzung verhindert und dadurch die freie Willensbildung beeinträchtigt. Der Anschlag am schwarzen Brett sei ein alter Zopf und im 21. Jahrhundert unzeitgemäss; es habe auch keine sachliche Notwendigkeit bestanden, die Gemeindeversammlung derart übereilt anzusetzen. Es sei zudem absolut unverständlich, dass der Gemeindevorstand, als er am 9. Juli 2009 vom Beschluss des Gemeinderats, eine Gemeindeversammlung durchzuführen, Kenntnis erhalten habe, ohne Grund 8 Tage abgewartet habe, bis er diesen Beschluss publiziert habe, währenddem man dem Bürger nur 7 Tage zugestehe, um die Versammlung vorzubereiten. 
 
3.2 Die Beschwerdeführerin bestreitet zu Recht nicht, dass die Gemeindebehörden die Vorschriften über die Einberufung der Gemeindeversammlung "formell" eingehalten haben. Die Gemeinde hat die Einladung zur Gemeindeversammlung vom 29. Juli 2009 unbestrittenermassen am 17. Juli 2009 an den Schwarzen Brettern und auf ihrer Homepage www.gemeindesamnaun.ch publiziert. Damit hat sie die Vorschriften der Gemeindeverfassung über die Form (Art. 14 Abs. 2) und die Frist (Art. 19 Abs. 2) der Einberufung einer Gemeindeversammlung eingehalten; diese war somit ordnungsgemäss einberufen und dementsprechend beschlussfähig (Art. 19 Abs. 5). Ob die Publikation am Schwarzen Brett und die 10-tägige Einladungsfrist den heutigen Verhältnissen angemessen sind, ist eine andere Frage, und es steht der Beschwerdeführerin frei, die Änderung der einschlägigen Regelungen der Gemeindeverfassung auf politischem Weg anzustreben. Solange diese Regelung indessen gilt, genügt ihre Einhaltung, die Gemeindebehörden sind verfassungsrechtlich nicht verpflichtet, die Einladung früher und auf anderem Weg zu publizieren (was sie im Übrigen durch postalische Zustellung ohnehin getan haben, allerdings ohne die 10-tägige Frist einzuhalten). Es lässt sich nicht im Ernst behaupten, 10 Tage seien generell zu kurz, um sich über die Geschäfte einer Gemeindeversammlung sachgerecht zu informieren und eine Meinung zu bilden. Diese wurden zudem, worauf die Gemeinde zu Recht hinweist, bereits zuvor im Gemeinderat behandelt, dessen Protokolle auf der Homepage publiziert und damit dem interessierten Stimmberechtigten zugänglich sind. Vor allem aber steht es jedem Stimmberechtigten, der sich über eine Vorlage unzureichend informiert fühlt, frei, dies an der Gemeindeversammlung kundzutun und deren Rückweisung oder Ablehnung zu verlangen. Die Rüge, die Gemeindebehörden hätten ihr Stimmrecht verletzt, weil sie sich mit der Einhaltung der 10-tägigen Frist für die Einladung begnügt und diese nicht früher verschickten, ist unbegründet. 
 
4. 
Die Beschwerde erweist sich somit als unbegründet und ist abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird die Beschwerdeführerin kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 1'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3. 
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, der Gemeinde Samnaun und dem Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, 1. Kammer als Verfassungsgericht, schriftlich mitgeteilt. 
 
Lausanne, 11. Juni 2010 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: 
 
Féraud Störi