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[AZA 7] 
U 12/02 Bl 
II. Kammer 
 
Präsident Schön, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung; Gerichtsschreiber Signorell 
Urteil vom 1. Mai 2002 
 
in Sachen 
 
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt, Fluhmatt- strasse 1, 6004 Luzern, Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
J.________, 1956, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Andres Büsser, Marktgasse 3, 9000 St. Gallen, 
und 
 
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen 
 
A.- Mit Verfügung vom 26. März 2001 sprach die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) dem 1956 geborenen J.________ mit Wirkung ab 1. März 2001 eine Invalidenrente bei einer Erwerbsunfähigkeit von 15 % sowie eine Integritätsentschädigung bei einer Integritätseinbusse von 10 % zu, woran sie im Einspracheentscheid vom 1. Juni 2001 festhielt. 
 
B.- Der Versicherte liess dagegen Beschwerde erheben mit den Anträgen auf Zusprechung einer Invalidenrente bei einer Erwerbsunfähigkeit von 100 % und einer maximalen Integritätsentschädigung. Die SUVA schloss in der Beschwerdeantwort auf Nichteintreten. Mit Zwischenentscheid vom 15. Dezember 2001 trat das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen auf die von J.________ am 31. August 2001 erhobene Beschwerde ein. 
 
C.- Die SUVA führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, der kantonale Entscheid sei aufzuheben und es sei festzustellen, dass auf die Beschwerde nicht eingetreten werden könne. 
J.________ beantragt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) verzichten auf Vernehmlassung. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
 
1.- a) Der Beschwerdegegner beantragt, auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht einzutreten. Soweit geltend gemacht werde, die Praxis, welche die Anwendung von kantonalem Recht beschlage, sei willkürlich bzw. die kantonalrechtliche Bestimmung verstosse gegen Bundesrecht, sei dies darzutun. Daran fehle es. Die Beschwerdeschrift nenne die einschlägige Vorschrift des kantonalen Rechtes nicht einmal. Es werde vielmehr eine Bundesgerichtspraxis dargestellt, die andere kantonale Regelungen und Praxen beträfe. 
 
b) Wie der Beschwerdegegner zwar richtig festhält, wird in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde keine kantonalrechtliche Bestimmung erwähnt, die verletzt worden sein soll. 
Gemäss Ingress zu Art. 108 UVG haben die Kantone das Verfahren ihrer Versicherungsgerichte zu regeln, wobei sie bestimmte Anforderungen zu beachten haben. Dies gilt namentlich für die Umschreibung der Formerfordernisse, denen eine Beschwerdeschrift an eine kantonale Rechtsmittelinstanz zu genügen hat (Art. 108 Abs. 1 lit. b UVG). Unabhängig davon, ob bei dieser Rechtslage nun kantonales oder Bundesrecht angewendet wird, kann mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde gerügt werden, ein kantonaler (Nicht)Eintretensentscheid verletze Bundesrecht. Es genügt daher, wenn der Beschwerdeführer die entsprechenden Normen des Bundesrechtes aufführt. Die Beschwerde führende SUVA rügt ausschliesslich, die Praxis des kantonalen Gerichts zur Fristansetzung verletze Art. 108 Abs. 1 lit. b UVG sowie den allgemeinen, auch im kantonalen Beschwerdeverfahren anwendbaren Prozessgrundsatz des Verbots des Rechtsmissbrauchs. Damit setzte sich die SUVA einlässlich auseinander. Es ist deshalb auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde einzutreten. 
 
2.- Da es sich bei der angefochtenen Verfügung nicht um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, hat das Eidgenössische Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG). 
 
3.- Nach Art. 108 Abs. 1 lit. b UVG muss die bei der kantonalen Rekursbehörde eingereichte Beschwerde eine gedrängte Darstellung des Sachverhalts, ein Rechtsbegehren und eine kurze Begründung enthalten. Genügt die Beschwerde diesen Anforderungen nicht, so setzt die Rekursbehörde dem Beschwerdeführer eine angemessene Frist zur Verbesserung und verbindet damit die Androhung, dass sonst auf die Beschwerde nicht eingetreten werde. 
Im Gegensatz zum letztinstanzlichen Verfahren, in welchem gemäss Art. 108 Abs. 3 OG eine nachträgliche Verbesserungsmöglichkeit der Beschwerde nur bei Unklarheit von Begehren oder Begründung vorgesehen ist, hat im erstinstanzlichen Verfahren die Fristansetzung zur Verbesserung der Beschwerde ganz allgemein immer dann zu erfolgen, wenn die Beschwerde den in Art. 108 Abs. 1 lit. b UVG genannten gesetzlichen Anforderungen nicht genügt; also auch dann, wenn es an Begehren oder Begründung gänzlich mangelt. Es handelt sich bei der erwähnten Bestimmung um eine formelle Vorschrift, die den erstinstanzlichen Richter - ausser in Fällen von offensichtlichem Rechtsmissbrauch - verpflichtet, eine Frist zur Verbesserung der Mängel anzusetzen (BGE 119 V 266 Erw. 2a mit Hinweisen). 
 
4.- Die SUVA wies die Einsprache gegen ihre Verfügung vom 26. März 2001 mit Entscheid vom 1. Juni 2001 ab. Der Rechtsvertreter des Versicherten reichte am 31. August 2001 beim Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen eine Klage (Beschwerde) ein mit den Anträgen, es sei der Einspracheentscheid aufzuheben und dem Versicherten eine 100%ige Rente ab gesetzlichem Termin zuzusprechen; sodann sei ihm eine maximale Integritätsentschädigung für den Funktionsverlust des rechten Armes (Arbeitsarm) auszurichten. Unter dem Zwischentitel "II. Formelles" wird für "die allfällige Ergänzung der Rechtsbegehren sowie für Sachverhaltsdarstellung und Begründung" um Ansetzung einer Frist ersucht. Aufgrund ferienbedingter Abwesenheiten des Rechtsvertreters und des Arztes seien eine Instruktion und vollständige Unterlagenbeschaffung bislang noch nicht möglich gewesen. Der Verlaufsbericht des behandelnden Arztes sei, obwohl am 23. Ju- li 2001 angefordert, erst am 31. August 2001 eingetroffen. Die Krankengeschichte stehe immer noch aus. Sollte der Fristansetzung etwas entgegenstehen, so werde um telefonische Mitteilung vor Ablauf der Rechtsmittelfrist gebeten. Innert erstreckter Frist reichte der Beschwerdeführer am 5. Oktober 2001 seine begründete Klage (Beschwerde) ein. Mit Klage(Beschwerde)antwort vom 8. November 2001 schloss die SUVA im Hauptstandpunkt auf Nichteintreten auf die Beschwerde. Nachdem sie auf Anfrage des Gerichtes hin am Begehren auf förmlichen Entscheid über die Eintretensfrage festgehalten hatte, trat das Gericht mit Zwischenentscheid vom 15. Dezember 2001 auf die Beschwerde ein. 
 
5.- a) Im Gegensatz zum letztinstanzlichen Verfahren hat im erstinstanzlichen Verfahren eine Nachfristansetzung zur Verbesserung der Beschwerde ganz allgemein immer dann zu erfolgen, wenn sie den gesetzlichen Anforderungen nicht genügt (BGE 119 V 265 Erw. 2a mit Hinweis). Nach der Rechtsprechung hat eine Nachfristansetzung im Falle von offensichtlichem Rechtsmissbrauch zu unterbleiben (RKUV 1988 Nr. U 34 S. 34 Erw. 2a mit Hinweisen). Auf einen solchen Missbrauch läuft es hinaus, wenn ein Anwalt eine bewusst mangelhafte Rechtsschrift einreicht, um sich damit eine Nachfrist für die Begründung zu erwirken. Satz 1 von Art. 108 Abs. 1 lit. b UVG würde wirkungslos, wenn sich jeder Beschwerdeführer dadurch, dass er die Beschwerde ohne Begründung einreicht, über die Nachfrist von Satz 2 eine zusätzliche Begründungsfrist erwirken könnte. Insbesondere derjenige Beschwerdeführer kann nicht die Nachfrist beanspruchen, welcher die Erfordernisse von Art. 108 Abs. 1 lit. b Satz 1 UVG bewusst nicht erfüllt in der Absicht, sich auf Satz 2 berufen zu können. 
 
b) Die Vorinstanz erwog, die Eingabe vom 31. August 2001 enthalte einen Antrag in der Hauptsache und eine Begründung des prozessualen Antrages. Nach langjähriger Praxis zu Art. 48 des (kantonalen) Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege vom 16. Mai 1965 (VRG/SG) genüge eine solche Beschwerdeschrift den gesetzlichen Minimalanforderungen. 
 
Die Beschwerde führende SUVA rügt zusammengefasst, das Verhalten des Rechtsvertreters des Versicherten sei rechtsmissbräuchlich, weshalb das kantonale Gericht auf das Rechtsmittel nicht hätte eintreten dürfen. Dem stehe die langjährige Praxis der st. gallischen Gerichte und Verwaltungsbehörden nicht entgegen, da es am Eidgenössischen Versicherungsgericht liege, dem Bundesrecht zum Durchbruch zu verhelfen. 
Der Beschwerdegegner hält dem entgegen, dass vorliegend eben gerade nicht eine ungenügende Rechtsschrift eingereicht worden sei, da diese den bekannten Anforderungen des kantonalen Rechts und dessen Auslegung durch Gerichte und Verwaltung genüge. Ein Nichteintreten wäre zudem mit dem Grundsatz des Vertrauensschutzes unvereinbar und unverhältnismässig. 
 
c) Die Rechtsmittelfrist beträgt gegen Einspracheentscheide des Unfallversicherers über Versicherungsleistungen drei Monate (Art. 106 Abs. 1 UVG). Als gesetzliche Frist kann diese grundsätzlich nicht verlängert werden. Die Anwendung der Verfahrensbestimmung des Art. 108 Abs. 1 lit. b UVG durch das kantonale Verfahrensrecht darf nun nicht dazu führen, dass die Rechtsmittelfrist auf dem Auslegungsweg praktisch allgemein verlängert wird. Die Nachfristansetzung ist eine Ausnahmeregelung. Die hier zur Prüfung gestellte kantonale Praxis läuft indessen darauf hinaus, den Ausnahmefall zum Regelfall zu machen. Gemäss den Erwägungen des kantonalen Gerichts werden nämlich Eingaben, die zwar einen Antrag in der Hauptsache, jedoch nur eine Begründung des prozessualen Begehrens (Fristgewährung) enthalten, nach langjähriger, von Gerichten und Verwaltung im Kanton St. Gallen allgemein akzeptierter Praxis als vorsorgliche Anhängigmachung einer Klage (Beschwerde) akzeptiert. Eine solche Praxis, mit welcher eine Fristverlängerung als Regel gilt, unterläuft die bundesrechtliche Beschwerdefrist gemäss Art. 106 Abs. 1 UVG systematisch und ist daher bundesrechtswidrig. 
 
Eine Beschwerde genügt dann den gesetzlichen Anforderungen, wenn sie wenigstens einen Antrag und dessen summarische Begründung enthält. Die Eingabe vom 31. August 2001 vermag diesen Minimalanforderungen zweifellos nicht zu genügen. Das kantonale Gericht war daher im Sinne der Rechtsprechung im Grundsatz verpflichtet, eine Frist zur Verbesserung anzusetzen, es sei denn, es läge ein Rechtsmissbrauch vor. 
 
d) Nachdem die anzufechtende Verfügung am 26. März 2001 ergangen war, betraute der Versicherte am 18. April 2001 einen Rechtsanwalt mit der Interessenwahrung. Dieser ersuchte die SUVA noch am gleichen Tag um Aktenzustellung, welche dem Begehren umgehend entsprochen hatte. In Kenntnis des gesamten Dossiers verfasste der Rechtsvertreter am 25. April 2001 eine Einsprache, welche - ohne dass weitere Abklärungen getroffen worden wären - mit Entscheid vom 1. Juni 2001 jedoch abgewiesen wurde. Bei Ablauf der Rechtsmittelfrist kannte der Rechtsvertreter nicht nur die vollständigen Akten, sondern hatte auch weiteres Wissen aus dem Instruktionsgespräch anlässlich der Einspracheerstellung. Die Argumentation der SUVA war ihm aus dem Einspracheentscheid bekannt. Mit diesem Wissen wäre es möglich und zumutbar gewesen, innert der dreimonatigen Rechtsmittelfrist mindestens eine summarische Beschwerdebegründung, was nach der Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts genügt, abzugeben. 
Mit der Beschwerde führenden SUVA ist davon auszugehen, dass der Rechtsvertreter des Versicherten bewusst eine unvollständige Eingabe machte, um in den Genuss einer Nachfrist im Sinne von Art. 108 Abs. 1 lit. b Satz 2 UVG (bzw. von Art. 48 Abs. 2 VRG/SG) gelangen zu können. Dass der Rechtsvertreter sich bewusst war, dass seine Eingabe den Anforderungen von Art. 108 Abs. 1 lit. b Satz 1 UVG (und jenen von Art. 48 Abs. 1 VRG/SG) nicht genügt, ergibt sich schon daraus, dass er sich überhaupt um eine Fristansetzung zur Ergänzung der Anträge und zur Begründung bemühte und darüber hinaus um telefonische Benachrichtigung innerhalb der Rechtsmittelfrist ersuchte, wenn dem Begehren nicht entsprochen werden könnte. Ein solches Vorgehen ist rechtsmissbräuchlich im Sinne der genannten Rechtsprechung. Was der Beschwerdegegner dagegen vorbringt, ist unbehelflich. Namentlich beruft er sich zu Unrecht auf den Vertrauensgrundsatz. Dieser stünde dann zur Diskussion, wenn das kantonale Gericht auf seine langjährige Praxis der Fristansetzung zurückgekommen wäre, was vorliegend gerade nicht der Fall ist. Eine kantonale Gerichts- oder Verwaltungspraxis kann das Eidg. Versicherungsgericht indessen auch unter dem Gesichtswinkel des Vertrauensschutzes nicht binden. Denn es ist seine elementare Aufgabe, eine bundesrechtskonforme Rechtsanwendung durch die kantonalen Behörden sicherzustellen. 
 
6.- Da es nicht um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen geht, ist das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 134 OG e contrario; Art. 135 in Verbindung mit Art. 156 OG). 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
 
I.In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird 
der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons 
St. Gallen vom 15. Dezember 2001 aufgehoben. 
 
II.Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner 
auferlegt. 
 
III.Der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt wird 
der von ihr geleistete Kostenvorschuss von Fr. 500.- 
rückerstattet. 
 
IV.Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht 
des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für 
Sozialversicherung zugestellt. 
 
Luzern, 1. Mai 2002 
 
Im Namen des 
Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Der Präsident der II. Kammer: 
 
Der Gerichtsschreiber: