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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1B_200/2012 
 
Urteil vom 20. April 2012 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident, 
Bundesrichter Raselli, Merkli, 
Gerichtsschreiber Störi. 
 
Verfahrensbeteiligte 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Advokat Dr. Nicolas Roulet, 
 
gegen 
 
Y.________, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Advokatin Susanne Bertschi, 
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt, Binningerstrasse 21, Postfach, 4001 Basel. 
 
Gegenstand 
Entlassung aus dem vorläufigen Strafvollzug, 
 
Beschwerde gegen das Urteil vom 23. Februar 2012 
des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt, Ausschuss. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
Das Strafgericht des Kantons Basel-Stadt verurteilte X.________ am 30. März 2011 wegen mehrfacher Vergewaltigung, sexueller Nötigung, mehrfacher einfacher Körperverletzung, mehrfacher versuchter Nötigung, mehrfacher Drohung und mehrfachen Tätlichkeiten zu sechs Jahren Freiheitsstrafe und einer Busse von Fr. 600.--, teilweise als Zusatzstrafe zu den Urteilen des Bezirksstatthalteramts Arlesheim vom 28. Januar 2008 und des Strafgerichts Basel-Stadt vom 10. März 2010. Es erklärte zudem die in diesen beiden Urteilen bedingt ausgesprochenen Strafen (20 Tagessätze Geldstrafe à Fr. 20.-- wegen grober Verkehrsregelverletzung und zwei Jahre Freiheitsstrafe wegen mehrfacher Vergewaltigung, sexueller Nötigung und Tätlichkeiten) für vollziehbar. Es hielt für erwiesen, dass X.________ seine Ehefrau Z.________ zwischen ca. August 2004 und ca. Ende 2006 mehrfach misshandelt und Y.________, mit der er ab November 2009 ein (auch intimes) Verhältnis hatte, durch Drohungen und Gewalt fünfmal zum Geschlechtsverkehr gezwungen hatte. Das Strafgericht nahm X.________ in Sicherheitshaft. 
Am 19. Juli 2011 bewilligte die Präsidentin des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt X.________ den vorzeitigen Strafantritt. 
Am 19. Januar 2012 stellte X.________ ein Haftentlassungsgesuch. Er legte die Übersetzungen verschiedener SMS, die ihm von Y.________ zugeschickt worden seien und aus denen hervorgehe, dass die angeblichen Vergewaltigungen nicht stattgefunden haben könnten, ins Recht. 
Am 23. Februar 2012 wies die Präsidentin des Appellationsgerichts das Haftentlassungsgesuch ab. 
 
B. 
Mit Beschwerde in Strafsachen vom 2. April 2012 beantragt X.________, diesen Entscheid der Appellationsgerichtspräsidentin aufzuheben und ihn unverzüglich aus der Haft zu entlassen. Ausserdem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. 
 
C. 
Das Appellationsgericht und die Staatsanwaltschaft beantragen in ihren Vernehmlassungen, die Beschwerde abzuweisen. Y.________ beantragt, die Beschwerde abzuweisen; für den Fall einer Haftentlassung sei X.________ zu untersagen, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Ausserdem ersucht sie um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. 
 
D. 
X.________ hält in seiner Replik an der Beschwerde fest. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
Angefochten ist der kantonal letztinstanzliche Haftentscheid der Appellationsgerichtspräsidentin. Dagegen ist die Beschwerde in Strafsachen nach den Art. 78 ff. BGG gegeben. Der Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Entscheids und Haftentlassung ist zulässig (BGE 132 I 21 E. 1). Der Beschwerdeführer ist durch die Verweigerung der Haftentlassung in seinen rechtlich geschützten Interessen betroffen und damit zur Beschwerde befugt (Art. 81 Abs. 1 BGG). Er macht die Verletzung von Bundesrecht geltend, was zulässig ist (Art. 95 lit. a BGG). Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass auf die Beschwerde eingetreten werden kann. 
 
2. 
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Beschleunigungsgebots. Nach Art. 233 StPO habe die Verfahrensleitung des Berufungsgerichts innert 5 Tagen über ein Haftentlassungsgesuch zu entscheiden, was nicht geschehen sei. 
 
2.1 Nach Art. 233 StPO hat die Verfahrensleitung des Berufungsgerichts innert 5 Tagen über ein Haftentlassungsgesuch zu entscheiden. Diese Bestimmung ist nach der Rechtsprechung auch anwendbar, wenn sich der Betroffene im vorzeitigen Strafvollzug befindet (vgl. BGE 133 I 270 E. 3.2.1). Wird das Verfahren schriftlich geführt, was regelmässig der Fall ist (BGE 137 IV 186 E. 3), beginnt die 5-Tagesfrist mit dem Abschluss des Schriftenwechsels zu laufen. Das setzt allerdings voraus, dass, unter Berücksichtigung der Schwierigkeiten der sich stellenden Rechts- und Tatfragen, möglichst kurze Vernehmlassungsfristen gesetzt werden (Urteil 1B_722/2011 vom 16. Januar 2012 E. 4.3). 
 
2.2 Nach dem angefochtenen Urteil datiert das Haftentlassungsgesuch vom 18. Januar 2012, die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft vom 7. Februar 2012 und diejenige des Opfers vom 16. Februar 2012. Der Beschwerdeführer replizierte am 16. und am 21. Februar 2012. Der angefochtene Entscheid erging am 23. Februar 2012. Nach den Ausführungen des Appellationsgerichts in der Vernehmlassung hat es der Staatsanwaltschaft und der Privatklägerin zunächst eine Vernehmlassungsfrist von 16 Tagen angesetzt, weil der Beschwerdeführer neue Übersetzungen ins Recht gelegt habe, deren Überprüfung es den Parteien habe ermöglichen müssen. Der Privatklägerin habe es eine kurze Nachfrist gewährt, damit die Rechtsvertreterin mit ihrer Klientin habe Rücksprache nehmen können. Der Beschwerdeführer habe dann seine Replikfrist nicht ausgenützt und bereits am 21. Februar 2012 repliziert. Es habe daraufhin am 23. Februar 2012 entschieden und das Urteil am 28. Februar 2012 versandt. Angesichts der Komplexität des Falles und der Schwere der sich stellenden Tat- und Rechtsfragen seien die angesetzten Fristen keineswegs überlang gewesen. 
 
2.3 Der Gesetzgeber verlangt, dass Haftentlassungsgesuche mit besonderer Beschleunigung beurteilt werden. Die Einhaltung der 5-Tagesfrist von Art. 233 StPO ist zwar im schriftlichen Verfahren, in welchem dem Gesuchsteller in jedem Fall das Recht eingeräumt werden muss, auf alle gegnerischen Vernehmlassungen zu replizieren, unmöglich. Sie beginnt daher nach der Praxis erst mit dem Abschluss des Schriftenwechsels zu laufen. Die Vernehmlassungsfristen müssen aber nach diesem vom Gesetzgeber vorgegebenen strengen Massstab bemessen werden. Die Ansetzung einer Vernehmlassungsfrist von 16 Tagen in einem Verfahren, dass nach dem gesetzgeberischen Willen innert 5 Tagen abgeschlossen sein soll, ist offensichtlich nicht vertretbar. Im Haftprüfungsverfahren sind denn entgegen der Auffassung des Appellationsgerichts auch keine zeitraubenden Abklärungen - hier etwa die Überprüfung der privaten Übersetzung der SMS durch einen amtlichen Übersetzer - zu treffen, sondern es ist nur anhand der liquiden Beweislage zu prüfen, ob der dringende Tatverdacht (noch) besteht. Es ist den mit dem Prozessstoff vertrauten Beteiligten daher zuzumuten, sich dazu innert kurzer Frist - innert einiger Tage - zu äussern. Das Appellationsgericht hat dementsprechend zu lange Vernehmlassungsfristen angesetzt und das Beschleunigungsgebot verletzt. Es hat aber die 5-Tagesfrist von Art. 233 StPO auch direkt verletzt, indem es zwar am 23. Februar 2012, d.h. am ersten oder zweiten Tag nach Eingang der Replik des Beschwerdeführers entschied, das Urteil indessen erst am 28. Februar 2012 und damit mehr als fünf Tage nach Ablauf des Schriftenwechsels zustellte. Für die Fristwahrung ist selbstredend auf das Eröffnungs- nicht das Entscheiddatum abzustellen, da der Entscheid im schriftlichen Verfahren erst mit der Zustellung Rechtswirkungen nach aussen entfaltet. Die Beschwerde ist in diesem Punkt begründet. Damit ist die Verletzung des Beschleunigungsgebots im Dispositiv festzustellen. Diese wiegt indessen nicht besonders schwer und ist mit einer für den Beschwerdeführer vorteilhaften Kostenregelung zu sanktionieren; eine Haftentlassung aus diesem Grund fällt vorliegend ausser Betracht (BGE 137 IV 92 E. 3.1 und 3.2.3; 118 E. 2.2). 
 
3. 
Sicherheitshaft kann unter anderem angeordnet werden, wenn ein dringender Tatverdacht in Bezug auf ein Verbrechen oder Vergehen sowie Flucht-, Kollusions- oder Wiederholungsgefahr besteht (Art. 221 Abs. 1 StPO). Für die Appellationsgerichtspräsidentin ist der dringende Tatverdacht gegeben, und es besteht sowohl Flucht- als auch Kollusionsgefahr. Der Beschwerdeführer bestreitet in der Sache einzig, dass gegen ihn ein dringender Tatverdacht bestehe. 
Der dringende Tatverdacht ist indessen durch das erstinstanzliche Urteil erstellt. Was der Beschwerdeführer vorbringt, vermag ihn nicht zu zerstreuen. Die fraglichen SMS waren Bestandteil der Untersuchungsakten, was die Frage aufwirft, weshalb er sich nicht bereits im erstinstanzlichen Verfahren zu seiner Verteidigung auf sie berief, obwohl ihm als Adressat der SMS deren Inhalt bekannt gewesen sein musste. Vor allem aber liegen sie nur in einer privaten Übersetzung vor, deren Zuverlässigkeit nicht feststeht. Sie sind bereits deshalb nicht geeignet, den dringenden Tatverdacht zu entkräften. Dazu kommt, dass es bei Beziehungsdelikten nicht von vorneherein auszuschliessen ist, dass das Opfer auch nach gewalttätigen sexuellen Übergriffen ambivalente Gefühle gegenüber dem Täter hegt und sich in einer Weise an ihn wendet, wie man sie an sich nur in einer intakten, harmonischen Beziehung erwarten würde. 
Damit ergibt sich zusammenfassend, dass der dringende Tatverdacht weiterhin fortbesteht. Ob die SMS (in amtlicher Übersetzung) allenfalls im Rahmen der abschliessenden Beweiswürdigung erhebliche Zweifel an der Schuld des Beschwerdeführers erwecken können, ist eine andere, im Berufungsverfahren zu klärende Frage. 
 
4. 
Damit ist die Beschwerde teilweise gutzuheissen, und es ist festzustellen, das die Vorinstanz das strafprozessuale Beschleunigungsgebot verletzt hat. Im Übrigen ist sie abzuweisen. Nach den Ausführungen in E. 2.3 sind keine Gerichtskosten zu erheben, und der Kanton Basel-Stadt hat dem Beschwerdeführer bzw. dessen Rechtsvertreter eine angemessene Entschädigung zu bezahlen. Damit wird sein für den Fall des Unterliegens gestellte Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gegenstandslos. Das Gesuch der Beschwerdegegnerin um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ist gutzuheissen, da ihre Bedürftigkeit ausgewiesen scheint. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen, und es wird festgestellt, dass das Appellationsgericht das strafprozessuale Beschleunigungsgebot gemäss Art. 233 StPO verletzt hat. Im Übrigen wird sie abgewiesen. 
 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3. 
Der Kanton Basel Stadt hat Advokat Nicolas Roulet, Basel, für das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 2'000.-- zu bezahlen. 
 
4. 
Das Gesuch der Beschwerdegegnerin um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen. Advokatin Susanne Bertschi, Basel, wird mit Fr. 1'500.-- aus der Bundesgerichtskasse entschädigt. 
 
5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt und dem Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt, Ausschuss, schriftlich mitgeteilt. 
 
Lausanne, 20. April 2012 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Fonjallaz 
 
Der Gerichtsschreiber: Störi