Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
9C_346/2010 
 
Urteil vom 6. August 2010 
II. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Borella, präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber, 
Gerichtsschreiber Schmutz. 
 
Verfahrensbeteiligte 
W._________, 
handelnd durch G.________, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Alters- und Hinterlassenenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 25. März 2010. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
W._________, geboren 1924, bezieht eine Altersrente der AHV. Seit dem 4. August 2004 lebt sie im Zentrum X.________ in Y.________. Am 22. September 2009 meldete sie sich zum Bezug einer Hilflosenentschädigung der AHV bei der Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen (SVA, Ausgleichskasse) an. Die SVA traf Abklärungen (Bericht vom 14. November 2009) und verfügte am 3. Dezember 2009, W._________ habe ab 1. März 2009 Anspruch auf Entschädigung bei einer Hilflosigkeit mittleren Grades. Sie ging davon aus, dass die Versicherte in allen alltäglichen Lebensverrichtungen ausser beim Essen auf Dritthilfe angewiesen ist. Hiegegen liess W._________, vertreten durch ihren Sohn, Einsprache erheben. Sie machte geltend, sie sei auch beim Essen als sechster alltäglicher Lebensverrichtung auf regelmässige und erhebliche Hilfe angewiesen. Mit Einspracheentscheid vom 1. Februar 2010 bestätigte die Ausgleichskasse ihre Verfügung. 
 
B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 25. März 2010 ab. 
 
C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt W._________ beantragen, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und es sei ihr ab 1. Juli 2009 eine Hilflosenentschädigung schweren Grades zuzusprechen; eventualiter sei die Sache zu weiteren Abklärungen zurückzuweisen. 
Vorinstanz, Ausgleichskasse und Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf Vernehmlassung. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen oder auf Rüge hin (Art. 97 Abs. 1 BGG) berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht, wozu auch die unvollständige Tatsachenermittlung zählt (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG). Die gesetzliche Kognitionsbeschränkung in tatsächlicher Hinsicht gilt namentlich für die Einschätzung der gesundheitlichen und leistungsmässigen Verhältnisse (Art. 6 ATSG). So beschlagen die richtige Auslegung und Anwendung des Rechtsbegriffs der Hilflosigkeit sowie der Anforderungen an den Beweiswert von Abklärungsberichten an Ort und Stelle (Art. 69 Abs. 2 IVV; BGE 133 V 450 E. 11.1.1 S. 468) Rechtsfragen, die vom Bundesgericht frei zu prüfen sind (Art. 95 lit. a BGG). Die auf einen rechtsgenüglichen Abklärungsbericht an Ort und Stelle gestützten Feststellungen über Einschränkungen in bestimmten Lebensverrichtungen sind demgegenüber Sachverhaltsfeststellungen. 
 
2. 
2.1 Die Vorinstanz hat die Grundlagen über die Hilflosigkeit (Art. 9 ATSG; BGE 133 V 450 E. 2.2.1 S. 454), den Anspruch auf Hilflosenentschädigung und die für deren Höhe wesentliche Unterscheidung dreier Hilflosigkeitsgrade (Art. 43bis Abs. 5 AHVG; Art. 42 Abs. 1-3 IVG; Art. 37 IVV), insbesondere die mittelschwere Hilflosigkeit (Art. 37 Abs. 2 IVV; BGE 121 V 88 E. 3b S. 90), die massgebenden sechs alltäglichen Lebensverrichtungen (Ankleiden, Auskleiden; Aufstehen, Absitzen, Abliegen; Essen; Körperpflege; Verrichtung der Notdurft; Fortbewegung [im oder ausser Haus], Kontaktaufnahme), zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. 
 
2.2 Gemäss Art. 37 Abs. 1 IVV gilt die Hilflosigkeit als schwer, wenn die versicherte Person vollständig hilflos ist. Dies ist der Fall, wenn sie in allen alltäglichen Lebensverrichtungen (oben E. 2.1) regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen ist und überdies der dauernden Pflege oder der persönlichen Überwachung bedarf. Nach Art. 37 Abs. 2 IVV gilt die Hilflosigkeit als mittelschwer, wenn die versicherte Person trotz der Abgabe von Hilfsmitteln in den meisten alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen ist (lit. a), wenn sie in mindestens zwei alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen ist und überdies einer dauernden persönlichen Überwachung bedarf (lit. b) oder wenn sie in mindestens zwei alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter und überdies dauernd auf lebenspraktische Begleitung angewiesen ist (lit. c). 
 
3. 
In Frage steht, ob die Versicherte Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung nicht nur mittleren, sondern schweren Grades hat; dabei ist umstritten, ob sie auch beim Essen als sechster alltäglicher Lebensverrichtung auf regelmässige erhebliche Hilfe angewiesen ist. Nach der Rechtsprechung (ULRICH MEYER, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung, 2. Aufl., 2010, S. 434 f.) ist bei massgeblichen Lebensverrichtungen, welche mehrere Teilfunktionen umfassen, nicht verlangt, dass die versicherte Person bei allen oder bei der Mehrzahl dieser Teilfunktionen fremder Hilfe bedarf; vielmehr ist bloss erforderlich, dass sie bei einer dieser Teilfunktionen regelmässig in erheblicher Weise auf direkte oder indirekte Dritthilfe angewiesen ist (BGE 117 V 146 E. 2 S. 148 mit Hinweisen). Beispielsweise liegt schon eine relevante Hilfsbedürftigkeit vor beim Essen, wenn Versicherte zwar selber essen, die Speisen aber nicht zerkleinern können (BGE 106 V 153 E. 2b S. 158). Zur Lebensverrichtung Essen gehört als Teilfunktion auch das Trinken (Pra 1991 Nr. 194 S. 830). Das Bringen einer der drei Hauptmahlzeiten ans Bett ist eine erhebliche Dritthilfe bei der Lebensverrichtung Essen, wenn diese Hilfe wegen des gesundheitlichen Zustandes objektiv als notwendig erscheint (ZAK 1985 S. 401). Für die Bemessung der Hilflosigkeit dürfen die Teilfunktionen einer Lebensverrichtung, für welche der Versicherte bei mehreren Verrichtungen der Hilfe Dritter bedarf, grundsätzlich nur einmal berücksichtigt werden. So ist beispielsweise die beim Essen erforderliche Hilfe, damit sich der Versicherte an den Tisch setzen und von ihm weggehen kann, im Rahmen dieser Lebensverrichtung des Essens unbeachtlich; denn es handelt sich dabei um eine Hilfeleistung, welche schon bei der anderen Lebensverrichtung des Aufstehens, Absitzens und Abliegens berücksichtigt wird (ZAK 1983 S. 72). 
 
4. 
Laut dem Bericht zur Abklärung der Hilflosigkeit vom 14. November 2009 bedarf die Beschwerdeführerin beim Essen nicht der regelmässigen erheblichen Hilfe. Sie ist in dieser Verrichtung mehrheitlich selbstständig und in der Lage, mit Löffel oder Gabel eigenständig zu essen. Auch die Handhabung des Messers funktioniert noch. Sie setzt es regelmässig für das Streichen eines Butterbrotes ein. Auch weiche Nahrung kann sie selbstständig zerkleinern. Zum Trinken muss sie aufgefordert werden, sie kann es aber selbstständig tun. 
 
4.1 Die Vorinstanz hat die Erheblichkeit der grundsätzlich notwendigen Dritthilfe beim Essen im Wesentlichen mit der Begründung verneint, auch die krankheitsbedingte Unfähigkeit der Beschwerdeführerin, mit dem Messer harte oder zähe Speisen zu zerkleinern, schaffe keinen regelmässigen und erheblichen Bedarf nach Hilfe. Es sei ihr zumutbar, nicht täglich solche Speisen zu sich zu nehmen, sondern zur Vermeidung der Hilflosigkeit auf leicht zu zerkleinernde Gerichte auszuweichen. Die Notwendigkeit, die Versicherte immer wieder zum Trinken aufzufordern, sei zwar dauernd vorhanden, aber die entsprechende Hilfe sei nicht erheblich, weil es sich bei der täglichen Versorgung mit Getränken um eine selbstverständliche, in das Betreuungssystem integrierte Aufgabe aller Personen handle, die betagte Menschen betreuen. 
 
4.2 Die Beschwerdeführerin hält dagegen, dass sie für eine rechtzeitige Einnahme des Frühstücks im Speisesaal aufgrund der körperlichen Behinderung und des damit verbundenen zeitlichen Mehraufwandes zu Unzeiten früh geweckt werden müsste. Diesem Zustand werde damit begegnet, dass das Frühstück ins Zimmer gebracht werde. Der Essensalltag sei durch die Unfähigkeit, feste Speisen selbstständig zu zerkleinern, erheblich eingeschränkt; objektiv gesehen sei für die Erfüllung normaler Essenswünsche eine regelmässige und erhebliche Dritthilfe notwendig. Sie verweist auf Rz 8018 des Kreisschreibens über Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung (KSIH), wonach Hilflosigkeit vorliegt, wenn die versicherte Person ohne Hilfe Dritter keine normal zubereitete Nahrung zu sich nehmen kann, ferner, wenn sie zwar selber essen, die Speisen aber nicht zerkleinern oder nur püriert essen kann oder wenn sie die Speisen nur mit den Fingern zum Munde führen kann. Die Beschwerdeführerin macht zudem erneut geltend, vor allem bedingt durch ihre Demenzerkrankung trinke sie nur, wenn sie dazu aufgefordert werde. 
 
5. 
Im Lichte der immer noch richtungsweisenden Rechtsprechung von BGE 106 V 153 E. 2b S. 158 (oben E. 3) handelt es sich hier zwar fraglos um einen Grenzfall; denn die Beschwerdeführerin kann gewisse Speisen nicht mehr selber zerkleinern und muss regelmässig zum Trinken aufgefordert werden. Anderseits war sie jedoch im wesentlichen Zeitraum bis zum Einspracheentscheid am 1. Februar 2010 noch in der Lage, mit Löffel und Gabel zu essen und eingeschränkt auch mit dem Messer zu hantieren. Ebenso konnte sie noch selber trinken. Die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz zu Einschränkungen bei der Lebensverrichtung Essen (und Trinken) erweisen sich damit weder als offensichtlich unrichtig, noch beruhen sie auf einer Rechtsverletzung (oben E. 1). Das Frühstück wird der Beschwerdeführerin nicht ans Bett gebracht, sondern ins Zimmer, wo sie es am Tisch einnimmt. Deshalb ist KSIH Rz 8018 wonach Hilflosigkeit vorliegt, wenn aufgrund des Gesundheitszustandes - objektiv betrachtet - eine der drei Hauptmahlzeiten ans Bett gebracht werden muss (ZAK 1985 S. 401), nicht gegeben. Dass sich die Beschwerdeführerin am Morgen nicht rechtzeitig im Speisesaal an den Tisch setzen kann, wird durch die Bejahung der Hilflosigkeit in der Lebensverrichtung "Fortbewegung" bereits berücksichtigt. Ob, wie von der Beschwerdeführerin vorgebracht, eine dauernde Pflegebedürftigkeit gegeben ist - sie macht es im Zusammenhang mit der Medikamenteneinnahme geltend - kann offen bleiben, denn die Beantwortung dieser Frage ist nur im Kontext einer schweren Hilflosigkeit von Relevanz (oben E. 2.2). Da die Beschwerdeführerin in fünf und somit nicht in allen sechs alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen ist, hat die Vorinstanz mit Recht die Zusprechung einer Entschädigung bei Hilflosigkeit mittleren Grades bestätigt. 
 
6. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
Luzern, 6. August 2010 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Das präsidierende Mitglied: Der Gerichtsschreiber: 
 
Borella Schmutz