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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
9C_930/2015  
   
   
 
 
 
Urteil vom 22. März 2016  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin, 
Bundesrichterinnen Pfiffner, Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiberin Dormann. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Bundesamt für Sozialversicherungen BSV, Effingerstrasse 20, 3003 Bern, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
A.________, 
handelnd durch ihren Vater, und dieser 
vertreten durch den Rechtsdienst Inclusion Handicap, 
Beschwerdegegnerin, 
 
IV-Stelle des Kantons Zürich, 
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich 
vom 12. November 2015. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Die am 22. Mai 1995 geborene A.________ bezieht wegen einer seit Geburt bestehenden schweren Mehrfachbehinderung u.a. eine Hilflosenentschädigung (Hilflosigkeit schweren Grades) der Invalidenversicherung; bis zu ihrer Volljährigkeit wurde ihr dazu ein Intensivpflegezuschlag (Betreuungsaufwand von über acht Stunden pro Tag) ausgerichtet. Im Januar 2013 ersuchte ihr Vater für sie um einen Assistenzbeitrag. Nach Abklärungen und Durchführung des Vorbescheidverfahrens sprach ihr die IV-Stelle des Kantons Zürich mit Verfügung vom 12. Juni 2013 einen Assistenzbeitrag von monatlich durchschnittlich Fr. 7'242.70 und jährlich maximal Fr. 79'669.70 ab 21. Januar 2013 zu, wobei sie im Bereich "Persönliche Überwachung" einen Bedarf der Stufe 2 gemäss dem standardisierten Abklärungsinstrument FAKT2 (nachfolgend: FAKT2) berücksichtigte.  
Mit Entscheid vom 5. September 2014 hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich die dagegen erhobene Beschwerde der Versicherten gut und änderte die Verfügung vom 12. Juni 2013 insofern ab, als es ihr einen zusätzlichen Assistenzbeitrag für die Überwachung während des Tages im Umfang von 120 (statt 30) Stunden monatlich ab 1. Januar 2013 zusprach (Dispositiv-Ziff. 1). Dabei anerkannte es die höchste Bedarfsstufe 4; zudem führte es aus, der Überwachungsbedarf betrage monatlich 243 Stunden, was weit über dem Höchstansatz (gemäss Art. 39e Abs. 2 lit. c IVV) von 120 Stunden pro Monat liege. Die Beschwerde der IV-Stelle gegen diesen kantonalen Entscheid vom 5. September 2014 wies das Bundesgericht mit Urteil 9C_755/2014 vom 13. Mai 2015 ab. 
 
A.b. Daraufhin sprach die IV-Stelle der Versicherten - in "Umsetzung des Bundesgerichtsurteils vom 15. (recte: 13.) Mai 2015" und unter "Anerkennung der Überwachung der Stufe 4" - mit Verfügung vom 4. Juni 2015 einen Assistenzbeitrag von monatlich durchschnittlich Fr. 9'855.90 bzw. jährlich maximal Fr. 108'414.90 ab 21. Januar 2013 zu. Somit gewährte sie eine Erhöhung des monatlichen Assistenzbeitrags um Fr. 2'613.20, was 79,67 Stunden entspricht.  
 
B.   
Mit Entscheid vom 12. November 2015 hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich die dagegen erhobene Beschwerde gut und hob die Verfügung der IV-Stelle vom 4. Juni 2015 auf. Dabei erwog es, mit der rechtskräftigen gerichtlichen Anordnung vom 15. Juli (recte: 5. September) 2014 habe es sein Bewenden; die Sache könne nicht ein zweites Mal beurteilt werden. 
 
C.   
Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) beantragt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten die Aufhebung des kantonalen Entscheides vom 12. November 2015 unter Bestätigung der Verfügung der IV-Stelle vom 4. Juni 2015. Ferner ersucht es um aufschiebende Wirkung des Rechtsmittels. 
Die IV-Stelle schliesst auf Gutheissung der Beschwerde; die Versicherte ersucht um deren Abweisung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). 
 
2.  
 
2.1. Die Vorinstanz hat erwogen, mit der ursprünglich angefochtenen Verfügung vom 12. Juni 2013 habe die IV-Stelle über den Umfang des massgeblichen Hilfebedarfs für die Zeit ab Januar 2013 entschieden. Über dieses - den Streitgegenstand bildende - materielle Rechtsverhältnis habe sowohl sie selber (am 5. September 2014) wie auch das Bundesgericht (am 13. Mai 2015) rechtskräftig befunden. Weiter führte das Gericht aus:  
 
"Das Dispositiv des Urteils des hiesigen Gerichts regelt den Leistungsanspruch definitiv, indem es vorbehaltslos - zusätzlich zum unstrittig gebliebenen Hilfebedarf - einen Hilfebedarf von 120 (statt 30) Stunden zusprach. Der Beschwerdeführerin ist beizupflichten, dass dieser Entscheid nach Erlass des Bundesgerichtsurteils in Rechtskraft erwachsen ist und diese abgeurteilte Sache einer Neubeurteilung entgegen steht. Selbst wenn die Gerichtsurteile den Hilfebedarf nicht unter allen möglichen Blickwinkeln - namentlich derjenigen der Koordination mit den Leistungen des Krankenversicherers - geprüft haben sollten, bleibt der Beschwerdegegnerin der Erlass einer neuerlichen Verfügung betreffend Umfang des Hilfsbedarfs verwehrt und sie kann diesbezüglich den Rechtsweg nicht nochmals eröffnen." 
 
Daher, so das kantonale Gericht, habe es mit dem dort rechtskräftig festgelegten Hilfebedarf sein Bewenden. 
 
2.2. Das beschwerdeführende BSV rügt im Wesentlichen eine offensichtlich unrichtige Sachverhaltsfeststellung durch die Vorinstanz, weil diese von der falschen Annahme ausgegangen sei, auch die Frage des Abzuges vom Hilfebedarf sei bereits Gegenstand des vorangehenden Prozesses gewesen. Das Gegenteil treffe zu: Weder die IV-Stelle noch das kantonale Gericht habe über den Abzug befunden; auch das Bundesgericht habe sich dazu nicht geäussert. Der Leistungsanspruch sei daher nicht definitiv und vorbehaltslos geregelt worden. Die Versicherte habe Kinderspitex-Leistungen im Sinne von Art. 13 IVG bezogen, die bei einem Überwachungsbedarf der (höchsten) Stufe 4 gemäss FAKT2 im Rahmen des Assistenzbeitrags nicht nochmals berücksichtigt werden dürften. Das entspreche auch Rz. 4062 des Kreisschreibens des BSV über den Assistenzbeitrag (KSAB). Nähme man bei den für die persönliche Überwachung höchstmöglichen 120 Stunden keinen Abzug vor, führe dies zu einer Doppelvergütung und Ungleichbehandlung der Versicherten.  
 
3.  
 
3.1. Fraglich ist, ob mit der im Entscheid vom 5. September 2014 gerichtlich angeordneten Erhöhung des Überwachungsbedarfs um monatlich 90 Stunden gleichzeitig auch über einen allfälligen (zusätzlichen) Abzug vom Hilfebedarf mitentschieden wurde. Der Streit dreht sich mit anderen Worten um die Frage nach dem Rechtssinn von Dispositiv-Ziff. 1 des vorinstanzlichen Entscheids vom 5. September 2014.  
 
3.2. Die Auslegung des Dispositivs eines gerichtlichen Entscheids - wie auch jene von Gesetzesbestimmungen und von Willenserklärungen (BGE 141 V 657 E. 3.5.2 S. 662 mit Hinweisen) - ist eine durch das Bundesgericht frei überprüfbare Rechtsfrage (vgl. auch BGE 125 V 413 E. 2a in fine S. 415 f.).  
 
3.3. Anfechtungsgegenstand im gerichtlichen Beschwerdeverfahren bilden, formell betrachtet, Verfügungen im Sinne von Art. 5 VwVG (SR 172.021) und - materiell - die in den Verfügungen geregelten Rechtsverhältnisse. Streitgegenstand bildet demgegenüber das auf Grund der Beschwerdebegehren tatsächlich angefochtene, somit als Prozessthema vor den Richter gezogene Rechtsverhältnis. Nach dieser Umschreibung beziehen sich Anfechtungs- und Streitgegenstand auf ein (materielles) Rechtsverhältnis, sei es auf eines (z.B. Rentenanspruch), sei es auf mehrere Rechtsverhältnisse (z.B. Eingliederungs- und Rentenanspruch). Streitgegenstand ist mithin nicht der beschwerdeweise beanstandete "Teil des durch die Verfügung bestimmten Rechtsverhältnisses". Vielmehr erfolgt die begriffliche Unterscheidung von Streit- und Anfechtungsgegenstand auf der Ebene von Rechtsverhältnissen (BGE 125 V 413 E. 2a S. 415 mit Hinweisen). Für die begriffliche Umschreibung des Streitgegenstandes und seine Abgrenzung vom Anfechtungsgegenstand sind demzufolge die bestimmenden Elemente des oder der verfügungsweise festgelegten Rechtsverhältnisse (d.h. "Teilaspekte" wie etwa die einzelnen Faktoren für die [massliche und zeitliche] Festsetzung der Leistung) in der Regel nicht von Bedeutung (BGE 125 V 413 E. 2b und c S. 416).  
 
3.4.  
 
3.4.1. Das Bundesgericht hat im Leitenscheid BGE 140 V 543 die rechtlichen Grundlagen für den Assistenzbeitrag dargelegt (BGE 140 V 543 E. 1 S. 545 f.) und über verschiedene Aspekte, insbesondere im Zusammenhang mit dem Verfahrensablauf und FAKT2, entschieden. Danach lässt sich das Verfahren vereinfacht in folgenden Teilschritten zusammenfassen:  
A       Die Zeit für den  gesamten Hilfebedarf ist mittels FAKT2 zu ermitteln (benötigte Zeit gemäss Art. 42 sexies Abs. 1 IVG, wobei u.a.              Reduktionen wegen Aufenthalts in einer Institution, erwachsenen              Personen im selben Haushalt u.ä. zu berücksichtigen sind).  
B       Die Zeit für den  anerkannten Hilfebedarf gemäss Art. 39e IVV              (SR 831.201) ist zu ermitteln.  
C       Der niedrigere Betrag (A oder B) ist Ausgangsgrösse für die              weiteren Schritte. 
D       Die Zeit für bereits abgegoltene Leistungen (Art. 42 sexies Abs. 1              lit. a-c IVG: Hilflosenentschädigung, Beiträge für Dienstleistungen       Dritter anstelle eines Hilfsmittels oder Beiträge an Grundpflege              nach Art. 25a KVG) ist in Abzug zu bringen.  
E       Die verbleibende Zeit multipliziert mit dem Stundenansatz gemäss       Art. 39f IVV ergibt den Assistenzbeitrag als Geldbetrag; es ist ein       monatlicher und jährlicher Assistenzbeitrag festzulegen (Art. 39g              IVV). Damit steht der Anspruch im Grundsatz fest. 
F       Die Auszahlung erfolgt nach Rechnungsstellung durch die versicherte Person (Art. 42 septies Abs. 2 IVG; Art. 39i IVV).  
 
3.4.2. Die IV-Stelle entschied - nach umfassender Abklärung und Prüfung (Schritte A bis D in E. 3.4.1) - in ihrer Verfügung vom 12. Juni 2013 über den Anspruch auf den Assistenzbeitrag im Grundsatz und legte dabei den durchschnittlichen monatlichen sowie maximalen jährlichen Geldbetrag fest (Schritt E in E. 3.4.1). Diese Verfügung resp. das (einzige) darin geregelte Rechtsverhältnis bildete Anfechtungs- und Streitgegenstand (E. 3.3) im kantonalen Verfahren, das mit Entscheid vom 5. September 2014 beendet wurde. Ein allfällig höherer Abzug, wie ihn die IV-Stelle und das BSV nun vornehmen wollen (sei es bei Schritt A oder Schritt D gemäss E. 3.4.1), betrifft lediglich einen Teilaspekt des damals streitigen Rechtsverhältnisses. Diesen zu überprüfen hatte das kantonale Gericht mangels entsprechender Vorbringen oder anderer Anhaltspunkte keinen Anlass (vgl. BGE 125 V 413 E. 2c S. 417).  
 
3.4.3. Auch wenn die Vorinstanz gemäss Wortlaut der Dispositiv-Ziff. 1 ihres Entscheids vom 5. September 2014 einen zusätzlichen Anspruch auf Assistenzbeitrag "feststellte" ohne einen Geldbetrag explizit festzulegen, traf sie nicht lediglich einen Vorentscheid, sondern regelte sie das streitige Rechtsverhältnis abschliessend: Die über die Verfügung vom 12. Juni 2013 hinaus zugesprochene (durchschnittliche monatliche) Leistung ergibt sich ohne Weiteres aus der Multiplikation des Stundenansatzes gemäss Art. 39f IVV (in der vom 1. Januar 2013 bis 31. Dezember 2014 geltenden Fassung) mit den monatlich zusätzlich zu berücksichtigenden 90 Stunden (Fr. 32.80 x 90) und macht Fr. 2'952.- aus; die zusätzliche maximale jährliche Leistung (Art. 39g Abs. 2 lit. b IVV) beträgt Fr. 32'472.-. Im Verfahren 9C_755/2014 überprüfte das Bundesgericht den kantonalen Entscheid vom 5. September 2014 denn auch als Endentscheid (vgl. Art. 90 und Art. 93 Abs. 1 BGG); dass er lediglich als Vorentscheid aufzufassen gewesen sein soll, war (zu Recht) weder von der IV-Stelle noch vom BSV vorgebracht worden (vgl. Art. 42 Abs. 2 BGG).  
 
3.5. Nach dem Gesagten bleibt es beim - vom Bundesgericht mit Urteil 9C_755/2014 vom 13. Mai 2015 bestätigten - vorinstanzlichen Entscheid vom 5. September 2014 (E. 3.4.3) und, infolge Vorliegens einer res iudicata, bei der Aufhebung der Verfügung vom 4. Juni 2015. Damit erübrigen sich Weiterungen betreffend die Rechtmässigkeit des vom BSV und der IV-Stelle geforderten Abzugs oder der Regelung von Rz. 4062 KSAB. Die Beschwerde ist unbegründet.  
 
4.   
Mit dem Entscheid in der Sache wird das Gesuch um aufschiebende Wirkung der Beschwerde gegenstandslos. 
 
5.   
Dem BSV resp. dem Bund als unterliegende Partei werden keine Gerichtskosten auferlegt (Art. 66 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 4 BGG). Die Beschwerdegegnerin hat Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.   
Der Beschwerdeführer hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'400.- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien, der IV-Stelle des Kantons Zürich und dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 22. März 2016 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Glanzmann 
 
Die Gerichtsschreiberin: Dormann