Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
 
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
8C_620/2014  
   
   
 
 
 
Urteil vom 21. November 2014  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin, 
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Heine, 
Gerichtsschreiberin Polla. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft AG, Richtiplatz 1, 8304 Wallisellen,  
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, vertreten durch 
Rechtsanwalt Dr. Bruno Häfliger, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Unfallversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des 
Kantonsgerichts Luzern vom 31. Juli 2014. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Die 1955 geborene A.________ ist seit August 2010 bei der Stiftung B.________ als Internatsleiterin tätig und dadurch bei der Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft AG unfallversichert. Am 22. Juli 2013 verletzte sie sich beim Versuch, auf einer Wiese ein Rad zu schlagen. Mit dem Verdacht auf einen Muskelfaserriss der Adduktoren blieb sie vom 22. Juli bis 26. Juli 2013 hospitalisiert. Nach erfolgloser Therapie ergab eine hausärztlicherseits veranlasste MRI-Untersuchung einen kompletten Abriss der linksseitigen hinteren Oberschenkelmuskulatur (Bericht der Klinik C.________ vom 6. August 2013). Während ihrer erneuten Hospitalisation (vom 12. bis 28. August 2013) erfolgte am Spital D.________ operativ eine Refixation der ischiocruralen Muskulatur (Austrittsbericht vom 22. August 2013). Die Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft AG lehnte nach Durchführung der erforderlichen Abklärungen ihre Leistungspflicht ab, weil kein Unfall im Rechtssinne vorliege (Verfügung vom 24. September 2013), woran sie mit Einspracheentscheid vom 1. November 2013 festhielt. 
 
B.   
Eine gegen diesen Einspracheentscheid erhobene Beschwerde hiess das Kantonsgericht Luzern mit Entscheid vom 31. Juli 2014 gut und verpflichtete die Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft AG, der Versicherten für die Folgen der am 22. Juli 2013 erlittenen unfallähnlichen Körperschädigung die gesetzlichen Leistungen zu erbringen. 
 
C.   
Die Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft AG führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und der Einspracheentscheid zu bestätigen. 
Während das Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung verzichtet, beantragt A.________ Abweisung der Beschwerde. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann wegen Rechtsverletzungen gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder der Unfallversicherung ist das Bundesgericht - anders als in den übrigen Sozialversicherungsbereichen (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG) - nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG). Es wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), prüft indessen - unter Beachtung der Begründungspflicht in Beschwerdeverfahren (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG) - grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254). 
 
2.  
 
2.1. Die Parteien sind sich darin einig, dass die Beschwerdegegnerin am 22. Juli 2013 keinen eigentlichen Unfall nach Art. 4 ATSG (in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 und 3 sowie Art. 7 und 8 UVG) erlitt, da es an der Ungewöhnlichkeit des äusseren Faktors fehlt. Eine Leistungspflicht des Unfallversicherers fällt deshalb nur in Betracht, wenn das Ereignis als eine unfallähnliche Körperschädigung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 UVV (in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 UVG) zu qualifizieren ist. Dabei zu Recht nicht infrage gestellt wurde, dass der totale Abriss der linken hinteren Oberschenkelmuskulatur unter die in Art. 9 Abs. 2 lit. a bis h UVV aufgelisteten unfallähnlichen Körperschädigungen fällt.  
 
2.2. Bei unfallähnlichen Körperschädigungen nach Art. 9 Abs. 2 UVV müssen zur Begründung der Leistungspflicht des Unfallversicherers - wie die Vorinstanz zutreffend darlegte - mit Ausnahme der Ungewöhnlichkeit die übrigen Tatbestandsmerkmale des Unfalls erfüllt sein. Besondere Bedeutung kommt hierbei der Voraussetzung des äusseren Ereignisses zu, d.h. eines ausserhalb des Körpers liegenden, objektiv feststellbaren, sinnfälligen, eben unfallähnlichen Vorfalles (BGE 129 V 466 E. 2.2 S. 467). Die schädigende äussere Einwirkung kann in einer körpereigenen Bewegung bestehen (BGE 129 V 466 E. 4.1 S. 468 mit Hinweisen; vgl. auch BGE 139 V 327 E. 3.3.1 S. 329). Das Auftreten von Schmerzen allein gilt noch nicht als äusserer Faktor im Sinne der Rechtsprechung zu Art. 9 Abs. 2 UVV, ein solcher ist also nicht gegeben, wenn die versicherte Person einzig das (erstmalige) Auftreten von Schmerzen angibt, aber keine gleichzeitig mitwirkende äussere Komponente zu benennen vermag (BGE 129 V 466 E. 4.2.1 S. 469). Auch ist das Erfordernis eines äusseren schädigenden Faktors nicht erfüllt, wenn das Auftreten von Schmerzen bloss mit einem von der versicherten Person beschriebenen gewöhnlichen Bewegungsablauf einhergeht. Verlangt wird vielmehr ein Geschehen, welchem ein gesteigertes Gefährdungspotenzial innewohnt, was zutrifft, wenn die als Schmerzauslöser angegebene Betätigung im Rahmen einer allgemein gesteigerten Gefahrenlage vorgenommen wird, wie dies bei vielen sportlichen Aktivitäten der Fall ist. Ein äusserer Faktor mit erheblichem Schädigungspotenzial liegt nach der Rechtsprechung vor, wenn die zur Diskussion stehende Betätigung mit einer mehr als physiologisch normalen und psychologisch beherrschten Beanspruchung des Körpers, insbesondere seiner Gliedmassen, verbunden ist (BGE 139 V 327 E. 3.3.1 S. 329). Schmerzen als Symptome einer Schädigung nach Art. 9 Abs. 2 UVV fallen deshalb als massgebender äusserer Faktor nicht in Betracht, wenn sie bei einer alltäglichen Lebensverrichtung auftreten, ohne dass ein davon unterscheidbares äusseres Moment mitspielen würde. Wer also etwa beim blossen Aufstehen, Absitzen, Abliegen, bei Bewegungen im Raum, Handreichungen usw. einen einschiessenden Schmerz verspürt, kann allein deswegen noch keine unfallähnliche Körperschädigung geltend machen. Nur die physiologische Beanspruchung des Skeletts, der Gelenke, Muskeln, Sehnen und Bänder stellt keinen äusseren Faktor dar, dem ein gegenüber der gewohnten, üblichen körperlichen Belastung gesteigertes Gefährdungspotenzial innewohnen würde (BGE 129 V 466 E. 4.2.2. S. 470). Erfüllt ist das Erfordernis des äusseren schädigenden Faktors demgegenüber bei Änderungen der Körperlage, die nach unfallmedizinischer Erfahrung häufig zu körpereigenen Traumen führen können, so etwa beim plötzlichen Aufstehen aus der Hocke, bei heftigen belastenden Bewegungen oder bei einer wegen äusserer Einflüsse unkontrollierbar gewordenen Positionsänderung (BGE 129 V 466 E. 4.2.3 S. 470). Für die Bejahung eines äusseren Faktors ist demnach ein gesteigertes Schädigungspotenzial vonnöten, sei es zufolge einer allgemein gesteigerten Gefahrenlage, sei es durch Hinzutreten eines zur Unkontrollierbarkeit einer an sich alltäglichen Verrichtung führenden Elementes (BGE 139 V 327 E. 3.3.1 S. 329, 129 V 466 E. 4.3 S. 471 f.; vgl. Urteil 8C_40/2014 vom 8. Mai 2014 E. 2.2.3).  
 
3.  
 
3.1. Mit Blick auf den Sachverhalt ist ebenfalls unbestritten, dass sich die Versicherte beim Versuch, auf einer Wiese ein Rad zu schlagen, worin sie ungeübt war, verletzte. Etwas Besonderes, Unvorhergesehenes hat sich dabei nicht ereignet (Frageblatt zur Verletzung vom 11. August 2013).  
Die Vorinstanz gelangte zum Schluss, dass das Radschlagen ein Vorwärtsbewegen des ganzen Körpers erfordere, weshalb das Gewicht - anders als bei einem blossen Ausfallschritt - verlagert werde. Mit dem Standbein erfolge zudem eine Abstossbewegung, bei welcher das andere Bein in die Luft gebracht werde. Ob die Beschwerdegegnerin beim gehörten "Knall" bereits beide Beine in der Luft gehabt habe oder das linke Bein als Standbein noch am Abstossen war, sei dabei ebenso unerheblich wie die Frage, wie genau die Übung abgeschlossen wurde. Es könne ferner nicht von einer blossen Lebensverrichtung gesprochen werden. Die Beschwerdegegnerin habe eine Turnübung ausgeführt, wobei bei einer ungeübten Turnerin dem Radschlagen ein gesteigertes Gefährdungspotenzial innewohne, indem sie eine nicht alltägliche Bewegung möglichst kraftvoll, mit Belastung der Oberschenkelmuskulatur, auszuführen versuchte. 
 
3.2. Die Beschwerdeführerin wendet dagegen ein, es sei beim Abstossen vom Boden zu einem Schmerz in der linken dorsalen Oberschenkelmuskulatur gekommen. Es handle sich dabei um einen gewöhnlichen Ausfallschritt. Die Beschwerdegegnerin habe innerhalb einer alltäglichen Lebensverrichtung eine körpereigene Bewegung vollzogen. Es sei dabei weder etwas Ungewöhnliches noch etwas Besonderes vorgefallen, womit sich die Vorinstanz in Verletzung von Bundesrecht nicht auseinandergesetzt habe. Überdies verneine das kantonale Gericht das Vorliegen eines gesteigerten Gefährdungspotenzials und einer Sinnfälligkeit. In Widerspruch dazu sei es dennoch von einer unfallähnlichen Körperschädigung ausgegangen. Der Entscheid sei in willkürlicher Beweiswürdigung ergangen. Ferner habe es die Rechtsprechung zu Sportverletzungen unbeachtet gelassen, wonach bei sportlichen Tätigkeiten ein Unfall im Rechtssinne dann anzunehmen sei, wenn die sportliche Übung anders verlaufe als geplant. Dies sei beispielsweise der Fall bei einer Turnerin, die einen Hechtsprung nicht in korrekter Weise abschliessen könne und sich dabei im Bereich des Knöchels verletze (vgl. RKUV 1992 Nr. U 156 S. 258). Bei einer ungeübten Turnerin liege bei einem schlechten Übungsabschluss daher kein ungewöhnliches Ereignis vor. Es habe sich hier gerade das in dieser Sportart inhärente Risiko für Ungeübte verwirklicht.  
 
3.3.  
 
3.3.1. Zu wiederholen ist, dass hier nicht im Raum steht, ob die Versicherte einen Unfall im Rechtssinne erlitt. Zu beurteilen ist einzig, ob eine unfallähnliche Körperschädigung vorliegt, weshalb die Voraussetzung der Einwirkung eines ungewöhnlichen äusseren Faktors nicht erfüllt zu sein braucht (E. 2.2 hiervor). Damit ist die von der Beschwerdeführerin aufgeführte Rechtsprechung zu Sportverletzungen (BGE 130 V 118; RKUV 2004 Nr. U 502 S. 183, U 322/02, 1992 Nr. U 156 S. 258, U 43/92) insoweit nicht zielführend, als diese sich auf das Merkmal der Ungewöhnlichkeit bezieht.  
 
3.3.2. Laut BGE 129 V 466 E. 2.2 S. 467 und E. 4.2 S. 469 f. ist tatbestandsmässig ein ausserhalb des Körpers liegender, objektiv feststellbarer, sinnfälliger, eben unfallähnlicher Vorfall mit hinreichender Wahrscheinlichkeit gegeben, wenn dem äusseren Faktor ein gesteigertes Schädigungspotenzial zukommt (E. 2.2 hiervor). Ein äusseres Ereignis bejahte die Vorinstanz - entgegen den Darlegungen in der Beschwerde - im Sinne dieser allgemein gesteigerten Gefahrenlage, welche sie in der nicht alltäglichen Bewegung mit Verlagerung des ganzen Gewichts auf das vordere Bein und der Abstossbewegung sah. Damit hat die Vorinstanz der Begründungspflicht Genüge getan; ein willkürliches, gegen Art. 9 BV verstossendes Verhalten kann ihr nicht vorgeworfen werden. Ohne Bundesrecht zu verletzen, durfte das kantonale Gericht daher auch auf eine nähere Auseinandersetzung mit der Frage, ob sich beim Geschehen etwas Besonderes, Unvorhergesehenes ereignete, ebenso verzichten wie auf Weiterungen zum Hinzutreten eines zur Unkontrollierbarkeit der Vornahme der alltäglichen Lebensverrichtung führenden Faktors, indem es die gesteigerte Gefahrenlage bejahte.  
 
3.3.3. Diesbezüglich hat das Bundesgericht jüngst entschieden (Urteil 8C_147/2014 vom 16. Juli 2014 E.3.3), dass die sportliche Aktivität allein als Anlass des für die Verletzung angeblich ursächlichen Bewegungsablaufs nicht für die Bejahung des hinsichtlich des äusseren Faktors erforderlichen gesteigerten Gefahrenpotenzials genügt. Zu beurteilen ist demzufolge hier, ob die zur Diskussion stehende Betätigung mit einer mehr als physiologisch normalen und psychologisch beherrschten Beanspruchung des Körpers, insbesondere der Gliedmassen, verbunden ist. Das Rad (auch Handstützüberschlag) gilt als Bodenturnübung, die Kraft, Geschwindigkeit und Gleichgewicht erfordert (akrobatische Turnübung). Auch wenn das stärkere Bein dabei in eine Ausfallschrittposition gebracht wird bevor die beiden Hände nacheinander mit gestreckten Armen in einer Linie auf den Boden gestützt werden, ist ein gewisser Schwung mit gleichzeitiger Körperspannung unerlässlich. Es erfolgt eine Abstossbewegung vom Boden und kurz über dem Boden wird der Oberkörper gedreht und über den Handstand mit gespreizten Beinen die Bewegungsfolge abgeschlossen. Hieraus ergibt sich, dass zu Beginn der Turnübung gleichzeitig mit der Gewichtsverlagerung auf das vordere Bein der Oberkörper frontal abgesenkt wird und anschliessend verschiedene Rotationsbewegungen nacheinander ausgeführt werden, da der Körper um 360° um die jeweiligen Drehachsen der Stützkontakte Fuss-Boden und Hand-Boden rotiert (vgl. Wikipedia, Die freie Enzyklopädie, http://de.wikipedia.org/wiki/Radschlag). Insbesondere mit Blick auf die Komplexität des Bewegungsablaufs, der, wie beschrieben, Schwung, Körperspannung und eine kräftige Abstossbewegung benötigt, liegt dem Radschlag kein alltäglicher Bewegungsablauf zugrunde und dieser ist demnach mit einer mehr als physiologisch normalen und psychologisch beherrschten Beanspruchung des Körpers, insbesondere seiner Gliedmassen, verbunden. Es liegt ein erhöhtes Gefährdungspotenzial vor, weshalb die Vorinstanz zu Recht in Bejahung eines mitwirkenden äusseren Faktors von einer unfallähnlichen Körperschädigung ausging.  
 
4.   
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten von der Beschwerdeführerin zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Sie schuldet dem anwaltlich vertretenen Beschwerdegegner überdies eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 21. November 2014 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Leuzinger 
 
Die Gerichtsschreiberin: Polla