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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
9C_558/2013  
   
   
 
 
 
Urteil vom 12. November 2013  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Kernen, Präsident, 
Bundesrichterinnen Pfiffner, Glanzmann, 
Gerichtsschreiberin Dormann. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, Postfach, 9016 St. Gallen,  
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
G.________, 
handelnd durch B.________, und diese vertreten durch 
Rechtsanwältin Tanja Strauch-Frei, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Ergänzungsleistung zur AHV/IV, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 20. Juni 2013. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Mit Entscheid des Bezirksgerichts X.________ vom ..... November 1977 wurde die Ehe der 1943 geborenen G.________ geschieden. Der geschiedene Ehemann wurde u.a. verpflichtet, ihr Unterhaltsbeiträge von monatlich Fr. 300.- zu bezahlen, wobei eine Anpassung an den schweizerischen Index der Konsumentenpreise vorgesehen war (Dispositiv-Ziff. 5 und 6). Der gemeinsame, 1970 geborene Sohn wurde unter die alleinige elterliche Gewalt der Mutter gestellt und dem Vater wurde das Recht eingeräumt, ihn jeweils am ersten Wochenende des Monats zu sich zu Besuch zu nehmen (Dispositiv-Ziff. 2 und 3). Ab 1982 betreute der Vater den Sohn jedes Wochenende; fortan verzichtete G.________ auf weitere Indexanpassungen des ihr zustehenden Unterhaltsbeitrags, nachdem er zuvor auf monatlich Fr. 330.- angehoben worden war. Am 9. Februar 2005 wurde G.________ unter Vormundschaft gestellt.  
 
A.b. Die Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen sprach G.________ ab 1. Juli 2005 Ergänzungsleistungen zur Invalidenrente zu (Verfügungen vom 20. Oktober 2005, 23. März, 5. April, 11. Mai, 29. Dezember 2006, 3. März und 4. Juli 2007). Dabei berücksichtigte sie jeweils familienrechtliche Unterhaltsbeiträge des geschiedenen Ehemannes im Betrag von monatlich Fr. 570.- resp. jährlich Fr. 6'840.-.  
 
Nach einem gescheiterten Rechtsöffnungsverfahren gegen den geschiedenen Ehemann von G.________ (Entscheid des Bezirksgerichts U.________ vom 5. November 2007), mit dem Indexanpassungen der Unterhaltsbeiträge durchgesetzt werden sollten, ersuchte die Vormundin am 29. November 2007 um Anrechnung der Unterhaltsbeiträge in der tatsächlichen Höhe. Dies lehnte die Ausgleichskasse am 13. Dezember 2007 ab mit der Begründung, beim Differenzbetrag handle es sich um anrechenbares Verzichtseinkommen. In der Verfügung vom 21. Dezember 2007 berücksichtigte die Verwaltung weiterhin Unterhaltsbeiträge von Fr. 6'840.-. Im Februar 2008 machte die Vormundin eine Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse geltend und deklarierte dabei u.a. Unterhaltsbeiträge von monatlich Fr. 330.- resp. jährlich Fr. 3'960.-. Mit Verfügung vom 3. April 2008 berücksichtigte die Verwaltung wiederum Unterhaltsbeiträge von Fr. 6'840.-. 
 
Am 15. April 2008 ersuchte die Vormundin erneut um Anpassung der Ergänzungsleistungen und reichte dafür den Entscheid des Obergerichts des Kantons Zürich vom 21. Februar 2008 betreffend eine Nichtigkeitsbeschwerde gegen den Rechtsöffnungsentscheid vom 5. November 2007 ein. Mit Verfügung vom 29. Mai 2008 trat die Verwaltung auf das Gesuch vom 15. April 2008 nicht ein. Die dagegen erhobene Einsprache wies die Verwaltung ab mit der Begründung, für das anrechenbare Einkommen sei ein Einkommensverzicht zu berücksichtigen; somit komme die Indexanpassung der Unterhaltsbeiträge, wie sie im Scheidungsurteil vom ..... November 1977 festgesetzt worden war, zum Tragen (Einspracheentscheid vom 4. August 2008). 
 
B.   
Mit Entscheid vom 20. Juni 2013 hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen die dagegen erhobenen Beschwerde gut, hob den Einspracheentscheid vom 4. August 2008 auf und wies die Angelegenheit zur Neuberechnung des Anspruchs auf jährliche Ergänzungsleistung rückwirkend per 1. Juli 2005 im Sinne der Erwägungen an die Sozialversicherungsanstalt zurück. 
 
C.   
Die Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen beantragt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten, der Entscheid vom 20. Juni 2013 sei aufzuheben und der Einspracheentscheid vom 4. August 2008 zu bestätigen. Ferner sei der Beschwerde aufschiebende Wirkung zu erteilen. 
 
G.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen, soweit darauf einzutreten ist. Zudem ersucht sie um unentgeltliche Rechtspflege. Das kantonale Gericht beantragt ebenfalls, das Rechtsmittel sei abzuweisen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Beim angefochtenen Rückweisungsentscheid handelt es sich um einen selbstständig eröffneten Vor- resp. Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93 Abs. 1 BGG, gegen welchen die Beschwerde nur zulässig ist, wenn er einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (lit. a) oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführt und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (lit. b).  
 
Wird die Verwaltung durch einen kantonalen Rückweisungsentscheid gezwungen, eine ihres Erachtens rechtswidrige Verfügung zu erlassen, hat dieser Entscheid für sie einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil zur Folge (BGE 133 V 477 E. 5.2 S. 483 ff.). 
 
1.2. Die Ausgleichskasse macht namentlich geltend, dass Art. 11 Abs. 1 lit. g in Verbindung mit lit. h ELG (SR 831.30; vgl. E. 3.1) verletzt werde, wenn für die Ergänzungsleistungen die Unterhaltsbeiträge in der tatsächlichen Höhe und ohne Anpassung an den Landesindex der Konsumentenpreise berücksichtigt würden. Dazu wird sie indessen mit dem vorinstanzlichen Entscheid - rückwirkend ab 1. Juli 2005 - verhalten (E. 2); auf die Beschwerde ist daher einzutreten.  
 
2.   
Das kantonale Gericht hat festgestellt, die Beschwerdeführerin habe mit dem Verzicht auf eine weitere Indexierung ihrer Alimente die Mehrkosten des geschiedenen Ehemannes für die zusätzliche Betreuung des Sohnes abgegolten. Diese Entschädigung sei bis zur Volljährigkeit des Sohnes eher zu tief ausgefallen, weshalb sie keinen Verzicht im ergänzungsleistungsrechtlichen Sinn beinhalte. Für die Zeit danach erweise sich die Gegenleistung hingegen als deutlich zu hoch: Obwohl keine Betreuungskosten mehr angefallen seien, "entschädige" die Beschwerdegegnerin ihren geschiedenen Mann nach wie vor mit mittlerweile monatlich Fr. 240.- (Fr. 570.- minus Fr. 330.-). Es fehle indessen an einer entsprechenden Verzichtshandlung. Es könne nicht unterstellt werden, die Beschwerdegegnerin habe 1982 bewusst und auf Lebzeiten auf sämtliche weitere Indexanpassungen verzichtet. Weshalb sie nach der Volljährigkeit des Sohnes nicht auf einer Erhöhung der Unterhaltsbeiträge bestanden habe, könne nicht mehr eruiert werden. Dass sie heute lediglich Unterhaltsbeiträge von monatlich Fr. 330.- erhalte, sei aber nicht Folge einer einmaligen Verzichtshandlung, sondern Konsequenz davon, dass sie über eine lange Zeitspanne auf die Durchsetzung des vollen Unterhaltsanspruchs verzichtet habe. Daher seien lediglich die tatsächlichen Unterhaltsbeiträge und kein Verzichtseinkommen anzurechnen. 
 
Folglich hat die Vorinstanz den Entscheid der Ausgleichskasse vom 13. Dezember 2007, gegen welchen sich das Gesuch vom 15. April 2008 gerichtet habe, wiedererwägungsweise aufgehoben. Er sei seinerseits als Wiedererwägungsentscheid betreffend die Verfügung vom 20. Oktober 2005 zu qualifizieren, weshalb auch diese wiedererwägungsweise zu korrigieren sei. 
 
3.   
 
3.1.  
 
3.1.1. Die jährliche Ergänzungsleistung (Art. 3 Abs. 1 lit. a ELG) entspricht dem Betrag, um den die anerkannten Ausgaben die anrechenbaren Einnahmen übersteigen (Art. 9 Abs. 1 ELG). Als Einnahmen angerechnet werden namentlich Einkünfte und Vermögenswerte, auf die verzichtet worden ist (Art. 11 Abs. 1 lit. g ELG) und familienrechtliche Unterhaltsbeiträge (Art. 11 Abs. 1 lit. h ELG).  
 
3.1.2. Zweck der Ergänzungsleistungen ist eine angemessene Deckung des Existenzbedarfs. Bedürftigen Rentnern der Alters- und Hinterlassenen- sowie der Invalidenversicherung soll ein regelmässiges Mindesteinkommen gesichert werden. Die Einkommensgrenzen haben dabei die doppelte Funktion einer Bedarfslimite und eines garantierten Mindesteinkommens. Deshalb sind bei der Anspruchsberechnung nur tatsächlich vereinnahmte Einkünfte und vorhandene Vermögenswerte zu berücksichtigen, über die der Leistungsansprecher ungeschmälert verfügen kann. Dieser Grundsatz gilt nicht, wenn die versicherte Person ohne rechtliche Verpflichtung und ohne adäquate Gegenleistung auf Einkünfte oder Vermögen verzichtet hat, wenn sie einen Rechtsanspruch auf bestimmte Einkünfte und Vermögenswerte hat, davon aber faktisch nicht Gebrauch macht oder ihre Rechte nicht durchsetzt, oder wenn sie aus von ihr zu verantwortenden Gründen von der Ausübung einer möglichen und zumutbaren Erwerbstätigkeit absieht (BGE 134 I 65 E. 3.2 S. 70; SVR 2011 EL Nr. 4 S. 11, 9C_329/2010 E. 3.1 mit Hinweis).  
 
3.2.  
 
3.2.1. Die Vorinstanz hat die Anrechnung eines Verzichtseinkommens im Sinne von Art. 11 Abs. 1 lit. g ELG nur deshalb verworfen, weil die Beschwerdegegnerin nicht in einem einmaligen Rechtsakt auf ihr Recht auf Indexanpassung verzichtet, sondern lediglich de facto einen neuen Rechtszustand geschaffen habe, indem sie sich auch nach der Volljährigkeit des Sohnes weiterhin mit den bisherigen Unterhaltsbeiträgen begnügte. Dieser Auffassung ist nicht beizupflichten: Weder der Wortlaut noch der Sinn der genannten Bestimmung (vgl. Urteil 9C_249/2013 vom 21. Oktober 2013 E. 3.2.2, zur Publikation vorgesehen) erfordert eine explizite einmalige Verzichtshandlung; vielmehr zeichnet sich ein Einkommensverzicht oft gerade dadurch aus, dass ein Rechtsanspruch stillschweigend nicht durchgesetzt wird (E. 3.1.2). Das ist in concreto der Fall. Die Vorinstanz hat diesbezüglich zutreffend erwogen, dass die Chancen, nach Volljährigkeit des Sohnes die Regelung betreffend die Indexanpassung wieder aufleben zu lassen, wohl nicht schlecht gestanden hätten. Der (faktische) Verzicht darauf kann nicht mit Ergänzungsleistungen kompensiert werden.  
 
3.2.2. Was die Beschwerdegegnerin gegen die Anrechnung der indexierten Unterhaltsbeiträge vorbringt, hält nicht Stand. Dass sich - nach jahrelanger Unterlassung entsprechender Massnahmen - die Indexierung der Unterhaltsbeiträge mittlerweile kaum oder gar nicht mehr durchsetzen lässt, ist Folge des Verzichts und schliesst nicht die Annahme eines solchen aus. Weiter ist, auch wenn die Beschwerdeführerin bereits im Zeitpunkt der Scheidung unter ernsthaften gesundheitlichen Beeinträchtigungen gelitten haben sollte, eine Urteils- und Handlungsunfähigkeit im Sinne von Art. 16 und 17 ZGB erst im Zusammenhang mit der 2005 errichteten Vormundschaft aktenkundig; die Untätigkeit betreffend Indexanpassung ist ihr daher anzurechnen. Zudem ist der Verzicht auf Indexanpassungen nicht erst im Nachhinein inadäquat zur Gegenleistung des geschiedenen Ehemannes geworden: Wäre - entgegen der vorinstanzlichen Annahme - von einem einmaligen, 1982 auf Lebenszeit erfolgten Verzicht auszugehen, ist die zeitlich absehbare Wochenendbetreuung des Sohnes dazu nicht adäquat; ist hingegen ein fortlaufender, faktischer Verzicht nach Volljährigkeit des Sohnes anzunehmen, fehlt es überhaupt an einer Gegenleistung. Schliesslich liegt in der Anrechnung des Verzichtseinkommens keine Unverhältnismässigkeit, ist sie doch gesetzlich vorgesehen und entspricht ihre Dauer jener des Anspruchs, auf den verzichtet wurde.  
 
3.2.3. Dass die Unterhaltsbeiträge in der (indexangepassten) Höhe von monatlich Fr. 570.- aufgrund der finanziellen Verhältnisse des geschiedenen Ehemannes grundsätzlich uneinbringlich (gewesen) sein sollen (vgl. SVR 2011 EL Nr. 4 S. 11, 9C_329/2010 E. 3.2), ist nicht ersichtlich und wird auch nicht geltend gemacht. Weitere Umstände, welche gegen die Anrechnung eines Verzichtseinkommens sprechen, sind nicht erkennbar.  
 
3.3. Bei diesem Ergebnis braucht die Frage, ob das Vorgehen des kantonalen Gerichts in prozessualer Hinsicht, d.h. in Bezug auf die Festlegung des vorinstanzlichen Anfechtungs- und Streitgegenstands sowie die wiederwägungsweise Aufhebung von Entscheiden der Verwaltung (vgl. Art. 53 Abs. 2 ATSG; BGE 133 V 50 E. 4.2.1 in fine S. 54 f.), zulässig ist, nicht beantwortet zu werden.  
 
4.   
Mit dem Urteil in der Sache wird das Gesuch um Gewährung der aufschiebenden Wirkung gegenstandslos. 
 
5.   
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin grundsätzlich die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Ihrem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege kann jedoch entsprochen werden (Art. 64 BGG; BGE 125 V 201 E. 4a S. 202). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn sie später dazu in der Lage ist. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 20. Juni 2013 wird aufgehoben und der Einspracheentscheid der Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen vom 4. August 2008 bestätigt. 
 
2.   
Der Beschwerdegegnerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und Rechtsanwältin Tanja Strauch-Frei wird als unentgeltliche Anwältin bestellt. 
 
3.   
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt, indes vorläufig auf die Gerichtskasse genommen. 
 
4.   
Der Rechtsvertreterin der Beschwerdegegnerin wird aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'500.- ausgerichtet. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 12. November 2013 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Kernen 
 
Die Gerichtsschreiberin: Dormann